# taz.de -- Christoph Butterwegge über Sozialstatistik: „Armut wird stark ve… | |
> Die offiziellen Zahlen des statistischen Bundesamts seien geschönt, sagt | |
> der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Von der Politik fordert er | |
> höhere Entlastungen für Arme. | |
Bild: Arm trotz Job: Die Energiekrise wird Geringverdiener besonders hart treff… | |
taz: Herr Butterwegge, das Statistische Bundesamt hat Zahlen zu Armut in | |
Deutschland 2021 veröffentlicht. Wie schätzen Sie diese ein? | |
Christoph Butterwegge: Die [1][Zahlen stellen die Armut] eher verharmlosend | |
dar. So wird nur die relative Einkommensarmut berücksichtigt und nicht die | |
absolute Armut. Besonders finanzschwache Gruppen sind in der Statistik gar | |
nicht enthalten, denn es geht bloß um Armut im Haushaltskontext. Obdachlose | |
oder Menschen, die in Notunterkünften leben, bleiben zum Beispiel außen | |
vor. | |
Anhand der vorliegenden Zahlen sollen 13 Millionen Menschen in Deutschland, | |
also 15,8 Prozent der Bevölkerung, im Jahr 2020 armutsgefährdet gewesen | |
sein, auf die sich die Erhebung bezieht, das heißt 200.000 Menschen weniger | |
als vor der Pandemie. | |
Welche Zahlen werden hier verwendet? | |
Bei den Erstergebnissen von [2][EU-SILC], auf die sich das Bundesamt | |
stützt, liegt der Schwellenwert für die Armutsgefährdung bei 1.251 Euro pro | |
Monat. Da fällt die Armutsgefährdung geringer aus als im Armutsbericht des | |
Paritätischen Gesamtverbandes, der sich auf den Mikrozensus beruft, die | |
größte und seriöseste Sozialstatistik Deutschlands. Dort ist die | |
Armutsrisikoschwelle mit 1.148 Euro monatlich niedriger und die Zahl der | |
Armutsbetroffenen mit 16,6 Prozent der Bevölkerung um 800.000 Personen | |
höher. | |
Welches Problem liegt bei der Berechnung der Armut vor? | |
Mein größter Kritikpunkt ist, dass der Reichtum in Deutschland nicht | |
erhoben wird. Man sieht in den Zahlen nicht die soziale Ungleichheit. | |
Gerade in der Pandemie hat diese sich aber verschärft. | |
Der auf mehreren Ebenen zu beobachtende Polarisierungseffekt wurde von den | |
Finanzhilfen des Staates verstärkt und nicht abgemildert. Die Armut wurde | |
durch [3][kleine Einmalzahlungen] kaum gelindert, aber die großen | |
Unternehmen und ihre Eigentümer sind zum Beispiel durch den | |
[4][Wirtschaftsstabilisierungsfonds] mit einem Volumen von 600 Milliarden | |
Euro sehr großzügig bedacht geworden. Ohne unnötig dramatisieren zu wollen, | |
stelle ich fest: Unsere Gesellschaft fällt stärker auseinander. | |
Wird die soziale Ungleichheit in den Daten des Statistischen Bundesamts | |
sichtbar? | |
Nein, diese Polarisierung wird in doppelter Hinsicht nicht abgebildet. | |
Erstens, weil auf den Reichtum gar nicht erst geguckt wird, und zweitens | |
wird die Armut stark verharmlost. Denn Arme können sich für ihr Geld immer | |
weniger kaufen. Die Inflationsrate lag auf dem Höhepunkt der Pandemie zum | |
Jahreswechsel bei über 5 Prozent. Zum 1. Januar wurde der früher | |
„Regelsatz“ genannte Regelbedarf für Alleinstehende aber nur um weniger als | |
0,7 Prozent erhöht. Auch bei den Kindern und Jugendlichen erreichte die | |
Anpassung nicht einmal 1 Prozent. Gerade die Ärmsten unter den Armen wurden | |
somit noch ärmer gemacht. | |
Welche Menschen sind jetzt besonders stark durch Armut gefährdet? | |
Die relative Einkommensarmut schiebt sich gerade in die untere | |
Mittelschicht vor. Das verschärfen die [5][inflationären Tendenzen], die | |
wir gerade haben. Betroffen sind längst Menschen, die früher aufgrund ihres | |
„normalen“ Lohns oder Gehalts keine Probleme hatten, über die Runden zu | |
kommen. | |
Und jetzt? | |
Die relative Einkommensarmut kann in absolute Armut umschlagen, was sich in | |
Verelendungstendenzen bei Wohnungs- und Obdachlosen, Suchtkranken sowie | |
illegalisierten Migrantinnen und Migranten niederschlägt. Wenn sich die | |
Gaspreise verdoppeln oder verdreifachen, können Familien aus der | |
Mittelschicht in arge Bedrängnis geraten. Die Entlastungspakete der | |
Bundesregierung weisen genauso wie die Finanzhilfen in der Pandemie eine | |
verteilungspolitische Schieflage auf. | |
Ihre Forderung an die Politik? | |
Es müssen die Regelbedarfe erhöht werden. Das gilt für die Grundsicherung | |
im Alter, das Arbeitslosengeld II und auch die Asylbewerberleistungen. Die | |
Preise steigen immer weiter, doch die Regelbedarfe bleiben zurück. | |
Als zweites fordere ich, dass die Stromkosten aus dem Regelbedarf | |
herausgenommen werden. Zurzeit sind 38 Euro der 449 Euro für [6][Strom] | |
vorgesehen, doch das reicht nicht. Die Stromkosten müssen den Miet- und | |
Heizkosten zugeschlagen werden. Drittens sollten Strom- und Gassperren | |
gesetzlich verboten werden. Im schlimmsten Fall müssen kälteempfindliche | |
Rentner und Rentnerinnen frieren und Kinder im Dunkeln ihre Schularbeiten | |
machen. | |
Viertens muss es auf Räumungsklagen und Zwangsräumen zumindest ein | |
Moratorium geben. Solange die Inflationsrate und die Energiekosten steigen, | |
darf niemand aus der Wohnung geklagt werden. Der Staat muss dem | |
Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gerecht werden und nicht nach dem | |
neoliberalen Leistungsprinzip die Reichen noch mehr begünstigen. | |
4 Aug 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebe… | |
[2] https://ec.europa.eu/eurostat/web/microdata/european-union-statistics-on-in… | |
[3] /Entlastungen-fuer-Buerger/!5867154 | |
[4] /Paket-fuer-Wirtschaft-in-Corona-Krise/!5670554 | |
[5] /Staat-daempft-Preisanstieg/!5868150 | |
[6] /Geplantes-Buergergeld/!5865726 | |
## AUTOREN | |
Anne-Frieda Müller | |
Christoph Butterwegge | |
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