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# taz.de -- taz-Sommerserie Nah am Wasser: Bewegte Geschichte
> Die Rummelsburger Bucht war Fischerdorf, Industriestandort und Oase für
> alternative Lebensformen. Heute stehen hier Townhouses und Lofts.
Bild: Die Rummelsburger Bucht in Berlin-Lichtenberg hat viele Veränderungen du…
Berlin taz | Von maritimer Idylle ist am Westende der Rummelsburger Bucht
nicht mehr viel zu spüren. Die Baustellen der Wohnkomplexe sind
unübersehbar, die am Ufer des Stadtgewässers in größter Eile hochgezogen
werden.
Ein Bagger reißt die letzten Überbleibsel einer Baracke nieder, die vor
Kurzem noch der beliebte Techno-Club „Rummelsbucht“ war. Nur die aus
Sperrholz gezimmerte Eingangstür steht noch. Auf dem Grundstück nebenan
wird bald mit dem Bau des umstrittenen Aquariums [1][„Coral World“]
begonnen.
Ein paar hundert Meter weiter, vorbei an bereits fertigen grell-weißen
Eigentumswohnungen, ist es dann doch noch da, das alternative Berlin. Wie
ein kleines Dorf wirken die Boote und selbstgebauten Floße, die ruhig
inmitten des Sees ankern. Die Spreebucht im Osten Berlins ist längst
[2][Zentrum für eine lebendige Alternativkultur] – Kulturflöße, Hausboote
und Aussteiger:innen finden hier ihren Heimathafen.
An der Rummelsburger Bucht hat sich die wechselhafte Geschichte der Stadt
eingeschrieben wie an kaum einem anderen Ort Berlins. Der Konflikt zwischen
Alternativkultur und Gentrifizierung ist dabei nur das jüngste Beispiel.
## Naherholungsgebiet und Industriestandort
Zunächst war es der Fischreichtum der Spree, der die Menschen bewog, in der
Region zu siedeln. So ist die Halbinsel Stralau – sie bildet die Südseite
der Bucht – eines der ältesten Siedlungsgebiete Berlins. Anfang des 19.
Jahrhunderts befand sich auf der Halbinsel ein beschauliches Fischerdorf
gleichen Namens.
Direkt vor den Toren des historischen Berlins gelegen, lockte die Bucht
später weniger mit Fischen als mit klarem Wasser und einer frischen Brise
sauberer Luft. Im Zuge der Industrialisierung strömte die Bevölkerung vom
Land in die preußische Hauptstadt. Allein zwischen 1825 und 1905
verzehnfachte sich die Bevölkerungszahl von knapp 200.000
Einwohner:innen auf zwei Millionen.
Die Infrastruktur konnte mit dieser Bevölkerungsexplosion kaum Schritt
halten. In den Straßen stank es erbärmlich; Infektionskrankheiten wie
Typhus und Cholera grassierten. [3][Arbeiter:innen hausten in
hoffnungslos überbelegten Mietskasernen]. Mit 300 Bewohner*innen pro
Hektar war die Bevölkerungsdichte etwa dreimal so hoch wie heute.
Die Luft der Rummelsburger See hingegen galt als heilsam. Im Jahr 1837
verbrachte der junge Student Karl Marx auf Anraten seines Arztes ein halbes
Jahr in Stralau, um seine Bronchitis zu kurieren. Als beliebtes
Ausflugsziel war das Gewässer auch häufig Kulisse in literarischen Werken
seiner Zeit. So bringt ein Beinahe-Bootsunfall die beiden Hauptfiguren in
Theodor Fontanes Roman „Irrungen, Wirrungen“ zusammen.
Ausgehend von einer alten Fischer:innentradition, das Ende der Schonzeit
mit einem Festzug durchs Dorf zu feiern, entwickelte sich am Rummelsburger
See eine der wenigen Volksfeste Berlins – der Stralauer Fischzug. Das Fest
bot der rasch wachsenden Arbeiter:innenklasse eine willkommene
Abwechslung zum zermürbenden Alltag in den Fabriken und lockte jedes Jahr
Zehntausende auf die Halbinsel.
Zeitgenössische Kommentatoren beschreiben das Fest als Massenbesäufnis, bei
dem es regelmäßig zu Schlägereien und Ausschreitungen kam. Wegen der
ungehemmten Ausschweifungen wurde das Volksfest 1873 verboten.
Ohnehin entwickelte sich die Bucht ab der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts immer mehr zum Industriestandort. Die Wassernähe ermöglichte
den einfachen Transport von Rohstoffen und Produkten zu den Fabriken. „Die
Rummelsburger Bucht vereinte den Zugang zu allen drei Verkehrswegen:
Straße, Wasser und [4][der Eisenbahn]“, weiß Dr. Uwe Nübel. Der
Heimatforscher beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit der Geschichte der
Stralauer Halbinsel.
## Olympia-Bewerbung und Gentrifizierung
Deutschlands Aufstieg zur einer der führenden Industriemächte um die
Jahrhundertwende schlug sich auch in der Rummelsburger Bucht nieder. Heute
noch weltweit tätige Unternehmen wie der Zugbremsen-Pionier Knorr oder das
Chemie- und Fototechnikunternehmen Agfa gründeten ihre ersten Werke an
diesen Ufern.
Ab 1933 zeigten sich hier die [5][Verflechtungen der Industrie mit der
Nazi-Herrschaft]. Jüdische Betriebe wie die Engelhardt-Brauerei wurden
zwangsweise arisiert. Andere setzten bereitwillig Zwangsarbeiter:innen
ein, die auch auf der Stralauer Halbinsel untergebracht waren. Gegen Ende
des Krieges wurde das Gebiet stark zerstört.
Mit der Gründung der DDR wurden alle verbliebenen Betriebe verstaatlicht.
Wohngebäude wurden jedoch nicht wieder aufgebaut. „Aufgrund der Grenznähe
wurde in Stralau gar kein neuer Wohnungsbau betrieben“, erklärt Nübel.
Wohngebäude, die den Krieg überstanden hatten, wurden weitestgehend dem
Verfall überlassen.
Die verwaist-industrielle Kulisse, die diese Landschaft bot, wurde im 1973
gedrehten Defa-Klassiker „Die Legende von Paul und Paula“ verewigt. In der
[6][ikonischen Liebesszene] treiben die beiden Protagonist:innen auf
einem Flusskahn auf dem Rummelsburger See – im Hintergrund Smog-grauer
Himmel, Schornsteine und Industrieruinen.
So vielfältig wie die ansässigen Industriebetriebe waren auch die
Schadstoffe in den Abwässern, die über 150 Jahre lang überwiegend
ungefiltert in die Rummelsburger See geleitet wurden. Eine 2017
veröffentlichte [7][Studie der Freien Universität] stellte eine hohe
Konzentration einer Vielzahl von Schadstoffen im Boden des Gewässers fest.
Lange war unklar, ob die Belastung auch für Menschen schädlich ist, die
sich im oder am Wasser aufhalten. Das Wasserstraßenamt warnte 2017 vor
einem längeren Aufenthalt, der Senat gab im August 2019 nach einer weiteren
Untersuchung offiziell Entwarnung.
Derweil versucht die Stadt das Gewässer zu entgiften. Die ursprüngliche
Hoffnung, die giftigen Sedimente würden sich im Laufe der Zeit von selbst
durch neue natürliche Ablagerungen versiegeln, erfüllte sich nicht.
Stattdessen soll nun der belastete Schlamm aufwändig abgepumpt und der
Boden anschließend mit einer Tonschicht versiegelt werden.
Bereits infolge der Wiedervereinigung machte ein Großteil der Betriebe
dicht. Auch an der Rummelsburger Bucht war die Wiedervereinigung geprägt
von einer massiven Deindustrialisierung und einem Ausverkauf der einst
staatlichen Flächen. Doch zunächst herrschte eine euphorische
Nachwende-Stimmung, die sich 1991 in der Bewerbung für die Olympischen
Spiele 2000 zeigte.
Das olympische Dorf sollte am Ufer der Rummelsburger Bucht gebaut werden.
Doch die Bewerbung [8][scheiterte im Dezember 1993 krachend]. Der Senat
ließ sich dadurch nicht entmutigen und wies das Gebiet ein Jahr später als
städtebaulichen Entwicklungsbereich aus. Hier sollten Wohnungen und
Gewerbeflächen für die bald boomende Metropole entstehen.
Mitte der 90er Jahre blieben erwarteter Zuzug und wirtschaftliches Wachstum
aus. Angesichts knapper Kassen wurden die Pläne für einen geförderten
Wohnungsbau zugunsten von frei finanzierten Eigentumswohnungen aufgegeben.
Statt dichter Wohnbebauung errichteten sie schicke Townhouses und Lofts,
die heute das Stadtbild an der Rummelsburger See dominieren
## Seeoberfläche als letzter Rückzugsort
Dieses Dogma des neoliberalen Ausverkaufs wirkt bis heute fort, obwohl
städtische Grundstücke und Wohnraum längst knapp und die Kassen gut gefüllt
sind. Noch 2016 verkaufte der Senat die letzten Grundstücke am Westende der
Bucht an private Investor:innen. Auf diesem Gelände entstand ab 2018 eines
der größten Obdachlosencamps Deutschlands. [9][Vergeblich versuchte eine
Bürger:inneninitiative] die Bebauung mit dem Aquarium Coral World,
weiteren Büros und Eigentumswohnungen zu verhindern. Das Camp ließ der
Bezirk im Winter 2021 räumen.
Gleichzeitig machten der massive Anstieg der Mieten und [10][der zunehmende
Verlust von Freiräumen] ab den 2010er Jahren die Wasseroberfläche selbst
als Wohnraum und Kulturort attraktiv. Im Gegensatz zu den teuren
Stellplätzen ist es möglich, unbegrenzt lange kostenlos auf der
Rummelsburger Bucht zu ankern. Es braucht lediglich ein Beiboot, um vom
Ufer auf das Boot oder Floß zu gelangen. Zusammengebunden bilden die Boote
[11][kleine schwimmende Dörfer].
Streit gibt es auch immer wieder mit den Ufer-Bewohner:innen in den
Townhouses, die über Lärm und Müllbelästigungen klagen, der vermeintlich
von den Bootsbewohner:innen verursacht wird.
Bereits 2019 verhängte der Bezirk ein Anlegeverbot an den Ufern. Ein
Ankerverbot blieb trotz aller Bemühungen bisher erfolglos, da eine solche
Regelung unter die Zuständigkeit des Bundes fallen würde.
Mit der Bebauung der letzten Brachen und der Seesanierung scheint die
Geschichte der Rummelsburger Bucht ihr vorläufiges Ende gefunden zu haben.
Doch der Blick in die Vergangenheit zeigt: Stillstand auf lange Sicht ist
an diesem Gewässer kaum vorstellbar.
17 Aug 2022
## LINKS
[1] /Coral-World-an-der-Rummelsburger-Bucht/!5850725
[2] /Drohendes-Ankerverbot-in-Berlin/!5785756
[3] /Historiker-ueber-Mietenkrawalle-1872/!5865893
[4] /150-Jahre-Berliner-Ringbahn/!5781286
[5] /IG-Farben-Hand-in-Hand-mit-den-Nazis/!1692134/
[6] https://youtu.be/fsEp3yMdYS8?t=68
[7] https://www.berlin.de/sen/uvk/umwelt/wasser-und-geologie/oberflaechengewaes…
[8] /Der-Verlierer-ist-Berlin/!1324054/
[9] /Coral-World-soll-nach-Rummelsburg/!5588826
[10] /Queere-Bauwagensiedlung-in-Berlin/!5745170
[11] /Informelle-Siedlungen-in-der-Stadt/!5333791
## AUTOREN
Jonas Wahmkow
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