# taz.de -- Co-Fraktionsvorsitzende über Grüne: „Wir müssen Orientierung b… | |
> Die Grüne Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge spricht über kahle | |
> Bürowände, moderne Migrationspolitik und ihr einziges Kaffeedate mit | |
> Friedrich Merz. | |
Bild: Seit einem halben Jahr im Amt: Katharina Dröge im Bundestag | |
taz am wochenende: Frau Dröge, die Wände in Ihrem Büro sind noch etwas | |
kahl. Hatten Sie noch keine Zeit, sich einzurichten? | |
Katharina Dröge: Wir sind überhaupt noch nicht dazu gekommen, irgendwas | |
richtig auszupacken. Da drüben stehen noch die Kisten, die Bilder hängen | |
nicht, die Regale sind leer. Seit ich Fraktionsvorsitzende bin, gab es | |
dafür eigentlich keinen Moment. | |
Dabei sind Sie immerhin schon ein knappes halbes Jahr Fraktionschefin. | |
Mir kam es kürzer vor. Es waren ja auch sehr spezielle Monate. | |
Hat es Ihnen der Krisenmodus leichter oder schwerer gemacht, im Amt | |
anzukommen? | |
Es klingt absurd, aber der politische Druck in dieser schlimmen Zeit hat | |
zumindest im Kopf das Ankommen einfacher gemacht. Vorher dachte ich, dass | |
ich mir vor jedem großen Interview oder der ersten Rede als | |
Fraktionsvorsitzende tagelang Gedanken mache. Aber dafür war angesichts | |
ständig dringender politischer Entscheidungen gar nicht die Zeit. Der | |
Gedanke, du machst das alles zum ersten Mal, spielte gar keine Rolle mehr. | |
Die Grünen haben viele neue Abgeordnete. Trotzdem scheinen sie die eigene | |
Fraktion gut im Griff zu haben. | |
Wir haben es sehr gut geschafft, in dieser Zeit einen gemeinsamen Weg zu | |
gehen. Wir haben vom ersten Tag an allen Abgeordneten Videokonferenzen | |
angeboten, um unsere Entscheidungen zu erklären. Gerade für eine neue | |
Fraktion war das trotzdem keine leichte Zeit. Die Pandemie war zu Beginn | |
noch akut, alle saßen zu Hause vor ihren Bildschirmen und mussten diese | |
krassen Entscheidungen mit sich alleine ausmachen. Deswegen war es uns so | |
wichtig, der Diskussion viel Raum zu geben und der Fraktion gegenüber auch | |
die eigene Zerrissenheit deutlich zu machen. | |
Wo mussten Sie am meisten Überzeugungsarbeit leisten? | |
Am Anfang haben wir am intensivsten die Frage um Swift und den Ausschluss | |
Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehr debattiert. In der Frage | |
der Waffenlieferungen hat die Fraktion deutlich weniger Zweifel angemeldet, | |
als viele gedacht hätten. Das war für uns Grüne natürlich eine | |
180-Grad-Wende, aber angesichts dieser Zeit und dessen, was Russland tut, | |
haben die Abgeordneten uns sehr breit zurückgemeldet: Das ist genau | |
richtig. | |
Die SPD und der Kanzler waren in der Frage weniger klar. Wie haben Sie das | |
empfunden? | |
Die Bundesregierung hat diese Entscheidungen gemeinsam getroffen. Bei der | |
Frage der Lieferung schwerer Waffen hätten sich die Menschen von uns aber | |
mehr Kommunikation gewünscht. Das haben wir auch gemeinsam klar analysiert. | |
Ich finde allerdings: Der Kanzler tritt in sehr vielen Medienformaten auf | |
und erklärt viel mehr, als es Angela Merkel jemals gemacht hat. | |
Als Musterbeispiel für gute Kommunikation gilt derzeit Robert Habeck, der | |
auch mal seine Zweifel zur Schau stellt und öffentlich ausführt, wie er zu | |
seinen Entscheidungen kommt. Als Kollektiv sind die Grünen dagegen sehr | |
bedacht darauf, dass ihre Diskussionen intern bleiben. Könnte etwas mehr | |
Transparenz nicht auch auf dieser Ebene gut ankommen? | |
Gerade für eine Fraktion sind Diskussionsräume wichtig, in denen | |
Abgeordnete geschützt über Zweifel und Fragen reden können. Nicht jeder | |
Gedanke, den man äußert, soll sofort aus dem Kontext gerissen zur | |
Schlagzeile werden. Am Ende machen wir unsere Abwägungen deutlich, sprechen | |
aber mit einer gemeinsamen Stimme. Wir müssen ja auch Orientierung bieten. | |
Wir können in einer Zeit, in der Krieg in Europa ist, nicht sagen, wir | |
wollen jetzt erst mal debattieren, sondern man muss sich für einen Weg | |
entscheiden und dann erklären, warum. | |
Die letzten beiden Landtagswahlen haben die Grünen gewonnen – auch dank des | |
Rückenwinds der populären Kabinettsmitglieder Habeck und Baerbock. Droht | |
bei aller Freude eine Asymmetrie, wenn die beiden gegenüber Fraktion und | |
Partei zu stark werden? | |
Nein. Wir arbeiten super eng als Sechserrunde zusammen, also die beiden, | |
die Parteivorsitzenden und wir als Fraktionsvorsitzende. Wir stimmen uns in | |
allen zentralen Fragen ab. Jede Woche. Dann macht jeder im eigenen Bereich | |
seinen Job, damit es zusammen funktioniert. | |
Es ist also nicht so, dass die beiden den Kurs vorgeben und Sie die | |
Fraktion „einnorden“? | |
Definitiv nicht. Das würde auch eine grüne Bundestagsfraktion nicht mit | |
sich machen lassen. So funktionieren die Grünen nicht. | |
Zurück zu den Landtagswahlen: Welchen Wunsch haben Sie für die | |
Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen, wo Sie selbst herkommen? | |
Dass endlich Bewegung in die Energiepolitik kommt. Ich fand das in den | |
letzten fünf Jahren unerträglich. Ich hatte vorher im | |
Landesumweltministerium gearbeitet und die damalige Schwarz-Gelbe Regierung | |
hat danach alles ausgebremst, was wir vorangebracht hatten. Das war richtig | |
bitter. | |
Können Sie den Grünen im Land die Ampel empfehlen? | |
Die Grünen in NRW entscheiden das alleine. Für die Bundesebene gilt: Ich | |
habe bis jetzt gute Erfahrungen mit der Ampel gemacht, gerade auch, weil | |
wir in den gesellschaftspolitischen Fragen überzeugt für ein wirklich | |
modernes Deutschland stehen. Mit der CDU wäre das ein richtig harter Kampf | |
gewesen. Auch bei anderen Fragen wie dem Ausbau der erneuerbaren Energien | |
haben wir uns wirklich auf etwas sehr Weitreichendes geeinigt. | |
In NRW haben SPD und FDP aber enorm verloren. Schwarz-Grün liegt auf der | |
Hand. | |
Man sollte die Frage, mit wem man fünf Jahre ein Land regieren will, davon | |
abhängig machen, ob man gut zusammenarbeiten und gemeinsam in die richtige | |
Richtung gehen kann. | |
Wie wirken sich die Landtagswahlen in NRW und Schleswig-Holstein auf den | |
Bund aus? CDU-Chef Friedrich Merz dürfte sich in seinem konfrontativen Kurs | |
gestärkt fühlen. | |
Ich glaube nicht, dass sich Friedrich Merz durch die Landtagswahlergebnisse | |
gestärkt fühlen sollte. In Schleswig-Holstein hat Daniel Günther mit einem | |
Kurs gewonnen, der das Gegenteil von Friedrich Merz ist. Auch Hendrik Wüst | |
hat versucht, die CDU moderner aufzustellen. Anstelle von Friedrich Merz | |
würde ich daraus Schlussfolgerungen für den Kurs der Union ziehen. | |
Frau Dröge, [1][wir kennen doch alle Friedrich Merz, Sie persönlich sogar | |
besser als wir …] | |
Eigentlich nicht. | |
Noch nie zusammen Kaffee getrunken? | |
Einmal. | |
Macht man das unter Fraktionsvorsitzenden nicht häufiger? | |
Eigentlich schon. Unser Eindruck war: Gerade bei den Debatten der letzten | |
Wochen wie der Impfpflicht hat er den Dialog eher nicht gewollt. | |
Gesprächsbedarf mit der Union gäbe es beim Sondervermögen für die | |
Verteidigungspolitik. Haben Sie bei dem Thema eigentlich schon die eigene | |
Fraktion hinter sich? | |
Hinter dem Weg, den das Kabinett beschlossen hat, steht die Fraktion sehr | |
geschlossen: Sicherheit erfordert gerade jetzt auch mehr Investitionen in | |
die Bundeswehr. Zu Sicherheit im 21. Jahrhundert gehört aber auch zivile | |
Krisenprävention, das heißt Ertüchtigung von Partnern und Cybersicherheit. | |
Im Mittelpunkt steht die Stärkung der Bündnisfähigkeit. Ausgerechnet das | |
will Friedrich Merz jetzt streichen und allein durch das Wort | |
„Streitkräfte“ ersetzen. Was für ein Signal an unsere Partner? Gerade in | |
einer Zeit, in der sich Schweden und Finnland entscheiden, der Nato | |
beizutreten. | |
Die Union will aber nur zustimmen, wenn die 100 Milliarden allein der | |
Bundeswehr dienen. Und sie fordert die dauerhafte Einhaltung des | |
Zwei-Prozent-Ziels, so wie es Olaf Scholz in seiner Zeitenwende-Rede | |
eigentlich angekündigt hatte. | |
Ich fand es damals schon sinnvoll, den Sicherheitsbegriff breiter zu | |
formulieren und es ist gut, dass sich das Kabinett darauf verständigt hat. | |
In dem Punkt sind wir Grünen sehr klar. Beim Zwei-Prozent-Ziel auch: Es ist | |
nicht sinnvoll, die Verteidigungsfähigkeiten am Wachstum des BIP zu | |
orientieren, sondern an den Fähigkeiten, die notwendig sind. | |
Als Olaf Scholz im Bundestag das Sondervermögen ankündigte, sind Sie anders | |
als die Union nicht zu Standing Ovations aufgesprungen. Warum nicht? | |
Ich frage mich, warum die Union das gemacht hat. [2][Im Bundestag] sind | |
Standing Ovations selten. Als es darum ging, der Ukraine Solidarität | |
auszudrücken, als Herr Melnyk nach dem russischen Angriff auf der Tribüne | |
stand: Das ist so ein Moment, in dem ich aufstehe. Und die Union mit ihren | |
Standing Ovations muss sich jetzt auch fragen: Was folgt eigentlich aus | |
eurem Applaus? Lasst ihr die Grundgesetzänderung wirklich scheitern, so | |
dass es am Ende kein Geld für die Bundeswehr gibt? Diese Frage muss sich | |
jeder in der Union jetzt stellen. | |
Nach Nordrhein-Westfalen könnte es nicht nur mit der Union schwieriger | |
werden, sondern auch mit den Koalitionspartnern. In der FDP gibt es den | |
Drang, sich nach den Niederlagen in den Ländern im Bund noch stärker zu | |
profilieren. | |
Uns gegenüber äußert sich das nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass die | |
Ampel für alle drei Partner nur als gemeinsames Projekt gut funktioniert. | |
Klar muss man dafür auch immer wieder nach den Dingen schauen, die für alle | |
drei gut funktionieren und dann gemeinsam positiv darüber sprechen. | |
Wo sind denn die gemeinsamen Projekte, die die Ampel noch mal | |
zusammenschweißen könnten? | |
Beispielsweise bei der progressiven Gesellschaftspolitik. Wir finden, dass | |
Menschen, die schon länger in Deutschland leben, oft gut integriert sind | |
und einen Arbeitsplatz haben, endlich auch eine Bleibeperspektive brauchen. | |
Für Menschen, die mit sogenanntem Duldungsstatus länger als fünf Jahre in | |
Deutschland leben, braucht es mit einem neuen Chancenaufenthaltsrecht eine | |
verlässliche Möglichkeit zur Ausbildung, Weiterbildung oder für einen | |
dauerhaften Job. Also endlich mal anzukommen und Fuß fassen zu können. | |
Wann geht die Ampel das Thema an? | |
Ich will, dass wir mit einer modernen Migrationspolitik jetzt Tempo machen | |
und noch dieses Jahr erste Schritte umsetzen – auch bei einfacheren | |
Arbeitsvisa. Beim Thema Fachkräfte gehen die Chancen und Bedarfe von | |
Zuwanderung zusammen. Wenn wir über eine schnellere Wärmewende sprechen, | |
dann fragen mich alle, woher denn die Fachkräfte kommen, die die Gebäude | |
sanieren und Heizungen austauschen sollen. Es war immer die Union, die da | |
auf der Bremse stand – völlig unvernünftig für eine Partei, die sich selbst | |
Wirtschaftspartei nennt. Für die Ampel ist das ein zentrales und | |
gemeinsames Zukunftsprojekt. | |
In anderen Bereichen drohen Konflikte. Wenn die Preise in der Krise weiter | |
steigen, könnte ein drittes Entlastungspaket nötig sein. Mit der FDP wird | |
die Finanzierung schwierig. | |
Wenn insbesondere die [3][Gaspreise] weiter steigen, kommen wir in eine | |
Situation, in der schon Familien mit Durchschnittseinkommen die Kosten | |
nicht mehr tragen können. Dann könnten wir ein drittes Entlastungspaket | |
brauchen. Das schauen wir uns sehr genau an. Auch mit Blick auf die | |
Schuldenbremse sage ich: Wir müssen uns die wirtschaftliche Entwicklung | |
genau anschauen, auch aufgrund der Dynamiken, die durch den Krieg in der | |
Ukraine entstehen. Wenn es so weitergeht, kann es sein, dass wir 2023 die | |
Schuldenbremse nicht einhalten können. Dann werden wir mit Christian | |
Lindner reden müssen. | |
20 May 2022 | |
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