| # taz.de -- Politik und Medien: Das Gefühl, mitspielen zu können | |
| > Wie nah dürfen sich Politik und Journalismus sein? Vorwürfe gegen | |
| > NDR-Journalist*innen haben diese Frage über ein komplexes Verhältnis | |
| > aktualisiert. | |
| Bild: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit mitreisenden Journalist*innen: Wer sa… | |
| Der Parteienproporz bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten ist eines der | |
| Grundübel unseres Systems. Solange ich Journalist bin, bleibe ich | |
| parteilos.“ Gesagt hat diesen Satz Claus Richter, ZDF-Journalist und bis | |
| 2014 Leiter des Politmagazins „Frontal 21“. Richter ist so etwas wie | |
| journalistisches Urgestein, fast noch aus der Zeit des „Internationalen | |
| Frühschoppens“ von Werner Höfer, bei dem geraucht, getrunken und gesiezt | |
| wurde. Gesagt hat er diesen Satz auch schon 1986, als es noch richtig | |
| schlimm war bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten, was den politischen | |
| Einfluss anging. | |
| Aber hat sich daran etwas geändert? Der Blick zum NDR nach Kiel scheint zu | |
| sagen: Och, nö, nicht wirklich. Das Onlinemedium Business Insider und | |
| danach der Stern hatten berichtet, dass es bei der Politikberichterstattung | |
| im [1][Kieler Landesfunkhaus eine Art „politischen Filter“] durch die | |
| Vorgesetzten geben könnte. Dabei ging es beispielsweise um ein Interview | |
| mit dem ehemaligen schleswig-holsteinischen Innenminister Hans-Joachim | |
| Grote (CDU), das ein NDR-Journalist habe führen wollen, was seine | |
| Vorgesetzten aber wegen angeblicher Nähe zum mit Grote im Clinch liegenden | |
| Ministerpräsidenten Daniel Günther (ebenfalls CDU) abgelehnt hätten. Beim | |
| rbb geht es zwar weniger um den Vorwurf direkter politischer Einfluss- oder | |
| Rücksichtnahme, doch auch dort spielen politisch [2][gut vernetzte alte | |
| Westberliner Seilschaften] eine Rolle. | |
| Natürlich verlaufen heute die Gemengelagen anders. Geraucht wird deutlich | |
| weniger, dafür sehr viel mehr geduzt. „Familiarity breeds contempt“, | |
| sinngemäß „Vertrautheit schafft Verachtung“, sagte schon mein alter | |
| Schulrektor. Oder sorgt für Gefälligkeiten, falsche Rücksichtnahme und ein | |
| ganz merkwürdiges Gemeinschaftsgefühl. Das muss und soll jetzt nicht das | |
| Duzen verteufeln, aber es deutet auf etwas hin, was immer öfter fehlt – | |
| professionelle, nicht rein formale Distanz. | |
| Politik und Medien sind zwei Seiten einer Medaille, lautet eine andere | |
| Binse im politischen Schwafelgeschäft. Und wie immer ist bei aller | |
| gebotenen Verachtung was Wahres dran. Zwei Seiten, das bedeutet Gegensatz | |
| oder zumindest eben Distanz, Abstand, nicht eins sein mit dem politischen | |
| Apparat. Dumm nur, dass der mit seinen Triggern den medialen | |
| Erregungsmustern so furchtbar ähnelt. Und so geraten die Rollen zwar nicht | |
| formal, aber informell schon mal ziemlich durcheinander. | |
| ## Ähnliche Systeme der Versuchung | |
| Ein paar Jahre nach dem Richter-Spruch, ab 1998, moderierte [3][Sabine | |
| Christiansen ihre gleichnamige Sendung]. Von diesem Schock hat sich der | |
| politisch-mediale Komplex nie mehr wirklich erholt. Denn hier saßen | |
| plötzlich Politiker*innen und Journalist*innen zusammen und | |
| wähnten sich auf Augenhöhe – was erst mal gar nichts aussagt. Doch sie | |
| wähnten sich auch auf funktional gleich laufenden Bahnen. Da gefiel sich | |
| plötzlich der Stern-Mann Uli Jörges in der Rolle des Ersatzkanzlers und | |
| merkte gar nicht, dass er seinen journalistischen Tanzbereich nicht nur | |
| verlassen, sondern eigentlich sogar verraten hatte. | |
| „Die Politiker suchen und organisieren die Gefolgschaft von Journalisten“, | |
| dieser Satz stammt auch von Jörges. Dem wollte er immer etwas | |
| entgegensetzen. [4][Doch es geht eben, wie der Journalist Jürgen Leinemann] | |
| nach den Erfahrungen der „Bonner Republik“ bei der Ankunft im „Raumschiff | |
| Berlin“ konstatierte, nicht um Inhalt, sondern um Betrieb und Macht. Dieser | |
| vermeintlichen Macht des Großjournalisten, der der Politik sagt, wo es | |
| langgeht, war Jörges zumindest zeitweise verfallen. | |
| Leinemann wusste, wovon er schrieb. Selten hat jemand den politischen | |
| Betrieb so schonungslos seziert wie der Spiegel-Mann, der in seinem Buch | |
| „Höhenrausch“ 2004 auf die so banale wie erschütternde Erkenntnis | |
| „Politiker tun sich schwer mit dem richtigen Leben“ stieß. Und der gerade | |
| nicht verhehlte, dass es zahlreichen Journalist*innen mindestens | |
| genauso geht. Vor allem, wenn sie so nah dran an ebendieser Politik sind, | |
| dass sie das Gefühl haben, mitspielen zu können oder gar zu dürfen. | |
| Leinemann, der mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder befreundet und | |
| per Du war, machte auch gar keinen Hehl aus seiner Nähe zum Objekt der | |
| Begierde. Doch er reflektierte das stets mit kritischer Distanz. | |
| „Sind es denn wirklich nur die Politiker, die ihre enormen Möglichkeiten | |
| auskosten, sich selbst zu bestätigen? Und behaupten nur sie, dass die | |
| vielen Privilegien, die notwendiger- und erfreulicherweise ihr Berufsleben | |
| begleiten, nichts anderes seien als quasi unvermeidliche Zugaben zur hehren | |
| Gemeinwohl-Aufgabe?“, fragte Leinemann 2005 bei seiner Rede zur „Lage des | |
| Journalismus“ bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche (Offenlegung: | |
| Ich bin da Mitglied und war auch mal im Vorstand. Wie übrigens auch Julia | |
| Stein vom NDR-Landesfunkhaus Kiel.) | |
| „Ich tickte wie die meisten politischen Karrieristen“, noch so ein Satz von | |
| Leinemann, der vielen anderen aus seiner (unserer!) Zunft wohl nicht so | |
| locker über die Lippen käme. Doch Mitspielen war Leinemanns Sache nicht. | |
| Auch wenn er bis zuletzt dabei war. Aber wie lässt sich journalistische | |
| Distanz halten, wenn sich die Systeme der Versuchung so ähneln? | |
| ## Journalist*innen sind kein Neutrum | |
| Angelsächsische Medien – ich fürchte, wir reden jetzt überwiegend von der | |
| Ära vor Trump – sind schon formal etwas konsequenter aufgestellt. Die | |
| Trennung von Nachricht und Meinung ist dort stärker. Eine Vermischung | |
| findet nicht statt oder ist zumindest verpönt. Vor rund zehn Jahren weilte | |
| eine Kollegin der Washington Post bei der taz. Meine Bitte, auf der | |
| Medienseite etwas über den ersten Pulitzer-Preis für ein Onlineangebot | |
| namens Politico zu schreiben und das Ganze einzuordnen und zu bewerten, | |
| lehnte sie ab. „I cannot possibly do editorial“ – ich kann doch kein | |
| Meinungsstück schreiben –, lautete die Antwort der Reporterin, die für eine | |
| ihrer Recherchen 2008 selbst mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden | |
| war. Andere gehen noch weiter. Beziehungsweise gar nicht erst wählen. | |
| „Es mag merkwürdig erscheinen, nicht an Wahlen teilzunehmen oder die eigene | |
| politische Präferenz nicht transparent zu machen. Das stimmt aber nicht. | |
| Wer Journalist*in wird, gibt zu einem gewissen Grad seine Mitwirkung in | |
| der Öffentlichkeit auf, denn Glaubwürdigkeit ist das höchste Gut des | |
| Journalismus“, argumentierte schon 2008 Alicia C. Shepard vom | |
| öffentlich-rechtlichen National Public Radio (NPR) in den USA. Und Leonard | |
| Downie Jr., bis 2008 Chefredakteur der Washington Post, erklärte „Ich habe | |
| zu wählen aufgehört, als ich zum Hauptentscheider darüber wurde, was in der | |
| Zeitung erscheint.“ | |
| Aber ergibt das Sinn? Nein, und es ist sogar gefährlich. Ich möchte keine | |
| politischen Analysen oder Reportagen von Journalist*innen lesen, die | |
| von sich behaupten, sie wären ein politisches Neutrum. Denn das gibt es | |
| schlicht nicht. Ich möchte aber wissen – oder zumindest erahnen können –, | |
| wie jemand politisch tickt. Wenn das transparent gemacht wird, lassen sich | |
| auch die Auswirkungen auf die Berichterstattung fair einpreisen. Alles | |
| andere ist wie der Glaube an die Unbefleckte Empfängnis. | |
| Das heißt nicht, dass einzelne Journalist*innen oder ganze Redaktionen | |
| mit der Politik kungeln sollen. Das Leben – und erst recht das Verhältnis | |
| von Politik und Medien – bleibt nun mal komplex. Oder, um es mit Jürgen | |
| Leinemann zu sagen: „Die krasse Realität ist für niemanden uneingeschränkt | |
| erfreulich.“ | |
| 18 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Vorwuerfe-gegen-NDR-Spitze-in-Kiel/!5878376 | |
| [2] /Schlesinger-Affaere-beim-RBB/!5876613 | |
| [3] /Sabine-Christiansen-und-Daimler-Benz/!5185334 | |
| [4] /Journalist-Juergen-Leinemann-gestorben/!5055176 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Grimberg | |
| ## TAGS | |
| NDR | |
| RBB | |
| Schwerpunkt Pressefreiheit | |
| Journalismus | |
| Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk | |
| GNS | |
| Propaganda | |
| Medienethik | |
| Medienethik | |
| Medienethik | |
| Medienethik | |
| RBB | |
| NDR | |
| NDR | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Stefan Kornelius als Regierungssprecher: Der perfekte Mann für den Job | |
| Für das Amt des Regierungssprechers ist Stefan Kornelius wunderbar | |
| geeignet. Fragwürdig ist an der Sache etwas ganz anderes. | |
| Fehlverhalten beim NDR in Kiel: Nur ein Anschein von Einflussnahme | |
| Die Beratungsfirma Deloitte stellt ihren Bericht vor. Die Prüfer finden | |
| zwar diverse Fehler, aber kein systematisches Systemversagen. | |
| Siezen und Duzen im Journalismus: Letzte Bastion deutscher Sprache | |
| Es duzt auf einmal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Geht das? Die | |
| journalistische Duz- und Siez-Haltung ist kompliziert. Und sie ändert sich. | |
| Aufarbeitung nach Skandal: Der NDR macht alles richtig | |
| Nach Medienberichten über einen politischen Filter und ein mieses | |
| Arbeitsklima im Kieler Funkhaus nimmt sich der Sender des Problems | |
| vorbildlich an. | |
| Aufklärung der Missstände beim NDR: Rundfunkrat entmachtet sich selbst | |
| Der Landesrundfunkrat setzt Wirtschaftsprüfer ein, um den Vorwurf der | |
| gefilterten Berichterstattung beim NDR untersuchen zu lassen. Geht's noch? | |
| Schlesinger-Affäre beim RBB: Scherbengericht | |
| Der Medienausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses tagt zur RBB-Affäre. | |
| Der Rundfunkrat wählt die WDR-Managerin Katrin Vernau zur | |
| Interimsintendantin. | |
| Skandal ums Kieler Landesfunkhaus: Der NDR schonte auch das Rote Kreuz | |
| Neue Vorwürfe gegen den NDR in Schleswig-Holstein. Teile der Führungsebene | |
| sind von ihren Aufgaben entbunden. Sofortige Aufklärung gefordert. | |
| Vorwürfe gegen NDR-Spitze in Kiel: Rundfunkrat will weiter untersuchen | |
| Ein „Klima der Angst“ und „politische Filter“: Gegen die Redaktionsleit… | |
| im NDR-Landesfunkhaus Kiel stehen einige Vorwürfe im Raum. |