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# taz.de -- Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern: Entlastung in weiter Ferne
> Neun Monate nach dem Klinikstreik sind die Probleme bei Vivantes immer
> noch da. Besonders in den Tochterunternehmen gibt es Missstände.
Bild: Immer weiter müssen die Beschäftigen kämpfen
Berlin taz | „Wir müssen immer weiter kämpfen“, sagt Silvia Habekost und
seufzt. Dabei sollte die Pflegerin am Vivantes-Klinikum Friedrichshain
eigentlich glücklich sein. Etwa neun Monate ist es nun her, dass der Streik
der Berliner Krankenhausbewegung, deren Teil Habekost ist, erfolgreich war.
Sieben lange Wochen hatten die Klinikbeschäftigten der kommunalen
Krankenhäuser Charité und Vivantes weite Teile des Berliner Klinikbetriebs
lahmgelegt. Im Gesundheitssektor länger gestreikt haben nur die
[1][Pfleger:innen aus Nordrhein-Westfalen], die zuletzt 11 Wochen ihre
Arbeit niederlegten.
Von ihren Berliner Kolleg:innen können die NRWler:innen lernen, dass
mit dem Streikerfolg der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen noch lange
nicht vorbei ist. Obwohl die Situation wohl besser ist als vor dem Streik,
hakt insbesondere bei Vivantes die Umsetzung der erkämpften Tarifverträge.
„[2][Vivantes] nutzt jede Lücke im Vertrag aus“, sagt Habekost. Tagtäglich
müssten Arbeiter:innen für Sachen streiten, die sie eigentlich längst
erkämpft haben. „Es ist zum Kotzen“, so Habekosts Urteil.
Für die Pfleger:innen hatte die Krankenhausbewegung einen Tarifvertrag
Entlastung (TV-E) gefordert, durch den Schichten in Unterbesetzung mit
Freischichten ausgeglichen werden können. So sollten die Kliniken unter
Druck gesetzt werden, mehr Personal einzustellen. In den
Tochtergesellschaften, die Vivantes gegründet hatte, um Löhne drücken zu
können, lautete die Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Das
Zweiklassensystem, in dem Beschäftigte, die noch Altverträge aus der Zeit
vor der Auslagerung besaßen, teils Hunderte Euro mehr verdienten, sollte
abgeschafft werden.
In Kraft getreten ist der TV-E bereits Anfang Januar. Doch das vereinbarte
Entlastungssystem gilt erst ab Juli – und auch jetzt ist es in einigen
Stationen noch nicht in Kraft. Diese Verzögerung rechtfertigt
Vivantes-Sprecher Christoph Lang gegenüber der taz damit, dass zunächst
eine Software entwickelt werden musste, die die Arbeitsbelastung der
Pfleger:innen minutengenau erfasst. Das sei „fairer und genauer“, sagt
Lang, auch Verdi habe dem zugestimmt.
## Viele kleine Einschnitte
Doch vor der Einigungsstelle, wo Arbeitgeber und Betriebsrat die Details
eines neuen Tarifs aushandeln, hat der Betriebsrat diesem System die
Zustimmung verweigert. Vivantes habe in die abschließende Vereinbarung eine
Reihe von Details eingebaut, die den TV-E unterlaufen, erzählt Habekost.
Der TV-E gelte jetzt trotzdem so, wie Vivantes das wolle. Der Vorsitzende
der Einigungsstelle habe den Betriebsrat überstimmt und so einen
Verhandlungsabschluss erzwungen.
Habekost zählt eine ganze Reihe von Beschwerden auf: Zum Beispiel würden im
minutengenauen System Schichtübergaben aus der erfassten
Unterbesetzungszeit rausfallen, weil ja während der Übergaben genug
Personal vorhanden ist – obwohl es sich nicht um Patient:innen kümmern
kann. Stationsleitungen müssten explizit vermerken, dass sie keine Pflege
am Bett machen – tun sie das nicht, würde ihre Schicht zur
Personalbemessung dazuzählen.
Von ausnahmsweise ausreichend besetzten Stationen würde Personal abgezogen,
um woanders eine Unterbesetzung (und damit Freischichten) zu vermeiden. Wer
an einem freien Tag einspringt, sollte einen deutlichen Lohnaufschlag
erhalten – doch plötzlich gelte dies nur noch für Pfleger:innen, nicht aber
etwa für Röntgenassistent:innen. Eigentlich sollten alle
Auszubildenden Laptops erhalten, doch die gebe es jetzt nur für neue
Azubis, während die anderen leer ausgehen.
Habekost sagt, sie habe gehofft, die Klinikleitung hätte erkannt, wie
schlimm es um die Pfleger:innen steht – und dass sie deshalb den Vertrag
mit gutem Willen umsetzt. Stattdessen gebe es einen „eklatanten
Widerspruch“ zwischen dem, wie sich Vivantes nach außen gibt, und dem
internen Verhalten.
## Gruselige Tochterunternehmen
Tatsächlich wirbt Vivantes seit Februar explizit mit dem TV-E. Auf Plakaten
und in Social-Media-Posts werden „Pflegeheld*innen“ gesucht. „Garantiert
statt gut gemeint“ ist dort zu lesen. Die Kampagne sei auf „großes
Interesse“ gestoßen, so Vivantes-Sprecher Lang; seit Abschluss des TV-E
zeichne sich ein „deutlich höherer Stellenzuwachs“ ab. Das Argument der
Gewerkschaft, dass bessere Arbeitsbedingungen zu mehr Personal führen,
bewahrheitet sich.
Damit diese Entwicklung nachhaltig ist, müssen die Versprechen aber auch
gehalten werden. Noch düsterer als beim Mutterkonzern sehe es da bei den
Vivantes-Töchtern aus, erzählt Gewerkschaftssekretär Ben Brusniak der taz.
Momentan liefen Nachverhandlungen, weil sich Verdi und Vivantes uneinig
darüber seien, welches Tarifwerk als Vergleichswert für die Angleichung
aller Löhne an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TvöD)
herangezogen wird.
Auch Vivantes-Sprecher Lang schreibt von „komplizierten
Detailverhandlungen“. Es sei aber „nicht ungewöhnlich“, dass sich ein
solcher Prozess über „viele Monate“ hinstrecke. Sukzessive würden alle
Löhne an den TvöD angeglichen.
## Erfolgreicher Arbeitskampf?
„Der Plan von Vivantes ist offenbar, die Belegschaft zu spalten“, heißt es
dagegen von Verdi-Sekretär Brusniak. Der Klinikkonzern habe ein Angebot
unterbreitet, das etwa 800 der insgesamt 2.100 Beschäftigten der
Tochterunternehmen in bessere Lohngruppen einordnen würde. Diese
Besserstellung gelte aber nur für jetzige Beschäftigte, neue Mitarbeitende
würden dann erneut schlechter bezahlt als ihre Kolleg:innen. „Von ‚gleicher
Lohn für gleiche Arbeit‘ kann keine Rede sein!“, kritisiert Brusniak.
Die Position von Verdi ist klar: „Verbesserungen müssen für alle gelten.“
Es ist dennoch nicht ausgeschlossen, dass die Tarifkommission am 2. August
dem Vivantes-Vorschlag zustimmt. Nach den monatelangen Verhandlungen sind
viele Beschäftigte frustriert und enttäuscht – auch von der Gewerkschaft.
Für viele ist die Situation nicht mehr nachvollziehbar. Auch die
Gewerkschaft habe Fehler gemacht, räumt Habekost ein. Neben den Lücken im
Tarifvertrag hätte klarer kommuniziert werden müssen, dass sich nicht
„alles von heute auf morgen verändern“ würde.
Ein Erfolg sei der Arbeitskampf aber trotzdem gewesen. „Wir haben
durchgesetzt, was sie nicht wollten. Das ist bahnbrechend“, so Habekost.
Der Kampf für ein entökonomisiertes Gesundheitssystem sei eben lang. „Aber
wir machen halt einfach weiter.“
26 Jul 2022
## LINKS
[1] /Pfleger-ueber-Tarifvertrag-Entlastung/!5869581
[2] /Vivantes-Mitarbeiterinnen-am-Limit/!5814014
## AUTOREN
Timm Kühn
## TAGS
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