| # taz.de -- Letzter Castortransport vor zehn Jahren: „You are the Champions“ | |
| > Der letzte Castortransport nach Gorleben dauerte auch am längsten: Mehr | |
| > als 125 Stunden leistete die Anti-Atombewegung Widerstand. Ein Rückblick. | |
| Bild: Keine Seifenblasen: Der Protest am 26. November 2011 hat Erfolg. Es gibt … | |
| Göttingen taz | Am 27. November 2011 um 21.50 Uhr erreicht [1][der Konvoi | |
| mit den elf Castorbehältern] das Zwischenlager Gorleben. [2][Es ist der | |
| letzte Transport hochradioaktiver Abfälle ins Wendland]. Und der am | |
| längsten dauernde: 125 Stunden und 49 Minuten war die Fuhre seit dem Start | |
| im französischen Verladebahnhof Valognes nahe der atomaren | |
| Wiederaufarbeitungsanlage La Hague unterwegs. Blockaden entlang der | |
| gesamten Strecke haben die Castoren immer wieder gestoppt. | |
| „Die bange Frage war: Würden wir trotz des frisch verkündeten Atomausstiegs | |
| nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima noch genügend | |
| Rückhalt finden mit dem Thema Atommüll und Gorleben?“, erinnert sich | |
| Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz | |
| Lüchow-Dannenberg. „[3][Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich sah, wer | |
| sich da alles unserem Aufruf angeschlossen hatte und sich querstellen | |
| würde.“] | |
| Bereits bei der Abfahrt in Frankreich am 23. November begleitet wütender | |
| Widerstand den Transport. Demonstranten verbiegen einen Schienenstrang, | |
| entfernen Schotter aus dem Gleisbett. Die Polizei setzt Tränengas und | |
| Schlagstöcke ein, errichtet Straßensperren. | |
| Im Wendland laufen die Proteste einen Tag später an. Unterstützt von | |
| Traktorfahrenden demonstrieren morgens 2.000 Schüler:innen in Lüchow. Am | |
| Nachmittag beteiligen sich Hunderte an Mahnwachen und Laternenumzügen. In | |
| Metzingen findet am Abend die traditionelle sogenannte Landmaschinenschau | |
| statt: Bauern versperren mit Treckern, Anhängern und anderem Gerät die | |
| Bundesstraße 216. Die Polizei geht mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen | |
| die rund 3.000 Schaulustigen vor. „Schon an diesem Abend gab es viele | |
| Verletzte“, erzählt Marie. Die damals 19-jährige Schülerin, deren richtiger | |
| Name der Redaktion bekannt ist, ist aus Hannover angereist und wohnt in | |
| einem der vielen Camps, die auf Wiesen und Höfen entstanden sind. | |
| ## Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei | |
| Der Castorzug passiert am 25. November um 10.17 Uhr die | |
| französisch-deutsche Grenze bei Saarbrücken. In ganz Deutschland gibt es | |
| Protestaktionen: Schienenspaziergänge, Fackelumzüge, Solidaritätskonzerte. | |
| Im Göhrde-Wald im Wendland liefern sich Hunderte Aktivisten ein | |
| Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. „Wir haben Barrikaden auf den | |
| Waldwegen gebaut und mit Wollknäueln Volleyball über den Schienen | |
| gespielt“, sagt Marie. Der Atommüllzug steckt bei Haßloch nahe Mannheim | |
| fest, ein Mann ist auf einen Castorwaggon geklettert, Menschen sind auf den | |
| Schienen. | |
| Am 26. November beginnt die Aktion „Castor schottern“. In mehreren | |
| Demo-Fingern brechen Gruppen aus den Camps in Richtung Schienen auf. An | |
| einigen Stellen gelingt es, Schottersteine aus dem Gleisbett der für den | |
| Personenverkehr gesperrten Strecke zu räumen. Andernorts treibt die Polizei | |
| die Schotterer mit Pferden und Tränengas zurück in den Wald. Zeitgleich | |
| tuckern Hunderte Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft zur Großdemo bei | |
| Dannenberg. Viele Tausend Menschen sind zu Fuß, mit Rädern oder Autos | |
| unterwegs, insgesamt versammeln sich 25.000 auf dem Acker in Sichtweite des | |
| Verladekrans. | |
| „Schon während der Kundgebung machten sich viele auf den Weg, um die | |
| Schienen zu blockieren“, erzählt Ehmke. Bei Harlingen richten sie sich mit | |
| Strohballen, Schlafsäcken, Tee und heißer Suppe auf die Nacht ein, | |
| Journalisten schätzen ihre Zahl auf etwa 2.500. Die Polizei scheint | |
| überrumpelt und hat, wie der „Castorticker“ angibt, „an der Sitzblockade… | |
| Harlingen offenbar kapituliert“. | |
| ## Der Clou: Betonpyramide | |
| „Sitting Ovations“ gibt es auf den Schienen, als bekannt wird, dass sich | |
| sieben Greenpeace-Leute kurz hinter Lüneburg mittels Spezialrohren unter | |
| den Bahnschienen festgekettet haben. Erst nach sechs Stunden können sie von | |
| der Polizei losgemacht werden. Inzwischen sind auch zahlreiche Straßen im | |
| Wendland nicht mehr passierbar, Baumstämme, Steine und quer gestellte Autos | |
| blockieren die Fahrbahnen. | |
| Der 27. November beginnt. Gegen 3.30 Uhr startet die Polizei die Räumung | |
| der Schienen in Harlingen. „Wer nicht freiwillig aufstand, wurde | |
| weggeschleift“, sagt Marie. Unbemerkt sind derweil bei Hitzacker Landwirte | |
| mit einer 600 Kilogramm schweren Betonpyramide auf die Gleise gelangt. Vier | |
| von ihnen fixieren sich mit einer ausgeklügelten Konstruktion an den Block. | |
| Auch Spezialeinsatzkräfte können das Hindernis nicht ohne ernsthafte Gefahr | |
| für die Bauern beseitigen. Nach 14 Stunden gibt die Polizei auf. Die | |
| Blockierer beenden die Aktion schließlich freiwillig. Im Gegenzug fordern | |
| sie eine Erklärung der Gegenseite, die dann auch kommt: „Die Polizei sieht | |
| sich nach derzeitigem Stand in zumutbarer Zeit nicht in der Lage, die | |
| Personen unverletzt zu befreien.“ Die umstehenden Demonstranten jubeln und | |
| singen „You are the champions“. | |
| An anderen Stellen wird bis zum Abend weiterprotestiert, 1.500 Menschen | |
| beteiligen sich an einer Sitzblockade in Gorleben. Bei den Protesten gegen | |
| den Castortransport sind mehr als 200 Teilnehmende verletzt worden, 3 von | |
| ihnen schwer. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) spricht in | |
| der Nacht vom „härtesten Einsatz, seit Castortransporte stattfinden“. | |
| ## Neues Suchverfahren | |
| „Es wurde offensichtlich, dass der Widerstand nicht bröckelte“, bilanziert | |
| Ehmke zehn Jahre später. Die Ex-Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD), Jürgen | |
| Trittin (Grüne) und Peter Altmaier (CDU) hätten sich nach dem Transport zu | |
| „Küchengesprächen“ getroffen. „Und es dämmerte ihnen, dass es so mit | |
| Gorleben nicht weitergehen konnte.“ Resultat sei [4][das neue Suchverfahren | |
| für ein Atommüllendlager] gewesen. | |
| Das entsprechende Gesetz kam 2013. 2017 erfolgte der Neustart der | |
| Endlagersuche. Im September 2020 flog der Salzstock Gorleben wegen | |
| geologischer Mängel aus dem Suchverfahren. Von 1995 bis 2011 rollten 13 | |
| Castortransporte nach Gorleben. Insgesamt 113 Behälter stehen und strahlen | |
| im Zwischenlager. Sie müssen wieder abtransportiert werden, wenn irgendwann | |
| ein Endlager gefunden und betriebsbereit ist. | |
| 26 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Proteste-gegen-Castortransport/!5726072 | |
| [2] /Endlager-Bergwerk-wird-geschlossen/!5802230 | |
| [3] /Buch-ueber-Anti-Atomkraft-Bewegung/!5652426 | |
| [4] /Komplizierte-Endlagersuche/!5796634 | |
| ## AUTOREN | |
| Reimar Paul | |
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