# taz.de -- Flüssiggas in Litauen: Gas läuft ohne Moskau | |
> Lange war Litauen vollkommen abhängig von Gas aus Russland. Doch ein | |
> schwer bewachtes Schiff im Hafen der Stadt Klaipėda änderte das. | |
Bild: Die „Independence“ ist ein riesiges Gas-Terminal. Sie liegt im Hafen … | |
Wenn man Linas Kilda fragt, wann Litauen unabhängig wurde, nennt er zwei | |
Jahreszahlen. 1991 erlangte die ehemalige Sowjetrepublik gegen harten | |
Widerstand Moskaus ihre Selbstständigkeit. „Wir waren danach zwar politisch | |
unabhängig, aber nicht was die Energie betraf“, sagt Kilda. Der junge Staat | |
hing beim Gas an den Pipelines aus Russland, es gab keine anderen | |
Lieferwege. | |
Der zweite Einschnitt für Kilda ist 2014. Damals nahm die „Independence“ im | |
Ostseehafen Klaipėda ihre Arbeit auf, ein fast 300 Meter langes Schiff, das | |
ein schwimmender Flüssiggasterminal ist. Mit Tankern geliefertes, | |
tiefgekühltes Flüssiggas wird in ihrem Bauch wieder in Gasform verwandelt. | |
Lange gab es Zweifel, ob die Independence überdimensioniert sei. Flüssiggas | |
galt als teuer, der Prozess als zu aufwendig, die Kapazitäten des Terminals | |
waren oft nur zur Hälfte ausgelastet. Seit Russlands Überfall auf die | |
Ukraine hat sich das schlagartig geändert. Das Schiff ist der Grund, warum | |
Litauen mit seinen 2,8 Millionen Einwohnern Anfang April verkünden konnte, | |
überhaupt kein Gas mehr von Russland zu beziehen. Als erstes EU-Land, das | |
zuvor russischer Gaskunde gewesen war. | |
Linas Kilda ist gelernter Ingenieur, mittlerweile aber Manager. Seit 2013 | |
arbeitet er für die halbstaatliche Betreiberfirma des Terminals, die selbst | |
kein Flüssiggas kauft, sondern Energieunternehmen die Umwandlung anbietet. | |
Kilda ist ein Mann, der viel lächelt. In einem blauen Anzug steht er an | |
Deck eines kleinen Hochseeboots, das durch den Hafen von Klaipėda tuckert | |
und sich in 20 Meter Abstand langsam an der Independence vorbeischiebt. Er | |
spricht über die Form der Gastanks, den Prozess der Regasifizierung, die | |
Pipelines, die an einer Seite des Schiffs im Wasser verschwinden, dort tief | |
in den Meeresgrund hineingehen und an Land führen. | |
Zusammen mit seiner Kollegin Jurgita Šilinskaitė-Venslovienė zeigt Kilda an | |
diesem Nachmittag ein paar Journalisten das schwimmende Terminal. Direkt an | |
Bord zu gehen, ist nicht möglich – Sicherheitsgründe. „Sie sehen sie nich… | |
aber das Schiff wird permanent von Spezialeinheiten bewacht“, sagt Kilda. | |
Die Independence gilt nicht nur in Zeiten des russischen Angriffs auf die | |
Ukraine als strategisch besonders wichtig. | |
Litauen hat früh gelernt, was Deutschland in diesen Tagen mühsam nachholt, | |
in denen nur noch wenig Gas durch Nord Stream 1 strömt, Wirtschaftsminister | |
Robert Habeck zum Energiesparen mahnt und Kohlekraftwerke wieder hochfahren | |
will: dass Moskau wirtschaftliche Abhängigkeiten gern als politisches | |
Druckmittel nutzt. | |
Als Litauen im März 1990 als erste Sowjetrepublik erklärte, unabhängig | |
werden zu wollen, antwortete der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow | |
mit einer Energieblockade. Die Gas- und Öllieferungen wurden drastisch | |
reduziert, vor litauischen Tankstellen bildeten sich lange Schlangen, | |
Menschen froren in ihren Wohnungen. „Wir haben das überlebt, aber es war | |
hart“, sagt Šilinskaitė-Venslovienė. Auf diese Erfahrung kommen sie und | |
Kilda im Gespräch öfter zurück. | |
Das Verhältnis zwischen Russland und Litauen blieb all die Jahre | |
angespannt. 2004 trat Litauen der EU und der Nato bei. 2008 stoppte | |
Russland erneut Öllieferungen, weil eine litauische Raffinerie an einen | |
polnischen Konzern statt an einen russischen verkauft wurde. Auch beim | |
Gaspreis zeigten sich die Spannungen. „Bevor wir das Flüssiggasterminal | |
hatten, bezahlten wir den höchsten Preis für russisches Gas in ganz | |
Europa“, sagt Šilinskaitė-Venslovienė. | |
Sie spricht viel über Preise, Marktentwicklungen und die Lieferanten von | |
Flüssiggas, Ägypten, Katar, Norwegen und die USA. Mit Blick auf den | |
kommenden Winter und die Gasversorgung der EU warnt sie: „Keiner kann | |
sagen, wie sich das entwickelt. Man weiß nie, was die Russen als Nächstes | |
machen werden.“ | |
## Neue Spannungen mit Russland | |
In dieser Woche spitzten sich die Spannungen zwischen den beiden Ländern | |
weiter zu. [1][Russland warf Litauen „offen feindselige“ Beschränkungen] | |
des Bahn-Frachtverkehrs in die russische Exklave Kaliningrad vor. Diese | |
liegt von Polen und Litauen umschlossen an der Ostsee, etwa 50 Kilometer | |
von Klaipėda entfernt. Das Kaliningrader Gebiet wird von Russland aus mit | |
Zügen über Litauen versorgt, der Seeweg von Sankt Petersburg aus ist | |
langwieriger und teurer. Militärisch ist Kaliningrad für den Kreml sehr | |
wichtig, die russische Ostseeflotte ist dort stationiert, genauso wie | |
Mittelstreckenraketen. | |
Die litauische Regierung betonte, dass man mit den Transportbeschränkungen | |
nur [2][beschlossene EU-Sanktionen] umsetze. Der EU-Außenbeauftragte Josep | |
Borrell bestätigte dies. Nach Angaben des Kaliningrader Gouverneurs Anton | |
Alichanow sind von den Beschränkungen 40 bis 50 Prozent des Gütertransits | |
zwischen Russland und Kaliningrad betroffen. Unter anderem dürfen nun kein | |
Zement, keine Baumaterialien, Metalle oder Hightechgüter auf dem Landweg in | |
die russische Ostseeregion gebracht werden. | |
Aber schon vor den Transitbeschränkungen war der Grenzverkehr zwischen | |
Litauen und Kaliningrad stark eingeschränkt. In der Region um Klaipėda ist | |
der Fluss Memel großteils die EU-Außengrenze zu der russischen Exklave. In | |
dem kleinen Grenzort Panemunė ist an einem Mittwochmittag Mitte Juni nicht | |
viel los. Eine große Autobrücke führt hier über die Memel, auf der anderen | |
Seite liegt die 40.000-Einwohner-Stadt Sowetsk. Früher strömte dichter | |
Verkehr über den Fluss. Vor anderthalb Monaten sei dieser von russischer | |
Seite gestoppt worden, erzählt der stellvertretende Leiter des litauischen | |
Grenzpostens. Die offizielle Begründung: Generalüberholung. | |
Jetzt laufen nur ab und zu einzelne Personen mit Reisetaschen zu Fuß über | |
die Brücke. Neue Visa zu bekommen ist extrem schwierig, viele Menschen im | |
Grenzgebiet haben aber Verwandte auf der anderen Seite des Flusses und | |
besuchen sie mit Dauer-Visa. | |
Seit Beginn des Ukrainekriegs gebe es bei russischen Staatsbürgern | |
verschärfte Kontrollen, erzählt der Grenzer. Die Personalien müssten durch | |
den Polizei-Suchcomputer mit internationalen Datenbanken laufen, das dauere | |
halt etwas länger. Dann zeigt er von der Brücke aus noch auf ein Haus auf | |
der russischen Uferseite. An der Hauswand dort prangt gut sichtbar zur | |
litauischen Seite hin ein riesiges Z, das Zeichen des russischen | |
Angriffskriegs in der Ukraine. | |
Der Krieg wirkt in Litauen sehr viel näher als in Deutschland. Die | |
Erinnerung an die sowjetische Besatzungszeit und die stalinistischen | |
Deportationen sind im kollektiven Gedächtnis ständig präsent, seit dem 24. | |
Februar umso mehr. Egal, mit wem man in der Gegend um Klaipėda spricht, von | |
praktisch jedem hört man in Varianten den Satz: „Wenn Russland in der | |
Ukraine Erfolg hat, sind wir als Nächstes dran.“ | |
Auch Vytautas Grubliauskas sagt das so. Er war früher Jazztrompeter und | |
Musikdozent an der Kunstfakultät, seit 2011 ist er Bürgermeister von | |
Klaipėda. An diesem Vormittag empfängt er eine Gruppe deutscher | |
Journalisten in einem kargen Besprechungsraum des Rathauses. Am Revers | |
seines Sakkos trägt er eine Anstecknadel mit den Fahnen Litauens und der | |
Ukraine. | |
## Ein Wunsch an Deutschland | |
Eigentlich schlage sein Herz ja für die Kultur, als Bürgermeister müsse er | |
aber auch viel mit Wirtschaftsleuten sprechen, beginnt er. Gerade aus | |
Deutschland gebe es im Moment viel Interesse an dem Flüssiggasterminal im | |
Hafen. Er ist stolz auf das Projekt. „In all den Jahren habe ich es nie | |
wieder so erlebt, dass alle – Regierung, Parlament und Kommune – gemeinsam | |
an einem Strang ziehen, um das zu verwirklichen.“ | |
Die große Weltpolitik sei eigentlich nicht sein Feld, er kümmere sich um | |
das Kommunale. „Ich will auch kein Lehrer sein“, sagt Grubliauskas. Aber: | |
„Der Krieg in der Ukraine ist unsere Sache. Und er ist auch die Sache | |
Deutschlands.“ Er würde sich wünschen, dass sich diese Überzeugung stärker | |
durchsetze. Es sei ein gutes Zeichen, dass Berlin entschieden habe, künftig | |
[3][mehr deutsche Soldaten in Litauen zu stationieren]: „Je mehr | |
Nato-Soldaten in unserem Land sind, desto sicherer fühle ich mich.“ | |
Ansonsten hält der Bürgermeister sich mit Kommentaren zur deutschen Politik | |
zurück. So wie auch Linas Kilda und Jurgita Šilinskaitė-Venslovienė bei dem | |
Gespräch auf dem Boot. Nur eine Anmerkung hat Kilda noch: „Wenn Deutschland | |
zeigen könnte, dass es den nächsten Winter ohne russisches Gas auskommt – | |
das wäre ein starkes Zeichen.“ | |
Die Recherchereise wurde ermöglicht durch das [4][Deutsche Kulturforum | |
östliches Europa]. | |
27 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Spannungen-zwischen-Litauen-und-Russland/!5862754 | |
[2] /Neue-EU-Sanktionen-gegen-Russland/!5837522 | |
[3] /Kanzler-Scholz-in-Litauen/!5859128 | |
[4] https://www.kulturforum.info/de/ | |
## AUTOREN | |
Jan Pfaff | |
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