# taz.de -- Volksbegehren in Berlin: Schuften fürs Grundeinkommen | |
> Sechs Wochen vor Schluss fehlen der Initiative noch mehr als 100.000 | |
> Unterschriften. Dabei sind viele Berliner*innen von der Idee | |
> überzeugt. | |
Bild: Die Idee ist weit verbreitet, die Politik hat es aber noch nicht geblickt… | |
BERLIN taz | Die Wirtin der Kreuzberger Eckkneipe schaut ein bisschen | |
skeptisch auf Alexandre Pierre und seine Mission. Der 37-Jährige mit dem | |
Plakat auf dem Rucksack wirbt bei den Gästen an den Außentischen für das | |
[1][Volksbegehren Grundeinkommen]. Doch statt ihn wegzuschicken, schnappt | |
sie sich eine Unterschriftenliste, liest sich das Anliegen durch – und | |
verschwindet in ihrer Kneipe. Gut fünf Minuten später ist sie zurück, mit | |
vier Unterschriften auf dem Papier. „Da hat sich das Warten doch gelohnt“, | |
murmelt Pierre und zieht weiter. | |
Seit Anfang Mai sammeln die Aktivist*innen [2][der Initiative | |
Expedition Grundeinkommen Unterschriften]; bis Anfang September brauchen | |
sie insgesamt 175.000 gültige, damit es zu einem Volksentscheid kommt. Die | |
Ini will das bedingungslose Grundeinkommen, also eine vom Staat finanzierte | |
Unterstützung für alle, unabhängig von deren wirtschaftlicher Situation und | |
ohne Gegenleistung, gar nicht einführen, sondern lediglich mit einem vom | |
Land Berlin finanzierten Modellversuch mit 3.500 Teilnehmer*innen | |
testen, welche Auswirkungen diese sozialpolitische Revolution hätte. | |
Dennoch droht das Projekt zu scheitern. Bislang haben sie rund 65.000 | |
Unterschriften zusammen, berichtet Laura Brämswig, eine Mitbegründerin der | |
Initiative. Das liegt weit hinter ihrem Plan zurück. „Wir müssen jetzt | |
richtig zulegen.“ | |
Grund dafür sei nicht die mangelnde Unterstützung der Berliner*innen | |
für die Idee, ist Brämswig überzeugt. „Sehr viele Menschen verstehen das | |
Konzept des Grundeinkommens, sehr viele Menschen unterstützen es auch und | |
würden unterschreiben.“ Allerdings hätten sie in den bisherigen knapp zehn | |
Wochen der Sammlung noch niemanden getroffen, bei dem sie unterschreiben | |
könnten. „Wir brauchen mehr Menschen, die für uns sammeln“, betont | |
Brämswig. | |
Viele Aktivist*innen seien – verständlich nach zwei Jahren Pandemie – | |
derzeit im Urlaub. „Dazu kommt, dass wir auch viele Ausfälle durch Corona | |
haben.“ Und gerade die, die von einem Grundeinkommen am meisten | |
profitierten würden, hätten aus ökonomischen Gründen kaum Zeit, sich zu | |
engagieren. Deswegen habe man sich vor zwei Wochen auch entschieden, | |
Sammler*innen eine Aufwandsentschädigung von 30 Euro je Halbtageseinsatz | |
zu zahlen. | |
## 30 Unterschriften pro Stunde | |
Alexandre Pierre ist schon seit Anfang Juni für die Initiative auf der | |
Straße. Er gehört zu den besonders erfolgreichen Aktivist*innen: 30 | |
Unterschriften pro Stunde seien ein guter Schnitt, berichtet er, manchmal | |
seien es auch mehr; rund 5.000 habe er bereits zusammen getragen. Und | |
Pierre, eigentlich Schauspieler von Beruf, der sich seit fünf Jahren mit | |
dem Konzept des Grundeinkommens beschäftigt hat, zieht am liebsten alleine | |
los. So auch an diesem Dienstagabend vom Südstern in Kreuzberg. | |
Tatsächlich braucht es meist nicht viel, um Passant*innen und Gäste in | |
den vielen Kneipen und Restaurants im Kiez von dem Anliegen zu überzeugen. | |
Klar winken manche gleich ab; aber mehr noch unterschreiben. „Das | |
Grundeinkommen wird kommen, schlicht, weil es notwendig ist, schließlich | |
geht die Schere bei den Einkommen immer weiter auf. Mit Kommunismus hat das | |
nichts zu tun“, sagt eine 78-Jährige, die auch ihren Mann zur Unterschrift | |
überredet. „Aber erleben werde ich das nicht mehr.“ | |
Ein paar Häuser weiter sitzen drei Freundinnen vor einem Café, zwei von | |
ihnen unterschreiben. „Ich habe viele Bekannte aus dem Kulturbereich. Die | |
haben echt super kreative, unkonventionelle Ideen, aber kein großes | |
Einkommen. Denen würde ich das Grundeinkommen gönnen, nicht zuletzt, | |
nachdem sie in der Coronazeit existenzielle Ängste ausstehen mussten“, sagt | |
eine. Auch hier zeigt sich: Die Menschen kennen sich mit dem Thema aus. | |
In der Theorie soll ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglichen, Alltag | |
und Erwerbsarbeit besser zu vereinbaren. Vor allem soll es die finanzielle | |
Grundlage dafür schaffen, sich kreativ und für die Allgemeinheit zu | |
engagieren. Wie hoch das Grundeinkommen dafür sein müsste, ist auch unter | |
Expert*innen umstritten. Im von der Initiative geforderten Modellprojekt | |
soll es mehrere unterschiedlich ausgestattete Versuchsgruppen geben, um am | |
Ende vergleichen zu können, welches Modell wie funktioniert. | |
## 70 Millionen Euro Kosten für das Land | |
Weniger als 1.200 Euro monatlich werden es aber nicht sein, hatte Laura | |
Brämswig beim Start der Unterschriftenkampagne betont: das sei derzeit die | |
Untergrenze, damit die Existenz und die Teilhabe am gesellschaftlichen | |
Leben gesichert seien. Fest steht auch, dass die Kosten des Versuchs für | |
das Land 70 Millionen Euro nicht überschreiten werden. | |
Ein 17-Jähriger quatscht Alexandre Pierre an; er kenne das Grundeinkommen | |
aus der Schule, dort hätten sie sich damit beschäftigt. Aber überzeugt von | |
der Idee sei er nicht und würde deshalb auch nicht unterschreiben. Zudem | |
würde seine Unterschrift auch nicht zählen: Genau wie bei Wahlen zum | |
Abgeordnetenhaus gilt, dass man mindestens 18 Jahre alt und deutscher | |
Staatsbürger sein muss. | |
Bei einigen bisherigen Volksbegehren haben Initiativen bewusst auch | |
Berliner*innen ohne deutschen Pass unterschreiben lassen, um zu zeigen, | |
wie groß diese von der politischen Mitwirkung ausgeschlossene Gruppe ist. | |
Alexandre Pierre macht das nicht. „Ich muss dann die diskriminierende | |
Politik des Landes verteidigen“, sagt er säuerlich. | |
Doch insgesamt ist auch dieser Sammelabend für ihn ein Erfolg. In drei | |
Stunden hat er 94 Unterschriften für das Grundeinkommen gesammelt und | |
parallel noch 25 für den Volksentscheid Klimaneustart Berlin, die mit einem | |
Volksentscheid ein klimaneutrales Berlin bis 2030 durchsetzen wollen und | |
Mitte Juli mit der Unterschriftensammlung begonnen haben. Beide Gruppen | |
kooperieren schon länger und unterstützen sich gegenseitig. | |
Ob das hilft, dass die Initiative Expedition Grundeinkommen die notwendigen | |
175.000 Unterschriften zusammen bekommt? Bei früheren Volksbegehren kamen | |
gerade in den letzten Wochen und Tagen noch zahlreiche berlinweit | |
ausgelegte Listen zurück und brachten überraschend viele unerwartete | |
Stimmen. „Wir hoffen auf ein Augustwunder“, sagt Laura Brämswig. | |
28 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Bert Schulz | |
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