| # taz.de -- Moralphilosophin über Klimaschutz: „Wir haben die Pflicht zum Ha… | |
| > Einzelne können durch Verzicht auf Treibhausgasemissionen wenig zur | |
| > Lösung der Klimakrise beitragen, sagt die Moralphilosophin Anna Luisa | |
| > Lippold. | |
| Bild: Gute Möglichkeit, zu handeln: Protestaktionen wie hier bei einer Straße… | |
| taz: Frau Lippold, die Menschen wissen, dass es die Klimakrise gibt, und | |
| auch, wie sie entsteht. Warum verhalten wir uns häufig trotzdem nicht | |
| ökologisch? | |
| Anna Luisa Lippold: Es gibt keinen direkt spürbaren Zusammenhang zwischen | |
| meinen individuellen Handlungen und den Auswirkungen des Klimawandels. Aus | |
| Sicht der Ethik ist das ein Riesenproblem. Es braucht Kausalität, um | |
| moralisch verpflichtet zu sein, das eigene Verhalten zu ändern, etwa durch | |
| Weniger-Fleisch-Essen oder weniger Fliegen. | |
| Sie beschreiben in Ihrem Buch „Klimawandel und individuelle moralische | |
| Pflichten“ aber auch, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, sein | |
| Verhalten zu ändern. | |
| Ich plädiere darin für ein Narrativ, in dem es um kollektive Lösungen geht. | |
| Was ist denn das aktuelle Narrativ? | |
| Klimaschutz ist aktuell eine private Angelegenheit, bei der jede:r selbst | |
| entscheiden kann, was er oder sie zu geben bereit ist. Im Ergebnis gibt es | |
| Menschen, die heute Sojamilch statt Kuhmilch trinken, aber als Nächstes in | |
| den Flieger steigen. Oder Menschen, die sich auf individueller Ebene | |
| wahnsinnig entbehrlich verhalten, dann aber [1][gegen den Ausbau von | |
| Windkraft in der eigenen Nachbarschaft] sind. So funktioniert Klimaschutz | |
| aber nicht. Er ist eine hochgradig öffentliche und politische | |
| Angelegenheit. | |
| Deshalb stellt Ihr Gegenentwurf kollektive Lösungen in den Mittelpunkt? | |
| Genau. Im Status quo kommt es nicht auf den individuellen Verzicht an. Wenn | |
| ich das verbleibende CO2-Budget für 2 Grad nutze und es durch die | |
| prognostizierte Weltbevölkerung bis 2050 teile, kommen Grenzwerte von 1 | |
| Tonne CO2 pro Kopf pro Jahr (pessimistisches Szenario) bis 2,58 Tonnen CO2 | |
| pro Kopf pro Jahr (optimistisches Szenario) heraus. In Deutschland liegt | |
| der durchschnittliche ökologische Fußabdruck bei etwa 11 Tonnen. Diese | |
| Lücke von mindestens 8 Tonnen lässt sich nicht nur durch Verzicht | |
| schließen. Wir kämen durch Verzicht nicht auf das Emissionsniveau, das wir | |
| bräuchten, um effektiven Klimaschutz zu betreiben. | |
| Das heißt, es ist egal, wie wir uns verhalten? | |
| Ich sage nicht, dass jemand, der ausgesprochen entbehrlich lebt, moralisch | |
| etwas falsch macht – im Gegenteil. Aber die zentrale Frage ist: Kann ich | |
| davon ausgehen, dass, wenn ich auf alle meine individuellen | |
| klimaschädlichen Handlungen verzichte, alles getan habe, wozu ich moralisch | |
| verpflichtet bin? Dazu würde ich sagen: Nein. | |
| Gibt es unterschiedliche moralische Pflichten für verschiedene | |
| Bevölkerungsgruppen? | |
| Im Prinzip haben wir alle dieselbe moralische Pflicht. Und zwar die Pflicht | |
| zum kollektiven Handeln. Das Problem ist: Wir sind dazu aktuell nicht in | |
| der Lage. Daraus leite ich in meinem Buch eine individuelle Pflicht ab, die | |
| promotional duty, also eine bewerbende Pflicht. Das ist die Pflicht, | |
| kollektives Handeln voranzutreiben. Sei es durch Aktivismus, durch | |
| politisches Engagement oder durch Vorträge. Ich habe herausgearbeitet, | |
| welche Gruppen insbesondere zu kollektivem Handeln verpflichtet sind. | |
| Welche sind das? | |
| Das sind einerseits die Young, die jungen Generationen weltweit, die Able, | |
| also diejenigen, die in der Lage sind, etwas gegen den Klimawandel zu tun, | |
| und die Polluter, also diejenigen, die zum Klimawandel beitragen. | |
| Ist es nicht ungerecht, junge Menschen besonders in die Pflicht zu nehmen? | |
| Sie haben meist weniger zur Klimakrise beigetragen als ältere Menschen. | |
| Ich denke nicht in Verantwortung, sondern in zukunftsgerichteter | |
| Verpflichtung. Wenn ich so ein young able Polluter bin, so wie in meinem | |
| Fall, dann habe ich eine besondere moralische Pflicht, kollektives Handeln | |
| herbeizuführen. | |
| Welche denn? | |
| Ich gehe zum Beispiel zu den globalen Klimastreiks. Vor allem aber nehme | |
| ich viele Vorträge an, darunter auch die, von denen ich selbst nicht | |
| wirklich profitiere. Im Prinzip geht es darum, Leute zum Umdenken zu | |
| bewegen. Wichtig ist auch, dass Klimaschutz Spaß machen darf. Unserer | |
| Gesellschaft würde es guttun, wenn wir mehr positive Visionen vom Leben | |
| formulieren würden. Das ist das, was ich versuche. | |
| Was ist Ihre positive Vision? | |
| Bei einer positiven gesellschaftlichen Vision müssen wir über das Framing | |
| nachdenken. Vielleicht braucht es eine Vision, in der es bequem bleibt. | |
| Schließlich geht es darum, eine Mehrheit zu mobilisieren. Auf der | |
| individuellen Ebene ist meine Hoffnung, dass ich in einem Bau-, | |
| Mobilitäts-, Ernährungs-, Wohn- und Energiesystem lebe, das grundsätzlich | |
| klimaneutral ist. Dass, egal wie ich handle, ich immer klimaneutral handle. | |
| Geht das in einem kapitalistischen System? | |
| Vermutlich ist der Kapitalismus nicht das nachhaltigste System. Aber in | |
| Anbetracht der Zeit und der C02-Lücke sollten wir alle Energie darauf | |
| fokussieren, wie wir jetzt auf den richtigen Weg kommen. Ganz pragmatisch: | |
| Es muss in diesem System gehen. | |
| Welche Rolle spielen staatliche Akteure bei kollektiven Lösungen? | |
| Aktuell ist es so, dass politisches Handeln da endet, wo Machterhalt | |
| anfängt. Ich beobachte, dass viele politische Akteure Angst haben, an der | |
| Wahlurne abgestraft zu werden, wenn sie ambitionierten Klimaschutz | |
| betreiben. Gesellschaftlich müssen wir es schaffen, ein Klima zu kreieren, | |
| in dem politische Akteure gar nicht mehr anders können, als ambitionierten | |
| Klimaschutz voranzutreiben. | |
| Und Großkonzerne? Oft sind sie ja die größten Klimasünder. | |
| Großkonzerne sind Teil einer kollektiven Lösung. Es gibt sie, weil wir | |
| bestimmte Produkte nutzen oder brauchen. Es sollte darum gehen, [2][diese | |
| Konzerne und ihre Produktionsverfahren zu dekarbonisieren]. | |
| Einige Großkonzerne stellen sich bei kollektivem Klimaschutz aber quer. | |
| Dem setze ich kollektives Handeln entgegen. Es geht darum, gesellschaftlich | |
| und politisch die Grenzen so zu verschieben, dass sich Unternehmen so etwas | |
| nicht mehr leisten können. | |
| Die Grenzen zu verschieben nimmt uns als Individuen in die Pflicht, oder? | |
| Es geht um unsere Zukunft, also haben wir ein Eigeninteresse zu handeln. | |
| Aber die Grenzen für individuelles Handeln sind für verschiedene Personen | |
| unterschiedlich. Eine Grenze ist dann erreicht, wenn moralisch relevante | |
| Ansprüche verletzt werden. Also Ansprüche, die wir haben, nur aufgrund | |
| dessen, dass wir Menschen sind. | |
| Zum Beispiel? | |
| Wenn es etwa um Stellenabbau und Jobverluste geht. Die Menschen haben einen | |
| moralisch relevanten Anspruch darauf, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu | |
| können. Darin liegt zum Beispiel auch die ethische Begründung für den | |
| Sozialstaat. Die Ethik kann aber auch eine Hierarchie moralisch relevanter | |
| Ansprüche begründen. Das moralische Recht auf Leben ist wichtiger als das | |
| Recht, ein Einkommen zu generieren. | |
| Stützt das nicht den Aktivismus der [3][„Letzten Generation“]? Danach ist | |
| kein gutes Leben auf einem überhitzten Planeten möglich. Deshalb ist der | |
| Protest in den Augen der Aktivist*innen auch wichtiger als der Anspruch | |
| der Pendler*innen, zur Arbeit zu kommen. | |
| Es ist etwas dran an dem Argument: Lebenswertes Leben auf einem zu heißen | |
| Planeten ist schwer vorstellbar. Die Frage bleibt, wie ich mit den | |
| moralisch relevanten Ansprüchen von anderen umgehe. Man muss auch selbst | |
| schauen, was man fordert – und das innerhalb der Grenzen des Rechtsstaats. | |
| 23 Sep 2022 | |
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