| # taz.de -- Russischer Journalist im Exil: Nicht bereit fürs Gefängnis | |
| > Denis Kamaljagin floh nach dem 24. Februar ins Baltikum. Die Debatte über | |
| > Visavergabe an Russ*innen bringt neue Unsicherheiten in sein Exilleben. | |
| Bild: Journalist Denis Kamaljagin in einem Café in Riga | |
| Riga taz | Für Alkohol ist es noch zu früh an diesem lauen späten | |
| Sommernachmittag in der Altstadt von Riga. Denis Kamaljagin sitzt in einem | |
| Straßencafé, blinzelt in die Sonne, vor sich einen Stapel Papier nebst | |
| Stift und einen Kaffee. Der 37-Jährige wirkt müde und etwas angespannt, | |
| doch zumindest scheint er hier irgendwie angekommen. | |
| Gerade einmal fünf Monate ist es her, dass der Journalist überstürzt aus | |
| Russland über Estland nach Lettland geflohen ist – mit einem Rucksack, | |
| darin nur ein T-Shirt, ein Laptop und mehrere Notizblöcke. „Meine Heimat zu | |
| verlassen, diese Entscheidung habe ich gegen meinen Willen getroffen“, sagt | |
| Kamaljagin. „Aber ich war nicht bereit, für sieben Jahre oder länger ins | |
| Gefängnis zu gehen.“ | |
| Kamaljagin wird in Makijiwka geboren. Die drittgrößte Stadt im | |
| [1][ostukrainischen Gebiet Donezk] ist heute von russischen Truppen | |
| besetzt. Noch lange, nachdem er mit seinen Eltern weggezogen ist, verbringt | |
| er dort jeden Sommer bei seiner Großmutter mütterlicherseits, die | |
| Ukrainerin ist – genauso wie die Eltern seines Vaters. | |
| 2016, und damit zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges in der Ostukraine, | |
| fährt Kamaljagin als Reporter in die Stadt Donezk. „Das Zentrum und der vom | |
| Flughafen entfernte Teil sehen wie eine völlig friedliche Stadt aus. Ja, | |
| ein bisschen herrenlos, stellenweise düster und heruntergekommen, aber | |
| immerhin“, schreibt er kurz darauf in einem Beitrag für die ukrainische | |
| Webseite ostrow.org. „Die Stadt scheint sich erkältet zu haben, sie ist | |
| erkrankt oder in einen Winterschlaf gefallen.“ Sein Aufenthalt endet früher | |
| als geplant – die Behörden der sogenannten Volksrepublik Donezk lassen ihn | |
| abschieben. Mit seiner Akkreditierung sei etwas nicht in Ordnung, heißt es | |
| zur Begründung. | |
| ## Mit der Staatsmacht angelegt | |
| 1986 wird Kamaljagins Vater, ein Militär, nach Russland beordert. Seine | |
| Frau und der einjährige Sohn Denis gehen mit. Von da an beginnt eine | |
| Odyssee: Sachalin, Kostroma und 1992 Jaroslawl. Die Versetzung nach | |
| Jaroslawl ist eine Strafmaßnahme, eine Art Verbannung, wie Kamaljagin sagt. | |
| Den Unmut des Vaters über die Zustände in der russischen Armee hat dessen | |
| Mutter in einem Leser*innenbrief zusammengefasst, den sie an die | |
| Zeitung Krasnaja Swesda (Roter Stern) schickt – das Zentralorgan des | |
| russischen Verteidigungsministeriums. In Jaroslawl hausen die drei mehrere | |
| Monate lang in einer fensterlosen Baracke, ohne Möbel und Strom. | |
| 1999 verschlägt es die Familie schließlich nach Pskow, eine Großstadt nahe | |
| der Grenze zu Estland. Nach seinem Schulabschluss nimmt Kamaljagin ein | |
| Ökonomiestudium auf, der Fakultät ist auch ein Lehrstuhl für eine | |
| militärische Ausbildung angeschlossen. Die muss auch Kamaljagin ein Jahr | |
| lang über sich ergehen lassen, bis er nach der Diagnose einer chronischen | |
| Magenerkrankung freigestellt wird. | |
| 2007 macht Kamaljagin sein Diplom. Da hat er bereits drei Jahre lang bei | |
| der örtlichen, staatlichen Stadtzeitung Erfahrungen gesammelt und vor allem | |
| über Sport und Kultur geschrieben. Doch dann sattelt er auf Politik und | |
| Wirtschaft um. „Am Anfang konnte ich schreiben, was ich wollte. Es gab | |
| keine Einschränkungen“, sagt Kamaljagin. Ab 2008 beginnt sich das zu | |
| ändern, die Luft für Oppositionelle und ergo auch für kritische | |
| Journalist*innen wird immer dünner. In [2][diesem Jahr wird Dmitri | |
| Medwedew] zum Präsidenten „gewählt“. Das vierjährige Intermezzo soll sei… | |
| Amtsvorgänger Wladimir Putin – fortan Regierungschef – die Möglichkeit | |
| verschaffen, bei der Präsidentenwahl 2012 erneut anzutreten – was er auch | |
| tut. | |
| Zu diesem Zeitpunkt hat Kamaljagin schon ein einjähriges Gastspiel bei der | |
| Regionalzeitung Pskowskaja Gubernija (Provinz Pskow) hinter sich. Das | |
| Wochenblatt, das 2015 mit dem Gerd Bucerius-Förderpreis Freie Presse | |
| Osteuropas der Zeit-Stiftung ausgezeichnet wird, bürstet gerne gegen den | |
| Strich und legt sich dabei auch immer wieder mit der Staatsmacht an. | |
| ## Zum „ausländischen Agenten“ erklärt | |
| Im August 2014, Russland hat die Krim annektiert und die bewaffneten | |
| Auseinandersetzungen in der Ostukraine sind in vollem Gange, kehrt | |
| Kamaljagin zur Pskowskaja Gubernija zurück. Dort übernimmt er den Posten | |
| des Chefredakteurs und wird sofort unsanft geerdet. Denn die Zeitung steckt | |
| in großen Schwierigkeiten. Der Grund dafür ist ein Artikel über geheime | |
| Beerdigungen russischer Soldaten im Gebiet Pskow, die in der Ostukraine | |
| gekämpft haben und dabei zu Tode gekommen sind. Das widerspricht dem | |
| offiziellen Narrativ des Kreml. Demnach habe es dort nie russische Soldaten | |
| gegeben und es gebe sie bis heute nicht. Der inkriminierte Beitrag bringt | |
| Kamaljagins Vorgängerin Swetlana Prokopjewa wegen „Rechtfertigung von | |
| Terrorismus“ die Verurteilung zu einer Geldstrafe von umgerechnet 13.000 | |
| Euro und der Redaktion die ungeteilte Aufmerksamkeit der Behörden ein. | |
| Zu dem wachsenden politischen Druck kommen massive wirtschaftliche | |
| Probleme. Die Zeitung hält sich mit Stipendien und Spenden über Wasser. | |
| „2018 hatte ich zwei Monate lang zu Hause keinen Strom, aber das war ja für | |
| mich nichts Unbekanntes“, sagt Kamaljagin und grinst. Er und sein Team | |
| lassen dennoch nicht locker. 2019 bringt die Redaktion unter dem Titel | |
| „Russland und die Ukraine. Tage der Sonnenfinsternis“ ein Buch mit | |
| Reportagen über den Krieg im Osten der Ukraine heraus. | |
| Im Dezember 2020 wird Kamaljagin selbst zum Gegenstand einer umfangreichen | |
| Berichterstattung – nicht nur in Russland. Er wird als eine von fünf | |
| Personen als „ausländischer Agent“ gelabelt – ein „Privileg“, das bi… | |
| nur Organisationen vorbehalten und schon Eintrittskarte ins Gefängnis ist. | |
| Dabei geht es angeblich um eine Kolumne für Radio Freies Europa, Thema: Die | |
| Entscheidung für den Bau einer Chemiefabrik an der Grenze zu Estland, an | |
| der die Anwohner*innen, anders als im Gesetz vorgesehen, nicht beteiligt | |
| worden sind. „Dafür habe ich 50 Euro Honorar bekommen“, sagt Kamaljagin | |
| trocken. | |
| ## Russischer Angriffskrieg auf die Ukraine | |
| Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Im März 2021 wird Pskowskaja Gubernija die | |
| Lizenz entzogen. Wenige Monate später verweigert die russische | |
| Aufsichtsbehörde Rozkomnadzor dem Medium die Registrierung. Die Begründung | |
| ist so banal wie folgerichtig: Kamaljagin sei „ausländischer Agent“. | |
| Dann kommt der 24. Februar, Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine | |
| beginnt. „Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Dieser | |
| Krieg ist das Schlimmste, was unserer Generation passieren kann“, sagt | |
| Kamaljagin. | |
| Am 4. März unterschreibt Wladimir Putin ein Gesetz über Kriegszensur. | |
| Fortan dürfen Journalist*innen keine Daten über getötete russische | |
| Soldaten, sondern nur noch offizielle Informationen des Moskauer | |
| Verteidigungsministeriums verwenden. Einen Tag später stattet die Polizei | |
| der Redaktion einen Besuch ab. Sie konfisziert die gesamte Technik oder | |
| macht sie gleich an Ort und Stelle unbrauchbar. Kamaljagin und seine vier | |
| Kolleg*innen werden stundenlang verhört. Die Webseite von Pskowskaja | |
| Gubernija wird blockiert, und das gleich zwei Mal. Die Vorwürfe lauten auf | |
| Verbreitung von Falschnachrichten, die zu Unruhen in der Gesellschaft | |
| führen können, und Fake-News über die Armee. Darauf stehen fünf bis zehn | |
| Jahre Haft. | |
| ## Debatte um Visavergabe | |
| In Kamaljagin reift der Gedanke, die Arbeit einzustellen, da die Sicherheit | |
| seiner Mitarbeiter*innen nicht mehr gewährleistet werden kann. Seine | |
| Entscheidung zur Flucht fällt Mitte März, als ein weiteres Verfahren gegen | |
| ihn eingeleitet wird. Verleumdung des Gouverneurs des Gebietes Pskow, | |
| Michail Wedernikow, lautet der Vorwurf. | |
| Am 16. März verlässt Kamaljagin Russland und trifft kurz darauf in Lettland | |
| ein. Mittlerweile hat er auch seinen vier Mitarbeiter*innen zur | |
| Ausreise dorthin verholfen. Kamaljagin hat ein Visum der Kategorie D, das | |
| aus humanitären Gründen erteilt wird und für ein Jahr gültig ist. Derzeit | |
| erhält er von der Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen eine | |
| monatliche Unterstützung von 1.600 Euro. Die läuft Ende September aus – was | |
| danach kommt, ist unklar. Zu einem anderen russischsprachigen Exilmedium zu | |
| wechseln, ist für Kamaljagin jedoch keine Option. „Ich will Pskowskaja | |
| Gubernija retten. Das ist das Projekt meines Lebens und jetzt mein einziges | |
| Kind“, sagt er. Sein anderes Kind ist die achtjährige Tochter Dina, die in | |
| Russland lebt. Seit seiner Scheidung 2015 ist der Kontakt zu ihr | |
| abgebrochen. | |
| Trotz aller Unwägbarkeiten fühle er sich wohl in Riga: „Ich richte mich auf | |
| einen längeren Aufenthalt ein“, sagt Kamaljagin. Auch deshalb besucht er | |
| zweimal wöchentlich einen Lettisch-Sprachkurs. Sorgen bereiten ihm jedoch | |
| [3][die jüngsten Beschränkungen der Visavergabe] an Russ*innen, die die | |
| lettische Regierung beschlossen hat. Ob sich das auch auf seinen | |
| Aufenthaltstitel auswirken werde, wisse er nicht. Aber schließlich müsse | |
| man mit allem rechnen. „Für diesen Fall habe ich bereits einen Plan B“, | |
| sagt Kamaljagin. „Ein anderes europäisches Land.“ | |
| Der Text entstand im Rahmen einer Reise der taz Panter Stiftung. | |
| 19 Aug 2022 | |
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| Barbara Oertel | |
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