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# taz.de -- Inklusion in Brandenburg: Das verletzliche Ich
> Mit einer Ausstellung feiern die Wohnstätten Reichenwalde ihr
> 100-Jähriges. Sie zeigt, wie sich der Umgang mit behinderten Menschen
> gewandelt hat.
Bild: Ausstellungsecke zu Hugo Weile
Im leicht welligen Land zwischen Storkower See und Scharmützelsee versteckt
sich in Reichenwalde südöstlich von Berlin der ehemalige Gutshof, den hier
wegen des hübschen Türmchens alle Schloss nennen.
Für seine Bewohner war das Schloss in den 60er und 70er Jahren aber kein
luxuriöser Ort, sondern Gedrängtsein auf engstem Raum. „Kabinen aus Holz,
kleines Schränkchen, nicht abschließbar, Eisenbett ohne Matratze mit
Strohsack.“ So schildert „Herr F.“ sein Leben in Reichenwalde.
14 Jahre war F. alt, als er in das Fürsorge- und Pflegeheim der
Hoffnungstaler Anstalten kam. Die Anstaltsleiter mussten mit Hausvater
angesprochen werden, die Arbeit war hart, schildert F.: „Wir waren nur
abends drin und wir waren fertig auf die Röhren von der Arbeit, da war Ruhe
um 21 Uhr.“
Seine Erinnerungen an die Zeit vor der Wende teilte F. in einem Gespräch
aus dem Jahr 2023 mit. Es ist eines von vielen Interviews, die das Team um
Josefine Werner führte. Nun sind sie – als Text oder bewegtes Bild – [1][in
einer sehr bemerkenswerten Ausstellung] zu sehen, mit der die zur
[2][Hoffnungstaler Stiftung Lobetal] gehörende „Wohnstätte Reichenwalde“ …
Landkreis Oder-Spree ihr 100-jähriges Bestehen begeht.
## „Arbeit statt Almosen“
Als Arbeiterkolonie begann 1925 die Geschichte der Wohnstätte, noch immer
verpflichtet der Philosophie von Friedrich von Bodelschwingh, der 1905 bei
Bernau den Verein Hoffnungstal für Obdachlose in Berlin gegründet hatte.
„Arbeit statt Almosen“ lautete seine Devise – und natürlich waren die
Bewohner auch billige Arbeitskräfte für den landwirtschaftlichen Betrieb,
der bis heute existiert und Joghurt aus der [3][Lobetaler Biomolkerei] in
die Berliner Supermarktregale liefert.
Zum Fürsorgehof wurde die Arbeiterkolonie dann nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ein Zeitungsbericht meldete 1948: „In Reichenwalde wohnen 50 Jugendliche,
die von Krieg und Nachkrieg aus der geraden Bahn geworfen wurden und die
hier nun lernen, geordnetes Tagwerk zu führen.“
Konkret macht die Ausstellung diesen Teil der Geschichte mit einer Sammlung
von Dokumenten. Penibel werden die Duschzeiten dokumentiert. Der
Lebensalltag der Männer, heißt es auf einer Tafel, „war durch harte Arbeit
geprägt“.
Dennoch erinnern sich viele der Männer, die in den 60er und 70er Jahren
nach Reichenwalde gekommen waren, gern an diese Zeit. Denn viele von ihnen
kamen aus Einrichtungen, in denen es weitaus härter zuging, aus
Kinderheimen, Jugendwerkhöfen oder der Kinderpsychiatrie. Lobetal war
dagegen trotz aller Versuche der Verstaatlichung eine kirchliche
Einrichtung geblieben.
Es sind die Interviews von Projektleiterin Josefine Werner, die einen sehr
lebensnahen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart schlagen – und
gegen ein allzu einfaches Schwarz-Weiß-Denken anerzählen.
So richtig bunt wurde es in Reichenwalde aber erst nach der Wende.
Abgeschafft wurde das Hauselternprinzip, untergebracht wurden die Bewohner,
zu denen nun auch Frauen und Mädchen gehörten, nicht mehr in
Sammelunterkünften, sondern in Einzelzimmern.
Aus der Anstalt wurde eine Stiftung, die sich vor allem Teilhabe und
Inklusion verpflichtet fühlt. Denn fast alle der 100 heutigen Bewohnerinnen
und Bewohner haben eine geistige und/oder psychische Beeinträchtigung.
Für die Ausstellung hat eine Gruppe auch das Leben von Hugo Weile
recherchiert. Im September 1940 war er nach Reichenwalde gekommen, im
Meldebuch findet sich der Eintrag: „ledig-deutsch-mosaisch“. 1942 wurde
Weile schließlich nach Warschau ins Ghetto deportiert, wo er ermordet
wurde. [4][Seit dem 10. April erinnert ein Stolperstein] vor dem „Schloss“
in Reichenwalde an Hugo Weile.
„Diese Ausstellung ist ein Denkmal – für Menschen, die oft am Rand standen,
aber unsere volle Aufmerksamkeit verdienen“, sagt der Leiter der
Einrichtung, Johannes Mai. Denn: „Sie machen diesen Ort lebendig. Ihre
Stimmen sollen gehört werden.“
Recht hat er.
Wohnstätten Reichenwalde, Dahmsdorferstraße 6, 15526 Reichenwalde.
Besichtigung nach telefonischer Anmeldung unter: 033631-85717
3 Jul 2025
## LINKS
[1] https://www.lobetal.de/aktuelles/meldungen/1245-ausstellungseroeffnung-in-r…
[2] https://www.lobetal.de/
[3] https://www.lobetal.de/index.php/unsere-einrichtungen-9/55-lobetaler-bio-mo…
[4] https://www.lobetal.de/aktuelles/meldungen/1232-ein-stolperstein-fuer-hugo-…
## AUTOREN
Uwe Rada
## TAGS
Inklusion
Brandenburg
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Ableismus
Lesestück Recherche und Reportage
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