| # taz.de -- Ausstellung im Schwulen Museum Berlin: Das wenige, das bleibt | |
| > Als schwuler Mann mit Behinderung wurde Hans Heinrich Festersen im | |
| > „Dritten Reich“ ermordet. Eine Ausstellung widmet sich nun seiner | |
| > Geschichte. | |
| Bild: Festersens Ausweis ist neben ein paar Fotos und Briefen alles, was von se… | |
| Ein queerer Mann mit körperlicher Behinderung. Das war Hans Heinrich | |
| Festersen. Sein großes Pech: Er lebte zur Zeit des „Dritten Reichs“. Und in | |
| dieser Zeit durfte eine solche „Nicht-Normalität“ nicht sein. Am 8. | |
| September 1943 ermordeten ihn die Nazis während der „Plötzenseer | |
| Blutnächte“ – einer Massenexekution in der Berlin-Plötzenseer Strafanstal… | |
| Von Festersen sind ein paar Dokumente seines Lebens überliefert. Somit | |
| liegt eine der wenigen rekonstruierbaren Geschichten intersektionaler Art | |
| dieser Zeit vor. Derzeit werden sie im Schwulen Museum in Berlin-Mitte | |
| gezeigt und erinnern daran, wie weit Menschen gehen können – und dass die | |
| Stigmatisierung „nonkonformen“ Lebens noch immer nicht überwunden ist. | |
| Ein paar in Schreibschrift vollgeschriebene Blätter sind es; Briefe an | |
| seine Schwester aus der Haft, einige Fotos, ein Ausweis. Eher zufällig | |
| gelangten sie über einen Archivmitarbeiter des Museums vor einigen Jahren | |
| dorthin, als er aus privatem Interesse zu einer Ausstellung über | |
| Kunsttöpferei ging. Dort sprach ihn Peter Festersen an, der – wie sich | |
| herausstellte – Neffe von Hans Heinrich Festersen. Dessen Vater, Peters | |
| Großvater, war Anfang des 20. Jahrhunderts ein bekannter Kunsthandwerker | |
| mit eigener Töpferei im Norden Schönebergs gewesen, seine Werke wurden | |
| gerade gezeigt. Jahrzehntelang hatte Peter die Briefe, die seine Mutter | |
| Ruth Festersen – Hans Heinrichs Schwester – von ihrem Bruder aus der Haft | |
| erhalten hatte, aufbewahrt. Nun fand er, das Schwule Museum sei ein | |
| geeigneter Ort, dieses Erbe zu betreuen. | |
| Lange lagen die Briefe im Archiv, bis das Museum beschloss die Ausstellung | |
| [1][„Queering the Crip, Cripping the Queer“] über die Schnittstelle von | |
| Homosexualität und Behinderung zu kuratieren – die erste internationale | |
| ihrer Art. Intersektionalität ist mittlerweile im Diskurs angekommen. Und | |
| Festersens Geschichte passt da perfekt rein. | |
| Hans Heinrich Festersen wurde am 1. Oktober 1907 in Berlin geboren. Seine | |
| Mutter war Jüdin, der Vater besagter Kunsttöpfer. Eine zerebrale | |
| Kinderlähmung als Folge einer Frühgeburt führte dazu, dass er an den Beinen | |
| teilweise gelähmt war und Gehhilfen brauchte. Festersen lernte | |
| Klavierstimmer. Er hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester: Ruth, den | |
| Briefen zufolge wohl eine seiner wenigen engen Vertrauten: | |
| „Selbstverständlich bin ich Gott dankbar, dass er mir in Dir eine so | |
| liebevolle Schwester gab, die mir in allen meinen Lebenslagen treu zur | |
| Seite steht“, schrieb er ihr im April 1943. | |
| Ab 1931 lebte Festersen in den [2][Lobetaler Anstalten bei Bernau.] Hier | |
| bekamen Obdachlose und Langzeitarbeitslose Unterkunft, Verpflegung und | |
| Arbeit. Ab den 1930er Jahren war es vor allem eine Zuflucht für Menschen, | |
| die aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ausgesondert wurden: | |
| Schwule, Menschen mit Behinderung, von der Norm Abweichende. Ein | |
| Zufluchtsort mitten in Nazi-Deutschland. Viele Bewohner machten kein | |
| Geheimnis aus ihrer Homosexualität, Liebschaften untereinander waren | |
| bekannt, auch, dass ein Bewohner gern Frauenkleider trug. Innerhalb der | |
| Anstalt war das nicht gerne gesehen. | |
| Zwar distanzierte man sich in Lobetal von der NS-Politik, berief sich auf | |
| christliche Werte. Doch „krankhafte Freundschaften“ unter Männern wurden | |
| immer wieder vom dortigen Diakon gerügt. Ein ehemaliger Lobetaler Insasse | |
| denunzierte schließlich Festersen und drei weitere Insassen aufgrund von | |
| „Sittlichkeitsdelikten“. | |
| ## Verfolgung von Menschen mit Behinderung | |
| Am 12. Oktober 1942 brachte die Polizei sie in die Strafanstalt Plötzensee. | |
| Am 13. Juli 1943 verurteilte sie das Berliner Sondergericht zum Tode, ließ | |
| sie in der Nacht vom 7. auf den 8. September hängen. Festersen wurde 35 | |
| Jahre alt. Anklage: Verstoß gegen das „Gewohnheitsverbrechergesetz“. Der | |
| Verstoß gegen Paragraf 175 (der erst 1994 vollständig aufgehoben wurde) | |
| alleine hätte nicht gereicht. Darin hieß es damals: „Ein Mann, der mit | |
| einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht | |
| missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Verurteilte mussten oft | |
| ihre Strafe in den 1950er Jahren weiter absitzen. | |
| Seit dem 2. September liegen die Dokumente nun im ersten Ausstellungsraum | |
| des Museums, in einer kleinen Vitrine. Mit zwei Fotos, die Festersen als | |
| blonden lockigen Jungen zeigen zusammen mit Schwester und Mutter. Daneben | |
| sein Ausweis aus der Nazizeit, mit ihm als jungem Mann. Ein kleines | |
| Zeitdokument mitten in dem Raum, der sich der dunklen Seite der Geschichte | |
| von Queerness und Behinderung widmet, der Raum zu „Vernichtung“, der dem | |
| schwarzen Winkel gewidmet ist. Den mussten während des NS-Regimes [3][die | |
| sogenannten „Asozialen“] tragen. Zu ihnen gehörten soziale Randgruppen wie | |
| Menschen mit Behinderung oder solche, die Leistungs- und Anpassungsdefizite | |
| aufwiesen. Mit seiner Halblähmung in den Beinen gehört Festersen zusätzlich | |
| zu seiner Homosexualität zu einer weiteren verfolgten Gruppe: Menschen mit | |
| Behinderung. Hier weiß man von über 200.000 Ermordeten, über 400.000 | |
| Zwangssterilisationen. Am bekanntesten ist wohl die Aktion T4, der | |
| systematische Massenmord 1940 bis 1941 an über 70.000 Menschen mit | |
| Behinderung. | |
| Für die Nazis war Festersen ein „Gewohnheitsverbrecher“. Die | |
| handgeschriebenen Briefe an seine Schwester zeigen eine liebevolle Person | |
| mit einer großen Bindung zu „Peterchen“, seinem Neffen, der diese Brief | |
| später aufbewahren sollte. Es geht immer wieder um Haftbedingungen; Essen | |
| (an Ostern auch mal Marmelade), seine Gesundheit (die Beine schmerzen | |
| wieder), Briefmarken und Geld. Um Warten und Hoffen: „Hoffentlich werden | |
| wir uns nun bald sehen“, schreibt er nach vier Monaten Haft. Am Ende der | |
| Briefe auch mal ein Gedicht an Peter. | |
| Doch zwischen all dem Alltäglichen dringt auch immer wieder eine Reflexion | |
| zur eigenen Situation durch. „Man kann mir doch wohl eine gewisse | |
| Lebensberechtigung nicht absprechen.“ Schreibt er ein halbes Jahr vor | |
| seiner Ermordung. Das NS-Regime und die große Mehrheit der Gesellschaft | |
| sahen das anders. Es waren wenige Menschen, die erfolglos Widerstand | |
| leisteten. Am meisten wohl Pastor Braune, Leiter der Anstalten in Lobetal. | |
| Er wandte sich mit einem Gnadengesuch an die Justiz. Diese lehnte ab, Jahre | |
| später zog der Pastor den Schluss: „Alle Beeinflussung, Vorwürfe und | |
| Maßnahmen unsererseits blieben aber wirkungslos, weil die Betreffenden ohne | |
| jede Einsicht waren und glaubten, es sei ihr gutes Recht so zu leben.“ | |
| ## Ein Leben in einer Vitrine | |
| Dabei zeigen Festersens Briefe, dass eine gewisse eigene Überzeugung, | |
| minderwertig zu sein, in ihm selbst steckte. So schreibt er über seinen | |
| Gedanken, zu heiraten: „Da ich selbst keine großen Ansprüche mehr stellen | |
| kann, hatte ich an eine leicht körperlich behinderte Klassenkameradin | |
| gedacht.“ Einige verhaftete Personen versuchten, mit letzten Mitteln dem | |
| Todesurteil zu entkommen: der „freiwilligen“ Kastration. „Er sagte, dass | |
| die Entmannung vorläufig nicht in Frage käme, und wenn, dann nur wegen | |
| meines sexuellen Triebes“, schreibt Festersen über ein Gespräch mit dem | |
| zuständigen Anstaltsarzt. Schließlich war seine Behinderung nicht | |
| vererbbar. | |
| Alles, was am Ende von Hans Heinrich Festersen übrig bleibt, sind sein | |
| Ausweis, Fotos und die handgeschriebenen Briefe. Ein paar Kleidungsstücke, | |
| 33,25 Reichsmark und eine Taschenuhr. Das war der Nachlass, den seine | |
| Schwester bis zum 30.11.43 abholen konnte. „Eine Sterbeurkunde erhalten Sie | |
| auf Antrag bei dem Standesamt in Berlin-Charlottenburg“, heißt es weiter | |
| auf dem Nachlassformular. Das war’s. Ein wenig Erinnerung, ein kurz | |
| zusammengefasstes Leben, das heute in einer kleinen Vitrine steht. Das ist | |
| mehr, als man über die rund 70.000 weiteren ermordeten | |
| „Wiederholungskriminellen und Asozialen“ weiß. Oder über die etwa 15.000 | |
| ins KZ deportierten Schwulen, von denen mehr als die Hälfte dort starben. | |
| Es ist mehr, als von den vielen anderen queeren Menschen mit Behinderung | |
| übriggeblieben ist, die das NS-Regime sterilisieren und töten ließ. | |
| 22 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ruth Lang Fuentes | |
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