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# taz.de -- Chaos im ÖPNV: Der ganz normale Wahnsinn
> Sorgt das 9-Euro-Ticket für Frust, weil die Züge überfüllt sind? Nein.
> Das besondere Ticket ist eine gute Idee. Es ist der Normalzustand, der
> nervt.
Bild: Da geht noch mehr: Fahrgäste in einem Zug von Berlin Richtung Ostsee am …
Pfingstmontag, früher Nachmittag. Die Regionalbahn aus Cottbus Richtung
Berlin ist fast leer. Draußen lacht die Sonne, drinnen lächelt die
Zugbegleiterin. Keine Spur von den befürchteten Massen, die [1][am ersten
Juniwochenende vom 9-Euro-Ticket in die Züge gelockt] werden sollten; kein
Gedränge an den Türen von Berliner*innen, die Pfingsten mitsamt Rad im
Umland verbracht haben und jetzt müde nach Hause transportiert werden
möchten.
Während andernorts an diesem Wochenende Bahnsteige [2][wegen zu großen
Andrangs von der Polizei geräumt werden]; während in den Zügen Richtung
Ostsee die Räder keinen Platz mehr finden, ist im RB 24 alles in bester
Ordnung – abgesehen davon, dass der Zug nicht an seinem eigentlichen Ziel
ankommen wird. Statt nach und durch Berlin nach Eberswalde zu fahren, ist
bereits in Bestensee Ende. Der Grund: Bauarbeiten im nachfolgenden Bahnhof
Königs Wusterhausen, die gleich auch noch die S-Bahn dort lahmlegen. Der
Ersatzverkehrsbus will einen deswegen sogar gleich zum Flughafen BER
bringen.
Die Baustelle sei bereits seit einigen Wochen bekannt und werde immer mal
wieder in den nächsten Monaten für Behinderungen sorgen, erklärt die
Zugbegleiterin. Sie rät deswegen, die Bauarbeiten-App der Bahn aufs Handy
herunterzuladen. „Die dürfte ganz hilfreich sein“, sagt sie. Natürlich
tritt der Vorführeffekt ein: Hier im Südosten Brandenburgs ist die
Versorgung mit mobilen Daten löchrig.
Doch den Tipp darf man gerne weiter geben. Denn es dürften nur in
Einzelfällen die durchs 9-Euro-Ticket angelockten Menschen sein, die in den
nächsten drei Monaten des Sommers allein wegen ihrer schieren Masse
Bahnfahren schwer erträglich machen. Es sind die normalen Pannen und
Baustellen, die dringend zu erneuernde marode Infrastruktur, die die Nerven
vor allem von Bahn-Stammgästen auf die Probe stellen werden. Stammgäste,
von denen sich manche kaum mehr an eine pünktliche Fernverkehrsverbindung
erinnern können.
Ein Blick auf die Webseite der Bahn zeigt, was da in der nächsten Zeit
droht. Allein für den Regionalexpress 1 von Magdeburg nach Frankfurt (Oder)
und Eisenhüttenstadt listet die Seite mit den baubedingten
Fahrplanänderungen knapp 20 Einträge auf. Manche Einschränkungen werden
kaum auffallen, weil sie einzelne Verbindungen in der Nacht betreffen;
andere sind schwerwiegender, weil Kunden teils die doppelte Fahrzeit und
lange Umwege einplanen müssen. Auch die Berliner S-Bahn baut in diesem
Sommer an vielen Stellen. Die Folge: Verzögerungen und Ersatzverkehr.
In der Debatte um die Sinnhaftigkeit des 9-Euro-Tickets argumentieren
Kritiker, dessen Kosten in Milliardenhöhe hätten besser gleich in bessere
Infrastruktur investiert werden sollen: in neue und mehr Waggons, flottere
Strecken, in saubere Bahnhöfe mit funktionierenden Aufzügen. Das wäre
sicher nicht falsch gewesen.
Aber wer weiß, ob und wann das Geld wirklich effektiv genutzt worden wäre.
Denn wo herrscht gerade kein Sanierungsstau? Viel wichtiger: Der
Wow-Effekt, den das Super-Duper-Sparpreis-Angebot ausgelöst hat, wäre
ausgeblieben. Und damit auch die Debatte um die Ausstattung des ÖPNV, im
besonderen des regionalen ÖPNV.
Die hat gezeigt, wie viele Strecken vor allem im Osten seit 1990 still
gelegt wurden; wie wenig dem Bund und den Ländern die Bahn wert war und
ist; wie viel Geld derweil in den motorisierten Individualverkehr gesteckt
wurde. Und gerade weil die aktuelle Diskussion nicht nur die Stammgäste
betraf, sondern auch viele andere – allein die Bahn hat bundesweit 6
Millionen 9-Euro-Tickets verkauft – ist diese öffentliche Aufmerksamkeit
viel wertvoller.
## Die FDP hat schon sinnloser Geld ausgegeben
Sie hat im besten Fall eine Bevölkerungsgruppe für eine Thematik
sensibilisiert, die sie derzeit vielleicht noch nicht betrifft, weil
(mindestens) ein Auto vorhanden ist und viel genutzt wird. Aber angesichts
der Klimakrise und der steigenden Energiepreise könnte sich das schon bald
ändern – freiwillig, um etwas gegen die Erderwärmung zu tun, oder
gezwungenermaßen, weil man sich Autofahren nicht mehr in dem Maße leisten
kann wie bisher. Die FDP, deren Verkehrsminister Volker Wissing das
9-Euro-Projekt verantwortet, hat schon für weitaus schlechtere Ideen Geld
rausgehauen.
Und so könnte das 9-Euro-Ticket der Anfang einer grundlegenden
Auseinandersetzung darüber sein, was der ÖPNV in Berlin, Brandenburg und
Deutschland leisten muss, und wer ihn sich leisten können muss. Am Ende
gilt es vielleicht als Aufbruch in eine andere Mobilität.
11 Jun 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Bert Schulz
## TAGS
9-Euro-Ticket
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