# taz.de -- 150 Jahre Berliner Ringbahn: S 42, zurückblicken, bitte! | |
> Die Berliner Ringbahn feiert am 17. Juli Geburtstag: Heutzutage eine | |
> Selbstverständlichkeit, war sie damals ein visionäres Verkehrsprojekt. | |
Bild: Blick auf die historische Ringbahn um die Jahrhundertwende | |
BERLIN taz | Nein, mit dem Deutschen Reich hat sie nichts zu tun, zumindest | |
nicht direkt. Zwar wurde das erste Teilstück der Berliner Ringbahn am 17. | |
Juli 1871, also vor genau 150 Jahren, eingeweiht. Die Proklamation des | |
Kaiserreichs lag da aber erst ein halbes Jahr zurück, zu wenig, um so ein | |
Riesenprojekt schnell stemmen zu können. Die Geburtsstunde der Ringbahn war | |
fünf Jahre eher. Nach dem preußischen Sieg über Österreich 1866 war genug | |
Geld in die Kassen geflossen, um die Zukunftsaufgabe finanzieren zu können: | |
einen Bahnring mitten um die damalige preußische Metropole herum. | |
Heute fragt man sich, woher diese Weitsicht? 1838 erst verkehrte der erste | |
Zug in Berlin – auf der Stammbahn zwischen Potsdam und Berlin. Peu à peu | |
entwickelte sich dann das Schienennetz, aber eine Ringbahn? Warum das | |
östliche Friedrichshain mit Prenzlauer Berg verbinden, die beide erst seit | |
1860 eingemeindet waren? Und warum die beiden mit Charlottenburg, das noch | |
gar nicht zu Berlin gehörte? Lange, bevor [1][Groß-Berlin 1920] gegründet | |
wurde, hatte die Ringbahn schon ein Zeichen gesetzt. | |
Denn Berlin entwickelte sich rasant, die Industrialisierung hatte die Stadt | |
in eine Wachstumseuphorie versetzt, die industrielle Reservearmee strömte | |
aus allen Provinzen in die Metropole. Damit Berlin nicht im Chaos versank, | |
brauchte es einen funktionierenden Nahverkehr. Und der schloss auch einen | |
Eisenbahnring um das Zentrum mit ein. Nach der Öffnung für den Güterverkehr | |
1871 wurde die östliche Ringbahn zwischen Moabit und Schöneberg am 1. | |
Januar 1872 für den Personenverkehr geöffnet. 1877 wurde der Ring dann | |
geschlossen. | |
Schon 1895 verkehrten ab Bahnhof Westend 53 Züge, ab Stralau (nahe | |
Ostkreuz) 49 Züge, und auf dem Südring legten 73 Züge die komplette Runde | |
ab dem Potsdamer Ringbahnhof zurück. Die Stadtbahn zwischen Westkreuz und | |
Ostkreuz wurde übrigens erst nach der Ringbahn im Jahr 1882 fertiggestellt. | |
Spätestens seit dieser Zeit war die Ringbahn auch legendär geworden. | |
Liebespaare zogen sich in sie zurück, um stundenlang händchenhaltend um die | |
Stadt zu fahren. Die Ringbahn wurde zu einem Symbol der schnellen Stadt und | |
der Mobilität in einer europäischen Metropole. | |
Nach den Jahren der Teilung ist sie das heute wieder. Seit 2002 ist der | |
S-Bahn-Ring wieder geschlossen, nur dass er heute mitten durch die Stadt | |
führt und nicht einmal um die Stadt herum. Schon wird in Planungen die | |
Frage laut, ob die wachsende Stadt nicht, wie vor 150 Jahren, weit nach | |
vorne blicken und einen neuen Eisenbahnring um Berlin bauen müsse. Wenn es | |
heute, wie damals, kein Auto gäbe, wäre die Entscheidung längst gefallen. | |
Uwe Rada | |
Wie sehr die Ringbahn die Berliner*innen im Alltag begleiten würde, das | |
war zur Zeit des Baubeginns vor 150 Jahren noch nicht abzusehen. Heute ist | |
sie vieles: Grenze um die Innenstadt, Ort für Parties, Schulweg- und | |
manchmal ist sie einfach anstrengend. Unsere Autor:innen sagen der | |
Ringbahn zum Geburtstag herzlichen Glückwunsch. | |
## Die imaginäre Grenze | |
Immer, wenn der Besuch aus Westdeutschland kam, habe ich ihn durch die | |
Berliner Straßenschluchten geführt, erst in Neukölln, später dann in | |
Prenzlauer Berg. Die Gründerzeitquartiere waren etwas, das keine andere | |
Stadt hatte. Man konnte aufschauen auf die Mietskasernen und weit blicken | |
in die Straßen hinein, das war mein Berlin. Etwas unwohl war mir deshalb | |
schon, als ich 2007 nach fast 25 Jahren die Innenstadt verließ und über | |
eine imaginäre Grenze zog. | |
Von Prenzlauer Berg ging es nach Pankow, das war zwar noch der gleiche | |
Bezirk, lag aber außerhalb des S-Bahn-Rings. Das klang nach Vorstadt oder | |
sogar nach Rand-Berlin. Ich gehörte nicht mehr dazu, es fühlte sich an wie | |
eine Rückkehr in die Provinz. Heute weiß ich Pankow zu schätzen, die | |
imaginäre Grenze aber existiert noch immer. Wer mit dem Auto an der | |
Schönhauser den Graben der Ringbahn überfährt, braucht eine Umweltplakette. | |
Und innerhalb des S-Bahn-Rings müssen mehr Wohnungen an Suchende mit WBS | |
vermietet werden als außerhalb. Innenstadt und Stadtrand, das teilt die | |
Ringbahn bis heute, 150 Jahre nach ihrer Teileröffnung. (wera) | |
## Partyzug | |
Aufgeregt stehen wir an der letzten Tür in der Ringbahn, die gerade am | |
S-Bahnhof Neukölln einfährt. Zwei von uns haben einen kleinen roten Teppich | |
in der Hand, ein anderer den Knopf an der Musikbox, der Rest unserer etwa | |
15-köpfigen Gruppe ist mit Luftschlangen, Sektflaschen und Bechern | |
ausgestattet. | |
Als der Zug zum Stehen kommt, öffnen wir die Tür, der Teppich wird auf den | |
Bahnsteig gerollt – und dann sehen wir schon unseren Freund, den wir heute | |
nach seinem Auslandsjahr in Berlin verabschieden wollen. Ungläubig stößt er | |
zu uns in den Wagen – und unsere Ringbahnparty geht los. | |
„Die letzte Schlacht gewinnen wir“ von Ton Steine Scherben ist der erste | |
Song, der durch das Abteil schallt, und bereits am Tretpower Park fühlt es | |
sich an wie in einem Club. Im gedimmten Licht – das Deckenlicht haben wir | |
mit Tüchern abgehängt – tanzen wir und auch zwei, drei andere Fahrgäste | |
haben sich angeschlossen. Gestört scheint sich niemand zu fühlen an diesem | |
Freitagabend, auch jene, die durch „unsere“ Tür dazusteigen, scheinen eher | |
belustigt denn genervt. Als wir nach einer Stunde Feierei wieder Neukölln | |
erreichen, können wir es kaum glauben, dass niemand unsere Party beendet | |
hat. Wir fahren noch einige Stationen weiter, ehe der Drang, den Sekt auch | |
wieder loszuwerden, das Spektakel beendet. (epe) | |
## Mit dem Ring wachsen | |
Lange bestand die Ringbahn für mich nur aus den Stationen Westkreuz, | |
Halensee, Hohenzollerndamm. Tagein, tagaus waren diese drei Stationen Teil | |
meines Wegs zur Schule. Eine Fahrt, die in ihrer Kürze sogar Freundschaften | |
begründete; wen man aus der Klasse oder Parallelklasse in der Bahn traf, | |
mit der Person quatschte man. Mit dem Alter wuchs im Laufe der Jahre auch | |
die Strecke der Ringbahn, die ich nutzte. | |
Auf den Schulweg folgten die Fahrten zu Clubs wie dem 2015 geschlossenen | |
[2][Stadtbad Wedding] am S-Bahnhhof Wedding oder der Griessmühle am | |
S-Bahnhof Sonnenallee. Fehlte nur noch der Nordosten des Rings, der sich | |
mir durch eine WG nahe „S Prenzlauer Allee“ erschloss. Denn wie man hier | |
auch aufwächst oder eine Weile lebt: Der Ring ist meist nicht weit. (cpm) | |
## Die zersparte Bahn | |
Nach [3][Jahren des Kaputtsparens] ist die S-Bahn notorisch für ihre vielen | |
Ausfälle. Ringbahnfahren ist auch immer ein Glückspiel. Wie oft stand ich | |
am Gleis, ungewiss, ob „Zugverkehr heute unregelmäßig“ nun fünf Minuten | |
oder eine Stunde bedeutet. Noch schlimmer ist der Halt auf freier Strecke. | |
Ich erinnere mich noch gut an die Panik, die mich überkam, als eine S-Bahn | |
an einen 40 Grad heißen Sommertag kurz vorm Südkreuz liegen blieb. In dem | |
unklimatisierten Bahnwagon herrschten saunaartige Temperaturen, eine | |
Mitfahrerin brach zusammen und musste mit Wasser versorgt werden. Doch zum | |
Glück ging es bald weiter – Verspätung bloß eine halbe Stunde. (jowa) | |
17 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
Erik Peter | |
Cristina Plett | |
Jonas Wahmkow | |
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