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# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: Engel der Geschichte
> Aura Rosenbergs Fotografien weisen in den Abgrund der Gegenwart. Auch bei
> Juergen Teller geht es um die Biografie und eine gemeinsame Zukunft.
Bild: Juergen Teller: „We are Bulding our Future Together No. 39, Napoli“ (…
Die Berlinische Galerie wurde von der Filmemacherin Ulrike Ottinger mit
einer großzügigen Schenkung aus ihrem Besitz bedacht: rund 200 Arbeiten
ihrer zentralen Darstellerin, phantastischen Kostümbildnerin und großen
Muse Tabea Blumenschein (1952-2020).
Grund genug für die Leiterin der Grafischen Sammlung, Annelie Lütgens,
jetzt eine Auswahl von rund 40 Zeichnungen zu zeigen, ergänzt durch rund 40
Fotografien von Ulrike Ottinger aus der Zeit ihrer Zusammenarbeit. Viele
davon kennt man als längst ikonisch gewordene Filmstills, etwa aus „Bildnis
einer Trinkerin“. [1][Titel der Schau: „Zusammenspiel“].
Die wandfüllend aufgezogene, 1976 mit dem Selbstauslöser aufgenommene
Fotografie am Anfang der Schau, die Ottinger und Blumenschein vor einer mit
ihren Fotos und Zeichnungen voll gepflasterten Wand zeigt, führt direkt ins
Geschehen.
Ottinger sitzt in einem mächtigen Sessel, während sich Blumenschein, die
daneben steht, in Pose schmeißt. Schauplatz ist das riesige Berliner Zimmer
ihrer Wohnung in der Erdmannstraße 12 in Schöneberg, wo Filme gedreht,
Fotoshootings veranstaltet, Kostüme entworfen und genäht wurden und man bei
großen Essen große Pläne schmiedete.
Nachdem sich 1979 ihre Wege getrennt hatten, arbeitete Blumenschein
zunächst weiter als Kostümbildnerin und mischte bei der Punkavantgarde der
Genialen Dilletanten mit. Als es in den 90er Jahren um den schillernden
Star der West-Berliner Szene ruhiger geworden war – zeitweilig war
Blumenschein in der Obdachlosigkeit gelandet – wurde die Zeichnung ihr
zentrales kreatives Ausdrucksmittel. In den Hunderten stilisierten oder
auch fiktiven Porträts glaubt man tatsächlich auf den Blumenschein ihres
Geburtsnamens zu stoßen, der gewöhnlich für einen Künstlernamen gehalten
wird.
Da ist der sanfte, niemals auftrumpfende Reichtum ihrer Ornamentik und
ihrer Farben und der Überfluss der Totenkopf-, Insekten-, Herz- oder
Fischgrät-Details, mit denen sie ihre genderfluiden Schönheiten schmückt,
die wie ihre Bartfrauen Inbegriff des Queeren sind.
Sieht man dazu die erstmals gezeigten Zeichnungen aus der Zeit ihres
Studiums an der Bodensee-Kunstschule in Konstanz, lässt sich eine frühe
Entscheidung für ihren detailverliebten Kunststil beobachten und für das
lebenslange Identitätsexperiment. Den Verletzungen, der Besessenheit, die
dabei mit im Spiel sind, man denke an die Deutschlandbilder, wäre unbedingt
nachzugehen.
## Benjamins Engel, Rosenbergs Flügel
„Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von
Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die
unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert�…
so beschreibt Walter Benjamin 1940 das „Bild von Paul Klee, das Angelus
Novus heißt“, das er 1921 erworben hatte. Es hat ihn seither begleitet und
inzwischen erkennt Benjamin in ihm den „Engel der Geschichte“.
Wir scheinen derzeit überall, ob in der Coronapandemie, im Krieg in der
Ukraine oder in den Wildfeuern in Portugal, Spanien und Frankreich, diesen
Engel zu sehen, von dem Benjamin sagt: „Er möchte wohl verweilen, die Toten
wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom
Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist,
dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn
unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der
Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“
Wir sehen diesen Engel aber ganz konkret in Aura Rosenbergs Ausstellung bei
RL16. 1991 war die New Yorkerin mit Mann und Tochter erstmals nach Berlin
gekommen. Damals nahm sie sich Walter Benjamins Erinnerungsbuch „Berliner
Kindheit“ als Wegweiser durch die Stadt und in den Abgrund von deren
Geschichte.
Auf ihr fotografisches Langzeitprojekt „Berlin Childhood“ (1996-2001), das
das Ankommen ihrer Familie in Deutschland dokumentierte, aus dem ihre
Eltern 1939 fliehen mussten, folgte der Animationsfilm „The Angel of
History“ (2013). Jetzt nimmt Rosenberg den Faden wieder auf, in sechs
aktuellen Inkjet-Prints der Titelblätter der FAZ und der New York Times von
Februar 2022 („Russland überfallt Ukraine“) bis Mai 2022 („U.S. pushes
allies for Ukraine arms as war escalates“).
Auf allen Titeln ist der Engel zu erkennen, zart, fast durchsichtig schwebt
er über die Titel. Da scheint der Blick zurück in die Berliner Kindheit,
die Aufnahmen der Tochter bei der Schmetterlingsjagd, der Love Parade vor
der Siegessäule (die Rosenberg auch als Souvenir ausstellt) tröstlich,
wüsste man nicht um den Stand der Dinge heute Bescheid.
## Von Hochzeiten, Hunden und nächtlichen Gewässern
[2][Autobiografisch geht es weiter], mit „Auguri“ von Juergen Teller bei
cfa. Er heiratet. Dovile Drizyte. Wer ist sie? Im Netz wird sie mal
Geschäftsfrau genannt, häufiger die kreative Partnerin von Teller. Das ist
in jedem Fall richtig, wie die Serie „We are Building our Future Together“
(2021) zeigt, in der sie beide in Arbeitskleidung Baustellen in Venedig und
Neapel heimsuchen.
Die beiden sind lustige und erfrischende Performer, die am Betonmischer
eine ebenso gute Figur machen wie auf dem Bagger. Und in den Aufnahmen in
nächtlichem Gewässer „We are Bulding our Future Together No. 39, Napoli“
(2021) können sie fast schon mit Anna und Bernhard Blumes Performances
eines [3][ins Rutschen geratenen kleinbürgerlichen Alltags] mithalten.
Unter dem Titel wird Hochzeit gefeiert, es gibt Hotelzimmer,
Hochzeitsstrauß, Hochzeitspaar, Hochzeitsmenü, Hochzeitstafel in einem
schönen Innenhof in der Altstadt von Neapel, Hochzeitsgäste in Aufnahmen
mit allen denkbaren Neonfehlfarben, höchst amüsant. Dazwischen stößt man
aber auch hier und da auf die schönen, riskanten Fotos, die es so nur bei
Teller gibt.
Obwohl sie eigentlich ganz simpel sind, etwa wie bei „Doll and Dog“ (2022)
mit dem erwähnten Dog, einem auf dem Rücken liegenden Hund, der selig
seinen Bauch zeigt. Oder etwas komplizierter bei „Untitled, London“ (2020),
einem Stillleben mit Gemüse, einer Schwarzweißfotografie und einem
hübschen, wohl frisierten weiblichen Geschlechtsteil.
19 Jul 2022
## LINKS
[1] https://berlinischegalerie.de/ausstellung/zusammenspiel-blumenschein-otting…
[2] https://cfa-berlin.de/exhibitions/43798/auguri/works/
[3] /Die-Transzendenz-der-Bilder-Anna--Bernhard-Blume/!5368307/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
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