# taz.de -- Neun-Euro-Ticket an Pfingsten: Stresstest bestanden | |
> Meldungen von überfüllten Zügen und gesperrten Bahnsteigen rücken das | |
> Neun-Euro-Ticket in ein schlechtes Licht. Nur: So schlimm war es gar | |
> nicht. | |
Bild: Trotz vollem Berliner Hauptbahnhof: Das Neun-Euro-Ticket hat nicht zu ein… | |
Mit fast so etwas wie Angstlust haben Fans und notorische | |
Kritiker:innen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) das | |
Pfingstwochenende erwartet. Das bundesweit geltende [1][9-Euro-Ticket für | |
den Nahverkehr] werde zu einem immensen Chaos führen, Bahnen und Busse dem | |
massiven Andrang der Reisenden nicht standhalten, hieß es immer wieder. | |
Meldungen von überfüllten Zügen, gesperrten Bahnsteigen oder | |
stehengelassenen Fahrgästen scheinen den Unkenrufer:innen recht zu | |
geben. Unzählige Journalist:innen waren zwischen Freitag und Montag | |
unterwegs, um über das erwartete Chaos zu berichten. Aber, Hand aufs Herz: | |
So schlimm, wie es sich mitunter anhört, war’s gar nicht. Jedenfalls auch | |
nicht so viel schlimmer als immer an Pfingsten. | |
Das 9-Euro-Ticket hat im Großen und Ganzen den ersten großen Stresstest | |
bestanden. „Sehr volle Züge, aber kein Chaos“, lautet denn auch die Bilanz | |
des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Viele, die am Wochenende | |
im Regionalzug oder Bus durch die Republik reisten, werden das bestätigen – | |
es sei denn, sie waren, wie es im Bahnjargon heißt, Teil einer „regionalen | |
Auslastungsspitze“. | |
Eines darf beim Blick auf das vergangene Wochenende nicht vergessen werden: | |
Rund um Pfingsten herrschen in den Zügen der Deutschen Bahn traditionell | |
Überfüllung, Gedränge und schlechte Laune. Denn zu wenig Züge und zu wenig | |
Personal zeigen sich immer dann, wenn sehr viel mehr Menschen Zeit und | |
einen Anlass für Reisen haben als im Alltag. Die Pfingstüberfüllung findet | |
seit einer halben Ewigkeit statt, doch bislang haben Journalist:innen, | |
Politiker:innen und Manager:innen der Deutschen Bahn das | |
achselzuckend hingenommen und Reisenden geraten, zu einem anderen Zeitpunkt | |
zu fahren. Selbst schuld, wenn es stressig wird, lautete ihre Botschaft. | |
Doch an diesem Pfingsten war es anders. Die Republik hat auf das Geschehen | |
in Bahnen und Bussen geschaut wie sonst auf die Staumeldungen. Und allein | |
das ist ein grandioser Erfolg. Nicht die vom ADAC gezählten Staukilometer | |
auf den Autobahnen beherrschen Meldungen und Gespräche, sondern die | |
Ereignisse auf den Bahnhöfen. 400 überfüllte Züge hat der Betriebsrat der | |
Bahntochter DB Regio gezählt. | |
Das 9-Euro-Ticket gilt nicht in Fernzügen, deshalb spielt sich das | |
Geschehen rund um die ÖPNV-Flatrate in den Zügen der DB Regio ab. Für | |
diejenigen, die in einer dieser 400 Bahnen unterwegs waren, ist es leider | |
schlecht gelaufen – aber das sind im Verhältnis zu den vielen anderen | |
Reisenden wenig. „Mit 86.000 Zugfahrten ist bei DB Regio über das lange | |
Wochenende alles gerollt, was rollen kann“, sagt DB Regio-Chef Jörg | |
Sandvoß. | |
## Menschen nutzen den ÖPNV, wenn er günstig ist | |
Der ein oder die andere, die [2][wegen Überfüllung am Bahnsteig dem Zug | |
hinterherschauen] mussten, ärgern sich völlig zu Recht. Das darf nicht | |
passieren. Jede:r, die oder der auf der Strecke bleibt, ist eine:r zu | |
viel. Dass zeitweise Bahnsteige an großen Bahnhöfen wie Berlin, Köln oder | |
Hamburg wegen zu hohen Andrangs gesperrt werden mussten, ist schlecht. | |
Aber: Das sind einzelne Fälle, die unter anderem mit mehr und längeren | |
Zügen und mit einem dichteren Takt in den Griff zu bekommen wären. Auch | |
wenn es für die Leidtragenden nicht schön ist – diese Nachteile wiegen | |
nicht so schwer wie die Vorteile für Millionen von Reisenden. Das | |
9-Euro-Ticket hat nicht zu einem Systemkollaps geführt. | |
Auch wenn die Kapazitäten viel zu knapp sind und dringend ausgebaut werden | |
müssen, der Status quo spricht bei allen Defiziten nicht gegen das | |
gigantische Feldexperiment ÖPNV-Flatrate. Und gleichzeitig steht in der | |
öffentlichen Debatte völlig außer Frage, dass der Nahverkehr drastisch | |
ausgebaut werden muss. Die Befürworter:innen eines schnellen und | |
massiven ÖPNV-Ausbaus haben eine Art kulturelle Hegemonie errungen. Denn | |
wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die Nutzung von Bussen und | |
Bahnen und der Preis dafür in einem direkten Zusammenhang stehen, jetzt ist | |
er mit dem 9-Euro-Ticket erbracht. Menschen nutzen den ÖPNV, wenn er | |
günstig ist. | |
Reisenden an Pfingsten war klar, dass es eng werden würde. | |
Verkehrsunternehmen ebenso. „Wir haben für das Pfingstwochenende mit sehr | |
vollen Fahrzeugen und Bahnsteigen gerechnet und das hat sich bestätigt“, | |
sagt VDV-Präsident Ingo Wortmann. „Die Verkehrsunternehmen und die | |
Fahrgäste waren aber auf den zu erwartenden Ansturm sehr gut vorbereitet.“ | |
Der Vizevorsitzende des Gesamtbetriebsrats DB Regio, Ralf Damde, lobt die | |
Rücksichtnahme und Geduld der meisten Fahrgäste. | |
## Bei günstigen Preisen steigt die Laune | |
Das ist ein interessantes Phänomen: Günstige Preise führen bei Fahrgästen | |
zu Gelassenheit und Freundlichkeit. Wer in einem der engen, unbequemen Züge | |
des Deutsche-Bahn-Konkurrenten Flixtrain unterwegs ist, in dem das | |
ansonsten funktionierende WLAN nicht geht und der Service zu wünschen übrig | |
lässt, macht eine ähnliche Erfahrung: So etwas kann der guten Laune von | |
Fahrgästen überhaupt nichts anhaben, wenn sie für 20 Euro von Berlin nach | |
Köln kommen. | |
Bei der Deutschen Bahn kostet selbst der – kaum verfügbare – Supersparpreis | |
fast dreimal so viel, das reguläre Ticket sogar 117 Euro. Bei der Deutschen | |
Bahn, wo selten in einem Zug alles so funktioniert wie vorgesehen, ist die | |
Stimmung der Reisenden angesichts des Preises schon vor Beginn der Reise im | |
Keller. Auch im Fernverkehr muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die | |
Preise sinken. | |
Im Nahverkehr wenigstens ist mit dem 9-Euro-Ticket die Preiswelt in den | |
kommenden drei Monaten in Ordnung. Das macht vielen Fahrgästen gute Laune, | |
auch wenn sie im Zug stehen müssen. Die ÖPNV-Flatrate ermöglicht ihnen eine | |
neue, nicht gekannte Flexibilität. Fahrgäste können, ohne Tarifgrenzen zu | |
checken, einsteigen, wo sie wollen, mal aus purer Neugier eine Haltestelle | |
weiterfahren als sonst und spontan doch den früheren oder späteren Zug | |
nehmen. So sind echte Entdeckungsfahrten möglich, unkompliziertes Reisen | |
mit mehreren Personen ebenso. | |
Viele werden in den kommenden Monaten eine völlig neue Form der Mobilität | |
kennenlernen. Flexibilität ist der große Wettbewerbsvorteil des Autos – mit | |
Projekten wie dem 9-Euro-Ticket wird dieser Vorteil kleiner. Aber auf lange | |
Sicht kann das nur klappen, wenn der Bund und die Länder mehr Geld in den | |
Ausbau des ÖPNV stecken – auch und gerade auf dem Land. | |
„Gemeinsam mit den Ländern werden wir die 3 Monate des 9-Euro-Tickets genau | |
evaluieren, um daraus Schlüsse hinsichtlich Preis und Angebot im ÖPNV zu | |
ziehen“, sagt Bundesverkehrsminister [3][Volker Wissing] (FDP). Bislang | |
verweigert der Minister den Ländern dringend erforderliche Mittel für den | |
Ausbau. Doch das könnte sich ändern, wenn der öffentliche Druck größer | |
wird, weil viele Millionen Menschen in den kommenden Monaten ein Faible für | |
den ÖPNV entwickeln. | |
7 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Das-Neun-Euro-Ticket-im-Pfingst-Test/!5856562 | |
[2] /Unterwegs-mit-dem-9-Euro-Ticket/!5856534 | |
[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/wissing-nahverkehr-reformen-100.html | |
## AUTOREN | |
Anja Krüger | |
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