| # taz.de -- Atommüllzwischenlager Gorleben: 40 Jahre unter Druck | |
| > Am 26. Januar 1982 begann der Bau des Gorlebener Atommüllzwischenlagers. | |
| > AKW-Gegner:innen reagierten mit Besetzung. | |
| Bild: Vor dem Bau: Protest der Bevölkerung im Wendland am 25.03.1979 | |
| Göttingen taz | Das Wort Zwischenlager nehmen die | |
| Atomkraftgegner:innen im Wendland nicht in den Mund, wenn sie über die | |
| wuchtige Betonhalle sprechen, die zwei Kilometer hinter dem Dorf Gorleben | |
| auf einer gerodeten Fläche im Kiefernwald liegt. „Kartoffelscheune“ – so | |
| nennen sie den fensterlosen Bau. Doch wird darin kein Gemüse gelagert, | |
| sondern hochradioaktiver Atommüll. | |
| 113 Castorbehälter warten auf den Weitertransport in ein Endlager, das noch | |
| nicht gefunden ist. Vor 40 Jahren, am 26. Januar 1982, begann der Bau des | |
| Gorlebener Atommüllzwischenlagers. Unter starkem Polizeischutz fuhren am | |
| Morgen jenes Tages die ersten Lastwagen auf das mit Stacheldrahtrollen | |
| umzäunte zehn Hektar große Gelände. | |
| „Die Atomwirtschaft stand mächtig unter Druck, denn der Betrieb der | |
| Atomkraftwerke wurde damals an einen Entsorgungsnachweis gekoppelt“, | |
| erklärt die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. „Mit dem | |
| Baubeginn war dieser Nachweis erfüllt – zumindest auf dem Papier.“ | |
| Der Lüchow-Dannenberger Kreistag, die Samtgemeinde Gartow und die Gemeinde | |
| Gorleben hatten den Bau im Sommer 1981 durchgewunken. Schließlich brachte | |
| die Zustimmung zum Zwischenlager „Infrastrukturhilfen“ in Millionenhöhe. | |
| Bereits kurz nach der Umzäunung des Geländes erhielten die Kommunen eine | |
| Zuwendung von fünf Millionen Mark, anschließend jährlich eine Million Mark. | |
| Zwar hatten 2.000 Einwohner Einwände gegen den Flächennutzungs- und der | |
| Bebauungsplan erhoben, diese blieben aber unberücksichtigt. | |
| ## BGS durfte nicht einschreiten | |
| AKW-Gegner:innen aus dem Wendland reagierten einen Tag nach dem Baubeginn | |
| und sorgten bei Polizei und Behörden in der Bundesrepublik und der DDR für | |
| eine veritable Überraschung. Bewaffnet mit Transparenten und bunten Fahnen | |
| überquerten rund 80 Frauen, Männer und Kinder nahe der Ortschaft Kapern die | |
| Demarkationslinie und liefen weiter auf das Territorium der DDR. | |
| Direkt vor der Grenzfestigung ließen sie sich auf mitgebrachten Strohballen | |
| nieder und entzündeten ein Lagerfeuer. Der etwas später eintreffende | |
| Bundesgrenzschutz (BGS) konnte nur zuschauen. Er durfte das Gebiet der DDR | |
| nicht betreten, um die Demonstrant:innen abzuräumen. Die Aufforderung | |
| der BGS-Beamten, das Areal zu verlassen, konterten die | |
| Grenzbesetzer:innen mit der Parole „Erst Baustopp – dann kommen wir | |
| zurück!“ Gegenüber den Grenztruppen der DDR stellten sie per Megafon klar, | |
| dass ihr Protest „nicht gegen die DDR gerichtet“ sei, sondern gegen die | |
| Atomenergie. Einige sangen „Die Internationale“. | |
| ## Erste Antikernkraftdemo auf Boden der DDR | |
| Die DDR-Grenzer ihrerseits wussten offensichtlich nicht, wie sie reagieren | |
| sollten. Jedenfalls schritten sie nicht gegen die Atomgegner:innen ein. | |
| Und lehnten das Angebot des BGS ab, die Besetzung zu beenden, wenn | |
| unbewaffneten Beamten aus dem Westen Zugang zu dem besetzten Territorium | |
| gewährt würde. Einen Tag später beendeten die Besetzer:innen von sich | |
| aus ihre Aktion. Sie hatten „die erste Antikernkraftdemonstration auf dem | |
| Boden der DDR“ veranstaltet, wie der Deutschlandfunk berichtete. | |
| Der Coup hatte Gorleben mal wieder in die großen Nachrichten gebracht. Der | |
| Bau des Zwischenlagers aber ging weiter, weitere Proteste konnten die | |
| Arbeiten nur kurzzeitig stoppen. Am 4. September 1982 folgten 10.000 | |
| Menschen dem Aufruf zum Musikfestival „Tanz auf dem Vulkan“. Im Wald hinter | |
| der Baustelle kam es zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen | |
| Demonstranten und der Polizei. Durch den Einsatz neuer | |
| Hochdruckwasserwerfer wurden mehrere Menschen schwer verletzt, harte | |
| Polizeiknüppel verursachten etliche Knochenbrüche und Prellungen. | |
| ## Castor-Proteste in den 1990ern | |
| Ende 1983 war das Zwischenlager fertig. Es ist 189 Meter lang, 38 Meter | |
| breit und 22 Meter hoch und hat 420 Stellplätze für Castorbehälter. „Der | |
| Name ‚Kartoffelscheune‘ ist damals schnell entstanden“, erinnert sich | |
| BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. „Die Halle heißt so, weil sie lediglich Schutz | |
| vor schlechtem Wetter bietet.“ Nur die Castorbehälter selbst sollten Schutz | |
| vor der Strahlung oder Flugzeugabstürzen und Terroranschlägen garantieren. | |
| Die Wände des Zwischenlagers seien zum Teil dünner als 50 Zentimeter. | |
| Im April 1995 rollte der erste Castortransport nach Gorleben – er traf auf | |
| seinem Weg ins Zwischenlager auf heftigen Widerstand. Rund 15.000 | |
| Einsatzkräfte von Polizei und BGS sicherten die Fuhre, Schlagstöcke und | |
| Wasserwerfer kamen zum Einsatz – Szenen, die sich so oder ähnlich bei allen | |
| späteren Transporten wiederholen sollten. | |
| ## Mehr als 100 Blockaden | |
| Der 13. und letzte Castortransport ins Wendland im November 2011 brach alle | |
| Rekorde. 126 Stunden war der Zug von der französischen | |
| Wiederaufarbeitungsanlage La Hague nach Gorleben unterwegs, so lange wie | |
| nie ein Transport zuvor. Mehr als 100 Blockaden mit Tausenden Aktivisten | |
| verzögerten immer wieder die Weiterfahrt. Auch die Kosten erreichten eine | |
| neue Höchstmarke. Der damalige niedersächsische Innenminister Uwe | |
| Schünemann (CDU) veranschlagte die Belastung für die Landeskasse mit etwa | |
| 33,5 Millionen Euro. | |
| Der Atommüll im Gorleben-Zwischenlager sollte, so sahen es die früheren | |
| Pläne vor, eines Tages von den Castoren in kleinere „Pollux“-Behälter | |
| umgepackt und in das ein paar Hundert Meter entfernte Endlager verfrachtet | |
| werden. Der unterirdische Gorlebener Salzstock wurde seit 1979 als einziger | |
| Standort auf seine Eignung als dauerhafte Lagerstätte untersucht. Unter dem | |
| Deckmantel der Erkundung entstand ein fast fertiges Endlager. Geologisch | |
| umstritten und politisch umkämpft flog Gorleben erst im September 2020 aus | |
| dem 2017 neu gestarteten Suchverfahren. [1][Es war ein großer Erfolg für | |
| die Anti-Atom-Bewegung.] | |
| [2][Auch der Rückbau des Erkundungsbergwerks und die Zuschüttung der | |
| Schächte ist inzwischen beschlossene Sache.] Die 113 Castoren mit heißem | |
| Atomschrott stehen immer noch im Zwischenlager. Die Betriebsgenehmigung der | |
| „Kartoffelscheune“ ist bis zum 31. Dezember 2034 befristet. Ein Endlager | |
| wird bis dahin auf keinen Fall betriebsbereit sein. Die Zwischenlagerung | |
| der Castorbehälter in Gorleben dürfte also weit über 2034 hinaus andauern. | |
| Die Atomkraftgegner:innen im Wendland wollen weiter wachsam bleiben. | |
| 26 Jan 2022 | |
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| [1] /Endlagerprojekt-Gorleben-und-die-taz/!5720325 | |
| [2] /Endlager-Bergwerk-wird-geschlossen/!5802230 | |
| ## AUTOREN | |
| Reimar Paul | |
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