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# taz.de -- Soziale Pflichtzeit: Tatütata, die Dienstpflicht ist bald da
> Der Bundespräsident will eine „soziale Pflichtzeit“ für
> gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber wer würde davon profitieren? Fünf
> Anekdoten aus der taz.
Bild: Dienstpflicht: Für alle, die nach dem Führerscheinerwerb gleich Rettung…
Auf die Wehrpflichtdebatte folgte kürzlich der Vorschlag [1][eines
Gesellschaftsjahres für alle]. Nun hat Bundespräsident Frank-Walter
Steinmeier eine weitere Idee: eine „soziale Pflichtzeit“, also einen
verpflichtenden Dienst in einer sozialen Einrichtung oder auch der
Bundeswehr. Anderen helfen, aus der eigenen Blase herauskommen, mal etwas
Neues kennenlernen: Das stellt sich Steinmeier als etwas „Wertvolles“ vor.
Hat er recht? Fünf Geschichten, die vom Engagement erzählen.
## Betreuung durch den überforderten Zivi
Es war nicht ganz einfach mit dem kleinen K. Wobei klein nicht ganz richtig
ist: Der Erstklässler steckte im Körper eines 14-Jährigen. Während seiner
liebenswerten Phasen war das kein Problem, wenn er mal still saß und selig
lächelnd vor sich hin redete („Eine Chicken McNugget … eine Kinder Pinguin
… eine Pommes …“).
Leider konnte seine Stimmung aber auch ohne Vorwarnung umschlagen. Wenn die
Erwachsenen nicht schnell genug dazwischengingen, bekamen dann seine
Nebensitzer auf den Deckel – im wörtlichen Sinne. Die Lösung in solchen
Situationen: raus aus dem Raum und Einzelbetreuung durch den verkaterten
Zivi, der sich mit schwerem [2][Autismus] zwar nicht auskannte, aber im
Trial-and-Error-Verfahren zumindest einige Strategien ausprobieren konnte.
Was sich bewährte: Kind in die Nestschaukel und zwei Stunden anschubsen.
Was nicht so gut funktionierte: Spaziergang zum Einkaufszentrum mit Einkehr
im Döner-Imbiss. Sorry noch mal für die Verwüstung. K. meinte es nicht so.
Tobias Schulze
## Als ich die EU lieben lernte
Nach dem Abi in Dresden jobbte ich erst anderthalb Jahre und wollte dann
raus aus Deutschland. Ich fand das vollfinanzierte Programm Europäischer
Freiwilligendienst und bewarb mich bei RFSL Ungdom in Stockholm, eine
queere Jugendorganisation. Ich ging 2006 mitten im dunklen Winter und
wohnte erst mal in der Platte und lernte, dass die Migrant*innen in
Stockholmer Randbezirken leben und die U-Bahn dahin rassistisch
„Orientexpress“ genannt wurde. Realitätscheck Bullerbü.
Ich habe mit vielen trans Personen gearbeitet. Ich habe angefangen,
Geschlecht neu zu denken. Ich bin überhaupt erst Feministin geworden. Ich
war auf der traurigen Wahlparty der feministischen Partei. Ich habe in
[3][Schweden] mehr von Politik verstanden als in der Schule. Ich habe
Queers in Polen und dem Baltikum getroffen. Mir ist EU-Recht klar geworden.
Ich hab Kondome verteilt. Ich stand beim CSD auf einem Wagen. Ich höre
Nelly Furtados „Maneater“ nie wieder mit denselben Ohren.
Ich glaube, es gibt kein anderes Jahr, das mich in seiner Gänze so geprägt
hat wie dieser Freiwilligendienst. Zwei Freundschaften halten bis heute.
Danke, EU! Katrin Gottschalk
## Die Arbeit als Herausforderung begreifen
Ärsche wischen für den Frieden. Das war mein Motto während des
Zivildienstes Ende der 1980er-Jahre. Eigentlich hatte ich „Essen auf
Rädern“ machen wollen. Dummerweise war diese als soft geltende Arbeit so
nachgefragt, dass ich Jahre auf einen freien Platz hätte warten müssen.
Stattdessen bot mir der soziale Träger einen Job als „Edelzivi“ an:
Individuelle Schwerstbehindertenbetreuung. Heute würde man sagen: Ich habe
es als Challenge begriffen.
Ich wollte wissen, was es heißt, einem Menschen nahezu rund um die Uhr im
Wortsinn unter die Arme zu greifen. Morgens wecken, abends zusammen feiern
und ihm zwischendurch mal ein Zäpfchen reinzuschieben, damit der Darm tätig
wird. Und später dann den Scheiß wegräumen und ein frisches Kondomurinal
anlegen. Mal im Studentenwohnheim, mal in Spanien am Strand. Es war eine
prägende Erfahrung fürs Leben. Nach dem Zivildienst habe ich mein
Studienfach gewechselt. Nein, nichts Soziales, nichts mit Pflege oder
Medizin. Denn ich wusste nun, ein Leben lang will ich das nicht machen.
Gereon Asmuth
## Die Älteren nicht vergessen
Einige Medien berichten, dass [4][Frank-Walter Steinmeier] einen
„Pflichtdienst für junge Menschen“ will. Nur: So hat er das nicht gesagt.
Seine Aussage betrifft alle, unabhängig von ihrem Alter. Und genau dieses
Detail ist löblich an seinem Vorschlag.
Schon oft hat man gehört: Die jungen Leute sollen doch mal was Sinnvolles
machen, sich positiv in die Gesellschaft einbringen. Die Älteren aber
werden meist nicht mitgedacht. Ein beliebter Vorschlag auf Twitter: ein
Klimapflichtjahr für [5][„Boomer“]. Vielleicht würde es tatsächlich manc…
älteren Herrn helfen, sich von seinem 6-Zylinder-Diesel zu verabschieden,
wenn er einmal massenhaft Borkenkäfer-Opfer aus fränkischen Wäldern bergen
durfte.
Das Ziel von Steinmeiers Vorschlag ist es, die Leute „aus der eigenen
Blase“ zu holen. Das würde gerade denen guttun, die es sich darin über
lange Zeit zu gemütlich gemacht haben. Lisa Schneider
## Romantisch und ohne Zweck
Zivildienst auf einer ostfriesischen Insel, Strandkorbzeit, eine lauwarme
Nacht am Meer. Wir sitzen zusammen ums Feuer, wir trinken, die Pfleger, die
Zivis und die Schwesternschülerinnen des Krankenhauses, in dem ich arbeite.
Noch kennen wir uns nur vage, haben keine Namen zu den Gesichtern. Die
Insel ist klein, die Welt groß und das Leben ein Spiel. Endlich Zeit für
die ersten ernsthaften Versuche der Selbstfindung. Irgendwann erhebe ich
mich und richte Worte an die Runde: „Hedwig, du bist das Dümmste, was mir
je zwischen Bayern und Flensburg begegnet ist!“ Warum sage ich das? Ich
kenne keine Hedwig, wahrscheinlich ein Zitat.
Wochen später befiel mich eine Inselkrankheit, ein Magen-Darm-Infekt. Ich
schleppte mich in die Notaufnahme und flehte um Verschonung. Die einzige
Nachtschwester, die Dienst hatte, beugte sich über mich, schaute mir in die
Augen und fragte: „Wie hast du mich genannt?“ Natürlich hieß sie Hedwig,
sie saß damals wohl auch in einem der Strandkörbe, und jetzt lernten wir
uns auf die denkbar gerechteste Weise kennen.
Was ich hier versuche, mit einer halbgaren Kneipenanekdote zu erzählen,
ist: Mein Zivildienst war eine romantische Zeit, denn ich verfolgte mit ihm
keinen Zweck. Fünfzehn verordnete Monate, in denen ich mich frei fühlte.
Diese Zeit hatte nichts mit mir zu tun, wie der Satz, der damals aus mir
heraus sprach, nichts mit mir zu tun hatte. Oder mit Hedwig, aber das hatte
sie echt nicht wissen können. Mathias Königschulte
13 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Tobias Schulze
Katrin Gottschalk
Lisa Schneider
Mathias Königschulte
Gereon Asmuth
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Zivildienst
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