# taz.de -- Politologe zu Putins Kriegszielen: „Er will den russischen Volkss… | |
> Putins Kriegsziel ist ein ethnisch einheitliches Russland. Das ist die | |
> These des Politologen Ivan Krastev, der den russischen Präsidenten kennt. | |
Bild: Russische Zerstörungswut, hier in der Region Donezk, Juni 2022 | |
taz: Herr Krastev, Putin hat den Krieg anfangs als Strafaktion gegen Nazis | |
und Völkermörder verkauft. Jetzt bringt er die Eroberungsfeldzüge von Peter | |
dem Großen ins Spiel. Ist das ein neues Narrativ, geht es um | |
Territorialgewinn? | |
Ivan Krastev: Ich denke, wenn die russischen Truppen volle Kontrolle über | |
Luhansk und Donezk gewonnen haben, sollen diese Gebiete von der Russischen | |
Föderation annektiert werden. Darauf bereitet Putin die Welt vor. | |
Gleichzeitig wird sich wohl auch Südossetien der Föderation anschließen. | |
Dann kann Putin einen Sieg reklamieren. | |
Was ist ein Sieg? | |
Der Krieg begann mit einem Angriff auf Kiew und Charkiw. Jetzt geht es um | |
den Donbass und im Süden einen Korridor zur Krim. Es war viel davon die | |
Rede, dass Putin die Sowjetunion wiederherstellen will. Das glaube ich | |
nicht. Wenn man sich Putins Rede vom 22. Februar über die Anerkennung der | |
„unabhängigen Republiken“ anhört, dann klingt er wie ein General der Wei�… | |
Garden aus dem Bürgerkrieg. | |
Es ging um einen ethnisch russischen Staat. Er sprach von Russen als den | |
zahlreichsten Opfern des Sowjetregimes und dass die Ukraine von Lenin | |
besetzt wurde. Hier geht es nicht um die Restauration eines Imperiums, | |
sondern um die Umwandlung der Russischen Föderation in einen klassischen | |
Nationalstaat. | |
Was bedeutet das für die asiatischen Völker? | |
Die Ironie dabei ist, dass diese Völker, Tschetschenen und andere, in | |
Donezk und Luhansk für Russland gegen die Ukrainer kämpfen, die sich laut | |
Putin als Russen bekennen sollten. Das ist kein sowjetischer Diskurs. Wenn | |
Putin über die russische Welt spricht, dann meint er auch Russischsprachige | |
außerhalb der Föderation. | |
Dieses Denken wird sich auf den [1][Stellenwert der russischen Sprache] in | |
der Zukunft auswirken. In der Ukraine gab es viele Menschen, die Russisch | |
sprechen. Vor ein paar Jahren habe ich in Buchgeschäften in Kiew mehr | |
russische als ukrainische Literatur gefunden. Das wird sich dramatisch | |
ändern, denn der Gebrauch der russischen Sprache ist heute ein politisches | |
Statement. | |
Die Auswirkungen werden aber weit größer sein. Nach der bolschewistischen | |
Revolution hat die Linke in aller Welt Russisch als die Sprache der | |
Revolution gesehen. Das war ein Motiv für viele, Russisch zu lernen. Wer | |
jetzt sieht, was Putin der Ukraine antut, wird diese Motivation nicht | |
haben. | |
Was wird sich noch ändern? | |
Die sowjetische Identität basierte nicht auf der kommunistischen Ideologie, | |
sondern auf der gemeinsamen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Deswegen hat | |
Putin [2][als Kriegsgrund die Entnazifizierung bemüht.] Wenn er aber | |
gleichzeitig ukrainische Städte zerstört, wie sie im Zweiten Weltkrieg | |
zerstört wurden, wird kein russischer Anführer mehr so wie bisher den | |
sowjetischen Sieg über Nazideutschland in Erinnerung rufen können. | |
Kann die Russifizierung der eroberten Gebiete dann überhaupt erfolgreich | |
sein? | |
Im letzten Monat haben wir in den besetzten Gebieten einen beginnenden | |
Guerillakrieg gesehen. Am 13. Juni berichteten russische Medien über einen | |
Bombenanschlag im russisch kontrollierten Melitopol. Noch interessanter ist | |
aber, dass große Teile der russischsprachigen Bevölkerung aus der Ukraine | |
ins Innere Russlands verschleppt werden. Es gibt Berichte über Transporte | |
von 150.000 Kindern, mehrheitlich Waisen. Die russische Regierung hat es | |
für russische Paare einfacher gemacht, Kinder aus der Ukraine zu | |
adoptieren. | |
Was ist die Strategie dahinter? | |
Putin war immer empfindlich, was demografische Entwicklungen betrifft. | |
Russlands Bevölkerung schrumpft. Das begann in den 1990er Jahren, als die | |
Lebenserwartung – vor allem der Männer mit 64 Jahren – afrikanisches Niveau | |
erreichte. Verschärft wird das durch Alkoholismus und Probleme im | |
Gesundheitssystem. Covid hat für 1 Million zusätzliche Sterbefälle gesorgt, | |
und die Geburtenrate sinkt. Es ist die Rede von 1 Million Menschen, die zum | |
Teil tief in den russischen Osten, selbst nach Sibirien verschleppt wurden. | |
Es geht also auch um demografische Fragen. | |
Putin machte sich Sorgen über die abnehmende slawische Bevölkerung. Das ist | |
auch der Grund für die De-facto-Annexion von Belarus. Es geht also nicht | |
nur um Territorium. Nicht vergessen sollte man auch, dass der Wiederaufbau | |
im Donbass unter einem von Sanktionen betroffenen Russland extrem mühsam | |
sein wird. | |
Am 12. Juni hat der stellvertretende Chef der Präsidialverwaltung Sergei | |
Kirijenko gesagt, dass der Wiederaufbau des Donbass notwendig ist, auch | |
wenn dadurch der Lebensstandard in Russland sinken sollte. Diese Aussage | |
wurde dann sehr schnell aus allen Medien entfernt. Ich glaube also, dass | |
die demografische Frage von entscheidender Bedeutung ist. | |
Sprechen wir von einem russischen Projekt oder von Putins Projekt? | |
Präsident Putin hat kein Vertrauen in seine möglichen Nachfolger, ohne dass | |
ich jetzt sagen könnte, wer das ist. Das verwundert nicht, wenn man die | |
russische und sowjetische Geschichte der letzten 100 Jahre betrachtet. | |
Warum nicht? | |
Das Vermächtnis der großen Zaren und Sowjet-Generalsekretäre wurde jeweils | |
von den Nachfolgern konterkariert. Nach Stalin war das besonders extrem – | |
und natürlich mit Gorbatschow nach Breschnew. Auch Putin hat mit Jelzins | |
Erbe radikal aufgeräumt. Die Angst, dass ihm das auch passieren kann, ist | |
meiner Meinung nach einer der Gründe, warum er in seiner Lebenszeit alles | |
erledigen will. Die Neupositionierung gegenüber dem Westen ist etwas, was | |
sehr, sehr schwer rückgängig zu machen sein wird. Kürzlich habe ich einen | |
sehr hohen russischen Funktionär gefragt, wer die Berater sind, auf die | |
Putin hört. Er hat gesagt: Iwan der Schreckliche, Katharina die Große und | |
Peter der Große. | |
Was müssen wir mehr fürchten: einen Sieg oder eine Niederlage Putins? | |
Russland ist eine Atommacht. Deswegen wissen wir nicht so genau, was | |
Niederlage heißt. Eine Siegesparade im eroberten Moskau sicher nicht. | |
Ein kompletter Rückzug aus den besetzten Gebieten. | |
Für die Ukrainer ist das eine wichtige Frage, denn Putin war immer ein | |
Experte für Demütigungen. Dabei hat er etwas übersehen. Der heftige | |
Widerstand der Ukraine gegen die Invasion ist gewissermaßen eine Reaktion | |
auf die Demütigung, die die Ukraine erfahren hat, weil sie sich 2014 gegen | |
die Invasion der Krim nicht gewehrt hat. Es waren rund 20.000 ukrainische | |
Soldaten dort stationiert, aber die Armee war total demoralisiert. Russland | |
konnte also die Krim annektieren, ohne einen einzigen Soldaten zu | |
verlieren. | |
Deswegen ist es heute so wichtig für die Ukraine, die Rückeroberung aller | |
verlorenen Gebiete als Ziel zu definieren. Für den Westen bedeutet eine | |
Niederlage Russlands, dass Putin oder das autoritäre Russland keinen | |
weiteren Krieg auf europäischem Boden mehr führen kann. Wir sprechen von | |
einem konventionellen Krieg, keinem Atomkrieg. | |
Für Putin ist es schwieriger, einen Sieg zu definieren. Die Annexion des | |
Donbass um den Preis von mehr als 30.000 russischen Leben und | |
Wirtschaftssanktionen, die das Land weiter isolieren? | |
Wie wird Russland nach dem Krieg aussehen? | |
Schwierig zu sagen, weil Post-War-Russland noch immer von Putin regiert | |
werden wird. Die Hinwendung zum asiatischen Raum wird stärker werden. In | |
den letzten 20 Jahren hat sich Russland von einem prowestlichen Staat in | |
einen antiwestlichen verwandelt, aber die russische Gesellschaft ist stark | |
verwestlicht. 10 Millionen Russen reisen jedes Jahr nach Europa. Das sind | |
nicht nur die Oligarchen, sondern das ist der Mittelstand. Deren Leben ist | |
jetzt aus den Fugen. | |
Es gibt da diesen russischen Rockstar, der in einem seiner neuesten Lieder | |
singt: „Wir beginnen gerade zu verstehen, wie gut wir doch gelebt haben, | |
als wir vor dem Krieg dachten, wir leben schlecht.“ | |
Die russische Armee besteht dagegen zu einem guten Teil aus Soldaten aus | |
dem Inneren des Landes, aus ethnischen Minderheiten, die höhere | |
Geburtenraten haben. Viele sind verschuldet und wollen die Schulden mit dem | |
Kriegsdienst tilgen. Diese Leute beginnen jetzt plötzlich, ihre eigene | |
Identität zu entdecken, Tataren, Menschen aus dem Altai und andere. | |
Dann ist da noch der generationelle Aspekt. Die Leute, die jetzt an der | |
Macht sind, gehören zur letzten sowjetischen Generation. Sie haben den | |
Zusammenbruch der Sowjetunion noch bewusst miterlebt und akzeptieren ihn | |
nicht. Aber für die Generation der 25- bis 30-Jährigen war die Ukraine | |
immer schon Ausland. Sie reisen eher nach Istanbul als nach Kiew. | |
26 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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