| # taz.de -- Vergessene Opfer der Nazis: „Asozial“ ist immer noch ein Stigma | |
| > Der Bundestag soll die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ bezeichn… | |
| > KZ-Häftlinge endlich als NS-Opfer anerkennen, fordert ein Appell. | |
| Bild: Die SS kennzeichnete und kategorisierte die KZ-Häftlinge durch Dreiecke,… | |
| „Niemand ist asozial! Vergesst die Asozialen nicht!“, lautet das Motto des | |
| [1][Zentralrats der Asozialen in Deutschland]. Der Zentralrat ist ein | |
| Projekt des Künstlers Tucké Royale, der „solange den Zentralrat spielt, bis | |
| es ihn gibt“, wie Erhard Grundl am Montagabend im Reichstag sagte. Grundl | |
| ist der neue kulturpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, die | |
| zu einem Fachgespräch über die von der SS als „Asoziale“ und | |
| „Berufsverbrecher“ bezeichneten ehemaligen KZ-Häftlinge eingeladen hatte. | |
| Anlass ist ein von WissenschaftlerInnen und Vertretern von KZ-Gedenkstätten | |
| an den Bundestag gerichteter [2][Appell], diese Opfer des | |
| Nationalsozialismus auch als solche anzuerkennen. Knapp 10.000 Menschen | |
| unterstützen den Appell bereits. Zu den Erstunterzeichnern zählen neben | |
| Sozialdemokraten, Grünen und Linken auch einige CDU-Politiker, darunter | |
| Elmar Brok und Peter Tauber. | |
| Das Motto des Zentralrats der Asozialen macht das Dilemma deutlich, das | |
| sich der Politik der Anerkennung stellt: Die Bezeichnungen „Asoziale“ und | |
| „Berufsverbrecher“ sind Begriffe der nationalsozialistischen Täter, die | |
| einerseits in einer Tradition stehen, die hinter das Nazi-Regime | |
| zurückreicht, die andererseits aber noch heute stigmatisierend wirken. | |
| ## Sie schwiegen aus Scham | |
| Diese Stigmatisierung hat dazu beigetragen, dass viele Opfer nach 1945 aus | |
| Scham schwiegen. „Wir haben nichts zu verlieren, außer unserer Scham“, | |
| heißt es dazu auf der Website des Zentralrats der Asozialen. | |
| Die so Verfolgten fanden sich daher nicht zu Lobbygruppen zusammen, wie | |
| Frank Nonnenmacher, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt und einer | |
| der Initiatoren des Appells, erklärte. Die Wissenschaft wiederum habe es | |
| Jahrzehntelang unterlassen, diese Opfer aufzusuchen und sich ihre | |
| Geschichten erzählen zu lassen. Einige, wie die Berlinerin [3][Ilse | |
| Heinrich,] wurden als Jugendliche ins Konzentrationslager gebracht, aber | |
| die meisten waren älter, sodass viele Opfer heute nicht mehr leben. | |
| ## Die Geschichte von Onkel Ernst | |
| Frank Nonnenmacher hat vor vier Jahren eine Doppelbiografie über seinen | |
| Vater Gustav, Jahrgang 1914, und seinen Onkel Ernst, Jahrgang 1908, | |
| veröffentlicht. Letzterer wurde als „Asozialer und Wehrunwürdiger“ nach | |
| Verbüßung einer Gefängnisstrafe von der Gestapo in die Konzentrationslager | |
| Flossenbürg und Sachsenhausen verbracht. Er war zur „Vernichtung durch | |
| Arbeit“ in einem Steinbruch vorgesehen. Ihn rettete nur der Umstand, dass | |
| er Körbe flechten konnte. | |
| Ernst Nonnenmacher war einer von mehreren zehntausend Menschen, die | |
| zwischen 1933 und 1945 durch Kriminalpolizei und Gestapo in die | |
| Konzentrationslager eingewiesen wurden. Als „Asoziale“ und | |
| „Ballastexistenzen“ wurden unter anderem Obdachlose, Wanderarbeiter, | |
| Bettler, „Arbeitsscheue“ oder „Landstreicher“ bezeichnet. Sie wurden in… | |
| Lagern durch den schwarzen Winkel gekennzeichnet. | |
| Den grünen Winkel mussten Häftlinge tragen, die von der Kriminalpolizei zu | |
| „Berufsverbrecherinnen“ und „Berufsverbrechern“ erklärt wurden, weil s… | |
| durch verbüßte Haftstrafen wegen Diebstahls, Einbruchs, Abtreibung, | |
| tatsächlicher oder angeblicher Zuhälterei, Prostitution oder wegen | |
| Gewaltdelikten „bewiesen“ hätten, wegen ihrer charakterlichen Eigenart | |
| nicht resozialisierbar zu sein. | |
| ## Kriminalbiologisch motivierte Verfolgung | |
| Im Jargon der Historiker gesprochen: Die Verfolgungsgründe waren äußerst | |
| heterogen. Was diejenigen, die kriminalbiologisch motivierter Verfolgung | |
| ausgesetzt waren und als „gemeinschaftsfremd oder -schädlich“ galten, eint, | |
| ist der Umstand, dass von ihnen erhobene Ansprüche auf Entschädigung nach | |
| 1945 von den Gerichten meist negiert wurden. | |
| Das Podium, auf dem neben Royale, Nonnenmacher und Grundl die Historikerin | |
| Dagmar Lieske, Jörg Skriebeleit von der Arbeitsgemeinschaft der | |
| KZ-Gedenkstätten in Deutschland und die grüne Bundestagsabgeordnete Kirsten | |
| Kappert-Gonther Platz genommen hatten, war sich einig: Erstens saß niemand | |
| zu Recht im KZ. Zweitens verbieten sich aufgrund der singulären Verbrechen | |
| der Nationalsozialisten Analogien wie das Sprechen über eine „Ausgrenzung, | |
| die auch heute noch stattfindet“. | |
| ## Immer noch ein Schimpfwort | |
| Gestritten wurde darüber, wie erinnerungspolitisch mit der Tatsache | |
| verfahren werden soll, dass „asozial“ immer noch ein Schimpfwort ist, dass | |
| Obdachlose und Menschen, die in Armut leben, auch heute Opfer von | |
| Diffamierungen, Diskriminierungen und körperlichen Angriffen werden. Aus | |
| dem Publikum wurde in diesem Zusammenhang die Haltung der Jobcenter | |
| kritisiert. | |
| Am Ende formulierte Kirsten Kappert-Gonther das Ziel, jetzt mit anderen | |
| Fraktionen den Schulterschluss zu suchen, um bald eine interfraktionelle | |
| Einigung über die Anerkennung dieser Opfergruppe herbeizuführen. | |
| 14 Mar 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://zentralrat-der-asozialen.de/ | |
| [2] https://www.change.org/p/deutscher-bundestag-anerkennung-von-asozozialen-un… | |
| [3] /Archiv-Suche/!5366176&s=diana+pieper&SuchRahmen=Print/ | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| Geschichte | |
| Landgericht | |
| NS-Opfer | |
| NS-Verfolgte | |
| NS-Gedenken | |
| Geschichtswissenschaft | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Rechtspopulismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hochstaplerin Anni Sanneck: „Vernichtung durch Arbeit“ | |
| Das Leben einer der schillerndsten Kriminellen der 20er Jahre endete | |
| tragisch – sie wurde Opfer des NS-Massenmordes an Strafgefangenen. | |
| Anerkennung von vergessenen NS-Opfern: Zwangsumsiedlung ins Familien-KZ | |
| „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ werden bislang nicht offiziell als Op… | |
| des Nationalsozialismus anerkannt. Das soll sich ändern. | |
| Forscher über vergessene NS-Opfer: „Die Nazi-Narrative wirken fort“ | |
| Grüne und FDP wollen „Asoziale“ als vergessene Opfer der NS-Zeit | |
| anerkennen. Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher über eine Tradition | |
| des Hasses. | |
| Gedenkstättenleiter über NS-Erinnerung: „Uns fehlen Zeit und Personal“ | |
| Der Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Günter Morsch, wünscht sich: | |
| Berlin soll sich stärker mit dem Gedenkort identifizieren. | |
| Polizeigeschichte und NS-Aufarbeitung: „Das ist in der Tat paradox“ | |
| Der Historiker Sven Deppisch befasst sich als einer der ersten mit der | |
| Geschichte der Polizei unter den Nazis – und sieht Kontinuitäten bis zum | |
| G20-Gipfel. | |
| Berlinale-Film „Waldheims Walzer“: Amnesia Austria | |
| Ruth Beckermanns Doku „Waldheims Walzer“ zeigt, wie die gesellschaftliche | |
| Mitte in Österreich die Abgrenzung zum Nationalsozialismus aufgab. | |
| Roman „Ikarien“ über NS-Eugeniker: Tod und Zynismus | |
| Der deutsche Arzt Alfred Ploetz lieferte das Fundament für den | |
| NS-Rassenhass. Der Roman „Ikarien“ entlarvt die Logik des historischen | |
| Irrsinns. | |
| Romanfiguren in Krisenzeiten: Dos kleine Menschele | |
| Um 1930 machten Hans Fallada und Ilja Ehrenburg „kleine Leute“ zu | |
| Protagonisten großer Romane. Oft bleibt ihnen nur subversiver Witz. |