# taz.de -- Debatte um Wehrpflicht: Sondervermögen Demokratie | |
> Eine Wehrpflicht ist angesichts von Hightech-Armeen keine gute Idee. Den | |
> Zivildienst kann man über ein obligatorisches Sozialjahr auch direkt | |
> haben. | |
Bild: Gehört zur Grundausbildung: Sport | |
Es war lange vor der Zeitenwende, und der Krieg war noch weit weg. Da begab | |
es sich in der Redaktion des Wochenblattes, dass sein Herausgeber Helmut | |
Schmidt sich wieder einmal über den Unernst und die Ahnungslosigkeit seiner | |
Redakteure echauffierte: Die hätten alle nicht gedient und trügen keine | |
Krawatten. Am selbigen Nachmittag schnitten die Layouter der Zeitung bunte | |
Papierschlipse aus und verteilten sie an die wehrfähigen Redakteure, die | |
auf den Fluren das militärische Salutieren übten. | |
Vielleicht sollten die Layouter der Zeit in dieser Woche aus Papier ein | |
paar Leutnantssternchen für Martin Machowecz schneiden, den Co-Leiter des | |
Ressorts „Streit“. Denn der hat [1][in der Zeit gebeichtet], er bedaure | |
heute, den Kriegsdienst verweigert zu haben, wie er überhaupt bedaure, in | |
einem Land zu leben, „das kaum noch eine Kultur besitzt, in der das Militär | |
eine Rolle spielt“. Deshalb müsse die Wehrpflicht zurückkommen, allerdings | |
„nicht so, wie sie war“, sondern „freier, sogar fröhlicher“, die Kaser… | |
kein „piefiger Ort (…), kein Männerklub“, sondern so, dass die | |
Wehrpflichtigen „sich wohl fühlen“ könnten. | |
Man könnte dieses Bekenntnis leicht als Satire abtun. Unbehaglich würde mir | |
allerdings, wenn es demnächst noch mehr Schlagzeilen gäbe wie auf dem | |
letzten Sonntagstitelblatt der Frankfurter Allgemeinen: „Antreten zur | |
Landesverteidigung“. Ein wirres Plädoyer [2][für den Wehrdienst]: Zunächst | |
zitiert es den Generalinspekteur der Bundeswehr und die Vorsitzende des | |
Verteidigungsausschusses mit der hinlänglich bekannten Erkenntnis, dass | |
Kriege mit Drohnen, Satelliten und Hightech-Artillerie zu komplex sind für | |
Soldaten mit sechs Monaten Ausbildung. Warum dann also doch Wehrpflicht? | |
„Eine zunehmend plurale Gesellschaftsstruktur braucht ein | |
Gemeinschaftserlebnis“, wird Bundeswehr-Professor Michael Wolffsohn | |
zitiert. „Lyriker und Philosophen“ könnten die „ethische (sic!) | |
Zusammensetzung“ der Streitkräfte verbessern und so die Gräueltaten der | |
robusteren Naturen verhindern. Und Carsten Linnemann von der CDU meint, die | |
sechsmonatige Gemeinschaft von Akademikerkindern mit solchen aus | |
Brennpunktvierteln könne den Zusammenhalt der Gesellschaft festigen. | |
Nun liegt meine militärische Ausbildung ungefähr genauso lange zurück wie | |
die von Professor Wolffsohn. Nur mit allem Vorbehalt also möchte ich die | |
Vermutung äußern, dass in den Kriegen der nächsten Zeit die Infanterie und | |
die Häuserkämpfer mehr als je zuvor bloßes Kanonenfutter für die | |
elektronischen Vernichtungssysteme sind – also eigentlich überflüssig, so | |
wie alle Automatisierungsbetroffenen. | |
Aber es geht mir nicht um den Krieg der Zukunft, sondern um die Frage, ob | |
man das gemeinschaftsfördernde Nebenprodukt des Kriegsdienstes nicht direkt | |
haben könnte. Die Diskussion [3][über ein obligatorisches Sozialjahr] | |
taucht immer wieder auf und verschwindet ebenso regelmäßig wieder in den | |
Schubladen – obwohl Umfragen zeigen: es wäre populär. | |
Wir haben doch [4][das Freiwillige Soziale Jahr], ist immer der erste | |
Einwand. Stimmt, aber wer sich dazu entschließt, der ist zumeist schon | |
engagiert, und gerade diejenigen, die davon am meisten profitieren könnten, | |
werden von diesem Angebot nicht erreicht. Zweiter Einwand: Die Politik | |
suche nach einer billigen Lösung, um Notstände in der Pflege und in den | |
Kitas zu beheben. Dort aber würden Profis gebraucht, deshalb können | |
Sozialverbände und Gewerkschaften sich nicht dafür erwärmen. | |
Richtig ist: Ein Sozialjahr sollte nicht der Stabilisierung der | |
Sozialsysteme dienen, sondern ein Praxisjahr sein, in dem junge Menschen, | |
die nur die Schule kennen, in die Gesellschaft, in der sie leben werden, | |
eingeführt werden: Schulabgänger ohne Abschluss könnten | |
Basisqualifikationen, Selbstwertgefühl und Orientierung entwickeln. | |
Abiturienten, die noch unentschieden nach einem Beruf tasten, könnten ihre | |
Interessen entwickeln und über den Horizont ihrer Milieus blicken. | |
## Vorbereitung auf Engpässe | |
Gut, es gäbe auch weniger attraktive, aber notwendige Tätigkeiten wie | |
Rollstuhlschieben oder Windelnwechseln, aber jenseits dieser | |
klischeebehafteten Dienste böten sich viele andere Möglichkeiten: | |
Grundschülern bei den Hausaufgaben helfen, alternde Mitbürger digital | |
alphabetisieren, kommunale Gärten anlegen, in Kitas kochen, die | |
Öffnungszeiten von Bibliotheken ausweiten, Einkaufsfahrten für | |
unmotorisierte Landbewohner machen, Wälder aufforsten oder gar Solardächer | |
montieren, Sozialarbeitern assistieren, die Feuerwehr verstärken oder | |
Verwaltungsgänge beschleunigen. | |
Sinn ergibt das alles freilich nur, wenn es von Profis begleitet und so | |
angeleitet würde, dass am Ende brauchbare Qualifikationen stehen. Ein | |
solcher Bürgerdienst wäre eine Vorbereitung auf die wirtschaftlichen, | |
sozialen und ökologischen Engpässe vor uns und zugleich ein Gegenmittel | |
gegen das grassierende Desinteresse am Gemeinwesen. | |
Und genau deshalb spricht alles dafür, ein solches allgemeines und | |
obligatorisches Jahr nicht als Ersatz für den Kriegsdienst zu organisieren, | |
sondern als integralen Teil ziviler Bildung. Als ein letztes, praktisches | |
Schuljahr gleichsam, nach der zehnten oder zwölften Klasse, nur eben nicht | |
in der Schule. Das könnte auch alles Jammern über verlorene Jahre | |
entkräften, auch verfassungsrechtlich. | |
Bliebe nur die Kostenfrage. Mein Taschenrechner-Überschlag ergibt: Wenn 800 | |
000 junge Menschen (ein Jahrgang) 1.000 Euro pro Monat für Arbeit und | |
Unterkunft brauchen und auf jeweils 10 von ihnen ein gut bezahlter | |
professioneller Mentor käme, dann kostete das rund 15 Milliarden pro Jahr. | |
Das entspräche einer Steuer von 0,2 Prozent auf die Barvermögen. Wäre ein | |
solches „Sondervermögen Demokratie und Zukunft“ unbillig für die | |
Finanzierung einer wirklichen Zeitenwende? | |
Könnte, wäre, führte, würde, sollte – eigentlich wollte ich in diesem Jahr | |
doch keine Konjunktivtexte mehr schreiben… | |
18 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zeit.de/2022/20/wehrpflicht-bundeswehr-zivildienst-maenner-frau… | |
[2] /Debatte-um-Wehrpflicht/!5852522 | |
[3] /Debatte-um-Dienstpflicht/!5641858 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Freiwilliges_soziales_Jahr | |
## AUTOREN | |
Mathias Greffrath | |
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