| # taz.de -- Personalmangel bei der Justiz: Vorzeitige U-Haft-Entlassungen | |
| > Immer wieder werden Tatverdächtige aus der Untersuchungshaft entlassen, | |
| > weil die Verfahren zu lange dauern. Die Strafkammern sind überlastet. | |
| Bild: Mehr als sechs Monate darf hier niemand sitzen: Zellen in der Hamburger U… | |
| HAMBURG taz | Im Mai 2022 beschloss das Hanseatische Oberlandesgericht in | |
| Bremen, drei Angeklagte aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die | |
| sechsmonatige Frist bis zum Beginn der Hauptverhandlung konnte nicht | |
| eingehalten werden, eine weitere Inhaftierung sei damit nicht legal. Das | |
| Pikante: Den Angeklagten wird der Mord an einem 46-jährigen Bremer im Jahr | |
| 2020 vorgeworfen. Dass die vorzeitige Entlassung aus der U-Haft kein | |
| Einzelfall ist, zeigen Daten aus anderen Bundesländern. | |
| Mindestens 66 Tatverdächtige wurden 2021 bundesweit aus der | |
| Untersuchungshaft entlassen, allein in Schleswig-Holstein waren es elf. In | |
| fast allen Fällen begründeten die Gerichte den Schritt damit, dass die | |
| Verfahren nicht schnell genug vorankamen. Was banal klingt, hat einen | |
| ernsten Hintergrund: „Die Strafkammern sind tatsächlich überlastet“, | |
| [1][sagt Christine Schmehl vom Schleswig-Holsteinischen Richterverband]. | |
| „Der Justiz fehlt in erheblichem Umfang Personal.“ Der Deutsche Richterbund | |
| (DRB) sieht deswegen die Justizministerien der Länder in der Pflicht und | |
| fordert generell mehr Stellen. | |
| Doch die sehen die Gründe teilweise bei den Strafkammern selbst. Diesen | |
| „obliegt die gerichtsinterne Geschäfts- und Personalverteilung“, wie Oliver | |
| Breuer vom Justizministerium Schleswig-Holstein sagt. Fakt ist: Die letzte | |
| bundesweite Berechnung des Personalbedarfs in der Justiz stammt aus dem | |
| Jahr 2014. Seither hat sich viel geändert – sowohl an der Anzahl der | |
| Verfahren als auch an deren Komplexität. Das bestätigt auch Breuer: „Es | |
| gibt deutliche Anzeichen dafür, dass infolge einer Vielzahl von | |
| Gesetzesänderungen seit 2014 der tatsächliche Zeitaufwand im Strafverfahren | |
| nicht mehr adäquat abgebildet wird.“ | |
| In Deutschland gelten strenge Richtlinien für eine vorläufige Inhaftierung | |
| von Tatverdächtigen. Die Untersuchungshaft darf in der Regel nicht länger | |
| als sechs Monate andauern. Nur in dringenden Fällen können Gerichte eine | |
| Verlängerung der U-Haft bewirken. Wenn die eingeleiteten Verfahren nicht | |
| schnell genug in eine Hauptverhandlung führen, müssen die Verdächtigen | |
| wieder entlassen werden: Die Freiheit der Person als Grundrecht steht dann | |
| über dem Tatverdacht. Dass Gerichte schnellstmöglich arbeiten und eine | |
| Verhandlung eröffnen müssen, gibt das Beschleunigungsgebot in Haftsachen | |
| vor, das in der Strafprozessordnung verankert ist. | |
| Die Gründe für die verzögerten Verfahren sind vielschichtig. Die Berechnung | |
| des Personalbedarfs stimme nicht mehr, sagt Schmehl. „Der Aufwand für die | |
| großen Strafverfahren an den Landgerichten ist enorm gestiegen.“ Das liege | |
| unter anderem daran, dass es viel mehr digitalisierte Beweismittel gebe, | |
| die ausgewertet werden müssten. Darunter fallen zum Beispiel auch | |
| Whatsapp-Nachrichten. Erschwerend sei laut Schmehl, dass es heute vermehrt | |
| Verfahren mit Auslandsbezug oder komplizierten Sachverhalten gebe. „Das | |
| führt dazu, dass der zeitliche Aufwand größer wird.“ Seit 2014 sei dieser | |
| bei großen Strafverfahren um rund 50 Prozent gestiegen. | |
| ## Arbeit am Limit | |
| Auch in Bremen arbeiten die Landgerichte „seit Jahren am Limit“, wie der | |
| dortige Richterbund mitteilt. Personal sei bereits aus anderen Bereichen | |
| herangezogen worden, die Überlastung bleibe aber erheblich hoch. Es brauche | |
| „angesichts erheblicher Personalprobleme und großer | |
| Digitalisierungsaufgaben ein umfangreiches Investitionspaket für die | |
| Justiz“, erklärt Sven Rebehn vom Deutschen Richterbund. | |
| Den Personalmangel sieht mittlerweile auch die politische Seite ein. Die | |
| schleswig-holsteinische Justizministerin Kerstin von der Decken | |
| (CDU)verweist dazu auf den aktuellen Koalitionsvertrag, der „eine | |
| hundertprozentige Abdeckung nach dem bundesweiten Personalbedarfssystem | |
| sowie weitere Verstärkungen“ vorsieht. | |
| Dieser Bedarf sei in Bremen beispielsweise schon abgedeckt, [2][wie die | |
| dortige Senatorin Claudia Schilling (SPD) sagt]. Die | |
| Personalabdeckungsquote liege dort bei 124 Prozent und damit deutlich über | |
| dem Bedarf. Dennoch wolle man auch zukünftig auf den gestiegenen | |
| juristischen Aufwand reagieren. | |
| Beim aktuellen Fall der drei entlassenen Tatverdächtigen sieht Schilling | |
| jedoch kein Personalproblem, sondern verweist auf die komplizierte Beweis- | |
| und Rechtslage. Außerdem sei die derzeitige Überlastung auf die Verteilung | |
| der Verfahren auf die einzelnen Kammern zurückzuführen, die das Landgericht | |
| selbst im Rahmen der richterlichen Unabhängigkeit vornimmt. Die Ursache | |
| liegt laut Schilling also in der Organisation der Justiz. | |
| Dass es in beiden Bundesländern aufgrund langer Verfahren überhaupt zu | |
| Entlassungen aus der Untersuchungshaft kam, ist ein Problem. Doch dabei | |
| bleibt es in machen Fällen nicht: „Erschwerend wirkt, dass tatsächlich ein | |
| aus der U-Haft Entlassener geflüchtet ist und ein anderer erneut eine | |
| Straftat begangen hat“, wie Marc Timmer zur Situation in Schleswig-Holstein | |
| sagt. Der justizpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion hatte die | |
| Bekanntgabe der Zahlen erst durch eine Kleine Anfrage an die | |
| Landesregierung erwirkt. | |
| ## Langer Freiheitsentzug | |
| Aber gerade, wenn die Vorwürfe gegen Tatverdächtige nach der Entlassung | |
| fallen gelassen werden, ist die lange Untersuchungshaft ein Problem. Eine | |
| sechsmonatige U-Haft bedeutet vor allem eines: Freiheitsentzug. Falls es | |
| gegenüber den Tatverdächtigen später nicht zu einer Verhandlung kommt, | |
| haben diese Anspruch auf Entschädigung. [3][Der entsprechende Umfang wurde | |
| vom Bundestag erst 2020 erhöht.] Seither haben zu Unrecht inhaftierte | |
| Personen Anspruch auf 75 Euro pro Tag. Dies betreffe bundesweit pro Jahr | |
| etwa 400 Personen, erklärte der SPD-Abgeordnete Johannes Fechner 2020 im | |
| Bundestag. Dazu kämen auch immaterielle Folgen: „Ein Bürger, der inhaftiert | |
| wird, wird aus seinem Umfeld herausgerissen und ist durch die gerichtliche | |
| Entscheidung stigmatisiert.“ | |
| All dies wirft kein gutes Licht auf die Justiz. „Die Frage, ob ein | |
| Untersuchungsgefangener weiter in Haft bleibt oder nicht, darf nicht davon | |
| abhängen, dass nicht genügend Richter und Staatsanwälte zur Verfügung | |
| stehen“, erklärt Andreas Helberg vom Bremischen Richterbund. Auch für die | |
| Sicherheit der Bevölkerung sei es unerlässlich, mehr Stellen zu schaffen, | |
| sagt Marc Timmer. Der Deutsche Richterbund sieht durch die Vorkommnisse vor | |
| allem die Gefahr eines „Vertrauensverlustes in die Funktionsfähigkeit der | |
| Justiz“ und fordert deshalb schnelles Handeln der Politik. | |
| 23 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.richterverband-sh.de/positionen/pressemeldungen/nachricht/news/… | |
| [2] https://www.senatspressestelle.bremen.de/pressemitteilungen/u-haft-entlassu… | |
| [3] /Jurist-ueber-Haftentschaedigung-fuer-Unschuldige/!5711028 | |
| ## AUTOREN | |
| David Wasiliu | |
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