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# taz.de -- Zukunft der Klimabewegung: Dynamit ändert das System nicht
> Klimaschutz geht zu langsam. Aber deshalb fossile Infrastruktur
> anzugreifen, wäre moralisch, politisch und strategisch falsch – und
> kontraproduktiv.
Bild: Die Castorproteste haben mehr erreicht als die RAF: Aktion nahe Lüneburg…
Die Klima-Guerilla hat es geschafft – zumindest bis an die Universität.
„Wie man eine Pipeline in die Luft jagt – [1][Radikalisierungsdiskurse] in
der Klimabewegung“ lautet ein Seminar, das im kommenden Wintersemester bei
den Politikwissenschaftlern an der Westfälischen Wilhelms-Universität
Münster stattfindet. In der Ankündigung heißt es: „Die weltweite
Klimabewegung hat in den letzten Jahren enormen Zulauf erhalten. Da
substantielle Reaktionen der zentralen Adressat*innen weitgehend
ausbleiben, werden Fragen der Radikalisierung in der Bewegung verstärkt
diskutiert. Für einen wissenschaftlichen Blick auf das Phänomen
Radikalisierung nehmen wir das Buch ‚Wie man eine Pipeline in die Luft
jagt‘ als Ausgangspunkt. Daran anknüpfend beschäftigen wir uns mit der
Legitimation radikaler Handlungsformen, der Diskussion über die
Effektivität und den bewegungsinternen Debatten über Radikalisierung.“
Man darf gespannt sein auf das Seminar. Und auf die Debatte, die das Thema
„Gewalt gegen fossile Infrastruktur“ jenseits der akademischen Zirkel
auslösen wird. Die Situation jedenfalls ist treffend beschrieben: Weil die
Klimakrise ungebremst eskaliert und sich keine echte Lösung zeigt, denkt
zumindest ein Teil der Klimaschutzbewegung darüber nach, die Gangart zu
verschärfen.
[2][Wenn sich die „Letzte Generation“ im Berufsverkehr auf die
Stadtautobahn klebt] oder andere AktivistInnen vor „friedlicher Sabotage“
oder brennenden Autos in den Innenstädten warnen, ist eine neue
Eskalationsstufe im Kampf gegen die Erderwärmung erreicht. Weil
Latsch-Demos, Baumbesetzungen, Schulstreiks, die Blockade von Tagebauen,
private Debatten am Frühstückstisch und sogar Klima-AktivistInnen in
Parteien und Parlamenten keinen schnelleren Kohleausstieg, keinen
Ausbau-Boom der Erneuerbaren und keinen Pfad zur Erreichung des
1,5-Grad-Ziels bringen, denken Einzelne offenbar über „direkte Aktionen“
nach. Schon malen AktivistInnen und JournalistInnen genüsslich das Gespenst
einer „grünen RAF“ an die Wand.
Eine solche Militarisierung der Klimaproteste wäre allerdings ein schwerer
moralischer, politischer und strategischer Fehler. Direkte Gewalt gegen
Kohle-, Öl- und Gasinfrastruktur im Sinne von „Macht kaputt, was Euch
kaputt macht!“ brächte vielleicht kurzfristig Scheinsiege. Ein symbolischer
Fortschritt auf dem Weg zur Dekarbonisierung wäre ein bejubeltes Ventil für
den verständlichen Frust vieler AktivistInnen. Aber er würde zynisch die
Gefährdung von Menschen und Natur in Kauf nehmen, um angeblich Menschen und
Natur zu retten.
## Wichtigste Hebel in Gefahr
Eine solche Strategie würde mit ziemlicher Sicherheit nach hinten losgehen
und der Klimabewegung ihre wichtigsten strategischen Hebel nehmen: die
Bereitschaft der Bevölkerung zur Veränderung. Und vor allem: die moralische
Ausrichtung der Umweltbewegung im Streben nach einer besseren und
gerechteren Welt.
Denn wenn sich aus der Protestgeschichte der Bundesrepublik etwas lernen
lässt, dann dieses: Die Revolution findet nicht statt, zumindest nicht mit
Gewalt. Der Versuch der RAF, einem anderen Staat und dem Aufstand des
Proletariats den Weg freizuschießen, endete in Blutvergießen, großem
persönlichen Leid von Schuldigen und Unschuldigen, der Abkopplung von
isolierten revolutionären Terrorzellen und der völligen Diskreditierung
ihres Anliegens, der Reform der Gesellschaft. Der Staat rüstete auf, die
Szene wurde von Spitzeln durchsetzt, weite Teile der Bevölkerung fühlten
sich bedroht statt befreit und stimmten der massiven Einschränkung ihrer
Grundrechte zu. Am Ende war die Bundesrepublik repressiver als zuvor.
Wirklichen Wandel in Politik, Gesellschaft, Medien und Justiz bewirkten
dagegen die Biographien von Menschen, die sich trotz Berufsverboten auf den
„langen Marsch durch die Institutionen“ machten.
Das gleiche wäre bei einer Öko-RAF zu erwarten: Nach ein paar gelungenen
Anschlägen auf Gas-Pipelines (man stelle sich so ein flammendes Inferno mit
vielen Verletzten oder Toten vor, wenn etwas schief geht) würde der Staat
massiv zurückschlagen: Spitzel würden die Szene verunsichern, neue Gesetze
die Jagd auf AktivistInnen legalisieren, das Umfeld von Umweltverbänden,
Thinktanks und Medien würde kriminalisiert. Es ginge nicht mehr um die
Frage, ob das Gas klimaschädlich ist, sondern darum, wie man die Täter
dingfest macht. In dieser Debatte wären die KlimaschützerInenn die
Schuldigen – und in einer zynischen Umkehrung der Realität wären die
Energiekonzerne mit ihren Klimakillern plötzlich Opfer statt Täter. Die
Umweltbewegung würde sich über Jahre selbst fesseln durch eine Debatte, wie
weit man sich abzugrenzen habe – statt gemeinsam gegen das fossile System
zu kämpfen.
## Woher rührte der Erfolg der Castor-Proteste?
Die Geschichte des deutschen Öko-Widerstands lehrt aber auch, wie es gehen
kann: [3][Die Proteste gegen die Castor-Atomtransporte ins Wendland waren
wütend], über Jahrzehnte nachhaltig und schließlich erfolgreich. Denn sie
wurden von einer politischen Bewegung getragen, die in Behörden und
Parlamente vordrang, Alternativen entwickelte und für breite Zustimmung
warb. Vor allem aber war allen Castor-GegnerInnen immer klar: So direkt und
phantasievoll die Trecker-Blockaden rund um Gorleben auch waren – der
Atommüll würde sein Ziel erreichen. Es ging darum, Widerstand sichtbar zu
machen, die Transporte zu delegitimieren und die politischen und
finanziellen Kosten der Atomenergie in die Höhe zu treiben.
Diese Einsicht muss sich auch bei den Fossil-Protesten breitmachen: Selbst
wenn hier und dort eine Pipeline in die Luft fliegen sollte, ändert das
nichts an der Versorgung mit fossilen Rohstoffen. Es würde nicht den
politischen, sondern den Preis an der Zapfsäule erhöhen, es brächte die
Menschen gegen die „Terroristen“ auf und würde den Konzernen Extragewinne
in die Kassen spülen. Nur ein groß angelegter militärischer Konflikt könnte
tatsächlich die deutsche Infrastruktur so beschädigen, dass sie in kurzer
Zeit aufhören würde, CO2 in die Luft zu blasen. Zu welchen Opfern, Leiden
und Verbrechen das führt, lässt sich derzeit beim russischen Überfall auf
die Ukraine beobachten. Es kann nicht Aufgabe der Klimabewegung sein, der
himmelschreienden Ungerechtigkeit der Erdüberhitzung durch Verbrechen der
verbrannten Erde zu begegnen.
Statt einer Militarisierung sollte die Klimabewegen sich radikalisieren.
Denn es stimmt ja, dass sich sehr schnell sehr grundlegende Dinge ändern
müssen, wenn das gefährliche Karussel der Klimakrise gebremst werden soll.
## Vorschläge im Guten
Was also tun, wenn man nicht Pipelines in die Luft jagen will? Ihnen
vielleicht die Luft rauslassen: mit Klagen gegen Betriebsgenehmigungen, dem
Einfordern eines Paris-kompatiblen CO2-Budgets für die öffentliche
Infrastruktur.
Die Klimabewegung könnte deutlicher strategische Hebel definieren, an denen
sie mit Streiks, Demos, Klagen, Blockaden und persönlichem Lobbying ziehen
will. [4][Etwa den nächsten Bundesverkehrswegeplan radikal umschreiben],
der Straßenbau für Jahre zementieren soll. Den Ausbau der Erneuerbaren
vorantreiben und auch in den Umweltverbänden die Konflikte mit den
Naturschutz lösen. Eine große Kampagne zum Energiesparen wie „Geiz ist
geil“ lostreten. Förderer und Bremser des Klimaschutzes in Regierung und
Industrie noch klarer machen und individuelle Rechenschaft fordern. EU-weit
und international koordinieren, auf welche Forderung man sich konzentriert,
etwa einen globalen Vertrag zur Ächtung der fossilen Brennstoffe.
Es ist nicht meine Aufgabe, der Umweltbewegung vorzuschreiben, was sie zu
tun hat. Eher noch, was sie besser lassen sollte: den Irrweg in geheime
militante Aktionsformen zu nehmen, die für Mensch und Natur zu großer
Gefahr führen können und die Stellung des fossilen Systems stabilisieren,
das doch gerade kräftig ins Wanken gerät. Mit Dynamit ändern wir nicht das
System. Wir spielen auch so schon genug mit dem Feuer.
21 Sep 2022
## LINKS
[1] /Philosoph-zu-Autobahnblockiererinnen/!5830296
[2] /1400-Anzeigen-wegen-Strassenblockaden/!5881510
[3] /Letzter-Castortransport-vor-zehn-Jahren/!5813664
[4] /Vekehrsplanung-for-future/!5853812
## AUTOREN
Bernhard Pötter
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