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# taz.de -- Vietnamesische Azubis in Berlin: In der Schuldenfalle
> In Berlin machen rund 1.600 Vietnamesen eine Ausbildung – meist für Jobs
> im Niedriglohnsektor. Viele rutschen unmittelbar in
> Ausbeutungsverhältnisse.
Bild: Ausbildungserfolg nicht garantiert: Viele Azubis aus Vietnam lernen in Be…
Berlin taz | Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen: Die Aussage
des Schriftstellers Max Frisch bezog sich 1965 auf die Anwerbung von
sogenannten Gastarbeitern. Sie gilt auch heute noch.
Die Berliner Wirtschaft hat ein riesiges Fachkräfteproblem. Schon aktuell
fehlen 9.000 qualifizierte Arbeitskräfte, wobei die Zahl aufgrund der
demografischen Situation in den kommenden Jahren noch sehr viel stärker
ansteigen dürfte. Besonders betroffen sind dabei die Bereiche
Gesundheitswesen und Pflege, Gastronomie, Handwerk und IT.
Einer der Wege, um die Lücke zu schließen, ist es, Auszubildende aus dem
Ausland anzuwerben. Aber wie geht es diesen? Mit welchen Erwartungen kommen
sie eigentlich nach Berlin? Und passen die, die kommen, überhaupt in die
Lücken, die in Berlin zu schließen sind?
Bei der [1][durchaus großen Gruppe der angeworbenen Auszubildenden aus
Vietnam] klafft zunächst erst einmal eine andere Lücke, und zwar die
zwischen ihren eigenen Voraussetzungen und Lebensplänen und den Vorgaben
der Wirtschaft. Ein Problem, das inzwischen auch die Politik erkannt hat.
## Studie des Senats in Arbeit
So läuft aktuell dann auch eine sozialwissenschaftliche Untersuchung im
Auftrag von Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) zur
Ausbildungssituation und den Lebens- und Wohnumständen vietnamesischer
Auszubildender in Berlin. Die Studie soll noch in diesem Jahr abgeschlossen
werden, sagt Kiziltepes Sprecherin Julia Stadtfeld der taz.
Nga Ho* ist eine der aktuell rund 1.600 Berliner Auszubildenden mit
vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Die 23-Jährige lernt den Beruf der
Altenpflegerin. Sie stammt aus der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi, hat
Abitur, spricht fließend Englisch, Chinesisch und respektabel Deutsch, vor
ihrer Ausreise aus Vietnam ein Anglistikstudium begonnen und mehrere
Musikinstrumente erlernt.
Sie sagt, nach Deutschland wollte sie, weil sie lesbisch ist: „Meine
Freundin und ich wollten weit weg von unseren Familien leben und deren
unbequemen Fragen, wann wir endlich zur Vernunft kommen und Männer heiraten
würden, Kinder bekämen.“ Die Partnerin sollte irgendwann auch als
Auszubildende nach Deutschland kommen, so der Plan. Doch mittlerweile rät
Ho ihr davon ab, wie sie der taz berichtet.
Ho ist nur 1,50 Meter groß. Sie sagt, der Beruf der Altenpflegerin gehe
über ihre körperlichen Grenzen hinaus. Die Ausbildung abbrechen? Dann
müsste sie nach Vietnam zurückkehren und bliebe auf ihren Schulden sitzen,
die sie in Vietnam für die Vorbereitung auf ihre Ausbildung in Deutschland
aufnehmen musste.
Ein Dilemma, aus dem Nga Ho keinen Ausweg sieht. Zumal sie mit dem
Berufsbild Altenpflege in Vietnam wenig anfangen könnte, denn dort werden
alte Menschen in der Regel in den Familien gepflegt. Spezielle Berufe in
dieser Richtung gibt es jedenfalls nicht.
## Mangelnde Deutschkenntnisse
Abitur, Deutschkenntnisse, Universität: Mit alldem unterscheidet sich Ho
letztlich sogar in vielem von ihren Landsleuten, [2][die in Berlin eine
Ausbildung machen]. Im Oberstufenzentrum Gastgewerbe etwa, in dem allein
700 von ihnen lernen, hat man die vietnamesischen Auszubildenden längst als
Problemgruppe wahrgenommen.
Rund 90 Prozent von ihnen fehlten bei ihrer Ankunft entsprechende deutsche
Sprachkenntnisse, „die es ihnen erlauben, die Ausbildung erfolgreich zu
absolvieren“, sagt Schulleiter Jürgen Dietrich. Seine Berufsschule gibt
sich Mühe und schaltet für diejenigen mit miesen Deutschkenntnissen ein
Semester vor, das fast ausschließlich dem Spracherwerb dient. Sie bietet
zwar auch darüber hinaus Zusatzunterricht an, der werde aber nicht
angenommen. Wie ist das möglich?
Wer zur Ausbildung nach Deutschland kommen will, der muss, so sieht es der
Bundesgesetzgeber vor, Deutsch auf dem Niveau B1 sprechen. Doch wie die
künftigen Fachkräfte das lernen, bleibt ihnen überlassen.
Um diese Sprachkenntnisse außerhalb des deutschen Sprachraums zu erwerben,
benötigt man fast ein Jahr täglich Unterricht. In Vietnam ist das
eigentlich nur in den großen Städten Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt möglich.
Wer nach Deutschland kommen will, stammt aber – anders als Nga Ho – zumeist
aus den Armutsprovinzen in Zentralvietnam.
## Verschuldung programmiert
Der oder die muss also in einer Großstadt mit hohen Mietpreisen ein Jahr
lang wohnen und Schulgeld bezahlen. So gibt es in Vietnam spezielle
Vermittlungsagenturen, die ein ganzes Paket schnüren: Wohnheim in Hanoi,
Sprachkurs, Flug, Vermittlung eines Ausbildungsplatzes und eines Bettes in
einem Mehrbettzimmer in Deutschland. Dafür fallen Kosten von
durchschnittlich 12.000 Euro an, es wird auch von Fällen berichtet, wo
30.000 Euro gefordert wurden. Zur Einordnung: Das Durchschnittseinkommen in
Vietnam liegt bei 230 Euro pro Monat.
Den Auszubildenden aus prekären Verhältnissen bleibt häufig nur ein Weg, um
die Gebühren zu bezahlen: Sie müssen sich verschulden. Diese Schulden und
die Last, sie zurückzuzahlen, seien letztlich auch der Grund, warum sie
nicht ausreichend Zeit ins Deutschlernen investieren, heißt es aus der
Community.
Hinzu kommt, dass es auch andere Wege gibt, um zu einem Zertifikat B1 zu
kommen. Auch in Vietnam blüht die Korruption, wer es sich leisten kann oder
muss, kann sich das Zeugnis und damit die Eintrittskarte für Deutschland
auch kaufen. Oder es wird einfach jemand anderes zur Prüfung geschickt.
Oder es wird Deutsch gelernt wie hierzulande Latein: stur auswendig und
ohne Sprachpraxis, das Gelernte ist dann nach der Prüfung schnell wieder
vergessen. Vor allem, wenn danach noch Monate bis zur Ausreise nach
Deutschland vergehen.
Klar ist: Die Abhängigkeit von den Vermittlungsagenturen treibt Vietnamesen
in Ausbeutungsverhältnisse. Bei einer Anhörung im zuständigen Fachausschuss
des Abgeordnetenhauses im Mai wurde von Fällen berichtet, wo Betroffene
deutlich mehr Stunden im Ausbildungsbetrieb ableisten mussten als
zugelassen. Die Wohnverhältnisse, hieß es, seien häufig prekär. Für ein
Bett in einem Schlafsaal, oft ohne Tisch zum Lernen, würden mehrere Hundert
Euro fällig.
## Schwunghafter Handel mit Fakeadressen
Da sich die Azubis in den Unterkünften zudem häufig nicht mal anmelden
könnten, fehlt ihnen die Voraussetzung, um etwa ein Bankkonto einrichten zu
können. So blüht ein weiterer Schwarzmarkt mit Meldeadressen mit bis zu 80
Euro pro Fakeadresse. Die CDU-Abgeordnete Katharina Senge forderte deshalb
schon eine Weiße Liste für seriöse Vermittlungsagenturen.
Doch das Problem liegt sehr viel tiefer: Wenn in Deutschland von
Auszubildenden für Berufe im Niedriglohnsektor wie Nga Ho und vielen ihrer
Landsleute verlangt wird, dass sie für alle Kosten vom Sprachkurs bis zum
Flug selbst aufkommen, dann ist die Verschuldung, die Abhängigkeit von den
Geldgebern und manchmal auch von kriminellen Strukturen programmiert. Zum
Ausbildungserfolg führt das dann eher selten.
Vor drei Jahren beschäftigte sich ein interkulturelles Team von
Ethnologinnen der Freien Universität in einer [3][Studie für den Bezirk
Lichtenberg mit den neuen vietnamesischen Migranten]. Die
Wissenschaftlerinnen wiesen schon damals darauf hin, dass das Ziel der
Auszubildenden nicht die berufliche Qualifikation in Deutschland sei,
sondern allein das Geldverdienen. Wenn es mit der Ausbildung nicht klappt,
würden sie andere Wege suchen.
Ähnlich formuliert es Thach Son Nguyen [4][vom Verein Reistrommel]: Die
Auszubildenden seien quasi „Luxusflüchtlinge“. Ihnen blieben die Strapazen
einer Flucht nach Europa erspart, sie bräuchten sich nur in das Flugzeug zu
setzen. In der Tat stammen sie mehrheitlich aus denselben
mittelvietnamesischen Provinzen und aus ähnlichen sozialen Verhältnissen
wie vietnamesische Flüchtlinge. Doch während Deutschland die einen
abschieben lässt, holt es die anderen ins Land.
## Aufenthaltsrecht an Ausbildung gekoppelt
Nur ist auch das Aufenthaltsrecht der Azubis an die Ausbildung gekoppelt.
Beenden sie diese nicht erfolgreich, tauchen sie oft in die Illegalität
unter. Oder sie suchen den Ausweg in einem Kind von einem deutschen Mann
oder Scheinvater, um dennoch bleiben zu können.
Die Studie der FU beschreibt auch eines der großen Probleme von Nga Ho. Die
Auszubildenden würden ohne konkretes Wissen über ihren zukünftigen Beruf
nach Deutschland kommen. Die Pflege nicht verwandter Personen etwa würde
als schamhaft empfunden, körperlich seien die Azubis häufig überfordert.
Aufgrund kultureller Missverständnisse fühlten sie sich überdies nicht
anerkannt, in ihrer Arbeit zu Hilfskräften degradiert.
In den ersten Jahren der Anwerbung von Pflegekräften, so die Studie, wurden
die Vietnamesen vor der Ausreise noch interkulturell geschult. Das Ankommen
in Berlin wurde durch entsprechende Begleitprogramme alteingesessener
Mitarbeiter der Kliniken gerahmt.
Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Schulungen waren schlecht besucht,
das Klinikpersonal hatte zu wenig Kapazitäten, um die neuen Kräfte aus
Vietnam einzuarbeiten. Mit Konsequenzen: Der [5][landeseigene Konzern
Vivantes] – obwohl ursprünglich sehr um die vietnamesischen Arbeitskräfte
bemüht – hat sich inzwischen aus der Anwerbung vietnamesischer Pflegekräfte
zurückgezogen. Es heißt, zu viele Kräfte aus Vietnam hätten die Ausbildung
abgebrochen.
*Name geändert
15 Aug 2025
## LINKS
[1] /Einfuehrung-neuer-Ausweise/!5872491
[2] /Umgang-mit-migrantischen-Fachkraeften/!6085423
[3] https://refubium.fu-berlin.de/handle/fub188/43421
[4] /Kritik-vietnamesischer-Vereine/!5758897
[5] /Aus-Azubis-koennen-streiken/!5788402
## AUTOREN
Marina Mai
## TAGS
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