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# taz.de -- Hungerkrisen durch den Ukrainekrieg: „Der Krieg verschärft das P…
> Martin Frick vom Welternährungsprogramm in Berlin sieht eine Bedrohung
> für die Ernährungssicherheit. Dabei werde eigentlich genug Essen
> produziert.
Bild: Sehr viel Getreide wird für die Viehzucht verwendet
taz: Herr Frick, es gibt eine Klimakrise, eine Coronakrise und jetzt den
Krieg in der Ukraine. Was bedeutet das weltweit für Menschen, die hungern?
Martin Frick: Wir haben schon im Dezember Alarm geschlagen. Die
[1][Coronakrise] hat 141 Millionen Menschen zusätzlich in die
Ernährungsunsicherheit getrieben. Wir beobachten schon seit einiger Zeit
steigende Lebensmittel- und [2][Treibstoffpreise]. Bereits im Januar waren
die Preise für Weizen, Öle und Lebensmittel gegenüber dem Vorjahr um 60
Prozent gestiegen. Der [3][Weltklimarat] hat gerade einen Bericht
veröffentlicht, der alarmierende Zahlen zur Ernährungssicherheit geliefert
hat, das hatte noch nichts mit der Ukraine zu tun. Die [4][Ukrainekrise]
hat diese Unsicherheit noch verschärft. Aber wir haben keine
Produktionskrise, wir haben eine Verteilungskrise.
Ist das nicht ein Widerspruch? Es gibt genügend Nahrung, andererseits haben
Millionen Menschen nicht genügend zu essen.
Nach neuesten Zahlen leisten wir es uns, mehr als ein Drittel der erzeugten
Lebensmittel zu verschwenden. Viel importiertes Getreide landet nicht in
menschlichen, sondern in tierischen Mägen, wird für die Produktion von
Milch und Fleisch genutzt. In reichen Ländern können wir von einer
Verschwendungskrise sprechen, die gespiegelt ist von einer Ernährungskrise
in den armen Ländern. Dort werden zwar häufig Lebensmittel erzeugt, finden
aber nicht den Weg zum Verbraucher, weil Transportwege fehlen, Kühlketten
und Verarbeitung nicht existieren. Wir produzieren zwar genug, aber
verteilen nicht gerecht.
Im reichen Norden müssten wir unsere Lebensweise ändern, damit der arme
Süden mehr bekommt?
Wir müssen viele Dinge gleichzeitig tun. Erstens, dafür sorgen, dass die
Weltmärkte offen bleiben und nicht eingeschränkt werden durch Hamsterkäufe
von Staaten oder Beschränkungen. Wir müssen flexibel bleiben und
kurzfristig Lebensmittel zur Verfügung stellen, um den Menschen zu helfen.
Aber das reicht nicht. Wir müssen mittel- und langfristig den Menschen im
Süden helfen, selbst wieder Lebensmittel anzubauen und zu produzieren, und
zwar in größerer Bandbreite. Wir haben weltweit eine Reduktion auf eine
westliche Diät, die von sehr wenig Grundnahrungsmitteln abhängt. Und diese
werden zudem von sehr wenigen Ländern in großen Maßstab produziert. Es gibt
noch weniger Länder, die solche Mengen bevorraten. [5][Was ein Ausfall
bedeutet, sehen wir jetzt im Fall der Ukraine und Russland.] Wir können
zwar auf dem Weltmarkt weiterhin die Grundnahrungsmittel einkaufen, die wir
brauchen. Sie kosten nur sehr viel mehr Geld, und der Transport verteuert
sich.
Das World Food Programme hat für 2022 einen Finanzierungsbedarf von knapp
20 Milliarden Dollar angemeldet. Zugesagt sind bislang nur knapp 9
Milliarden. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Wir haben im letzten Jahr so viel Geld wie noch nie, nämlich 9,4 Milliarden
Dollar bekommen. Das hat angesichts explodierender Not aber nicht gereicht.
Viele Menschen, die wir erreichen sollten, konnten wir nicht erreichen. In
diesem Jahr könnten es sogar mehr sein, weil wir nicht genügend Geld haben
und immer mehr Menschen in Hunger und Armut abrutschen. Hinzu kommt: Wir
bekommen ja keinen Riesentopf flexibel einsetzbares Geld, sondern sind zu
94 Prozent projektfinanziert, die Geberländer bestimmen, wo wir ihre
Beiträge einsetzen sollen. Das heißt, wir können Geld nicht einfach
umwidmen. Im Dezember mussten wir im Jemen die Rationen für 8 Millionen
Menschen kürzen, um andere im Land vor dem Verhungern zu retten. Wir
verwalten den Mangel und walzen den Teig so dünn aus, wie es irgend geht,
um den Menschen zu helfen.
Deutschland beteiligt sich nach den USA am stärksten an der Finanzierung
des Welternährungsprogramms. Im vergangenen Jahr mit 1,4 Milliarden Dollar.
Reicht das?
Es reicht nicht aus. Aber wir erwarten, dass die Last auf mehr Schultern
verteilt wird, und appellieren hier auch an die Verantwortung anderer
Staaten. Wir hoffen, dass Deutschland uns mindestens auf demselben Level
unterstützt wie im vergangenen Jahr, wobei man sagen kann, dass der
deutsche Beitrag in den letzten Jahren sehr stark gestiegen ist, nicht
zuletzt, weil für Afghanistan eine Rekordsumme von 1,2 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt wurde.
Geraten Hungerkrisen wie in Afghanistan angesichts der Ukrainekrise aus dem
Blick?
Wir bemühen uns, dass sie nicht vergessen werden. Wir haben nach wie vor
eine humanitäre Katastrophe [6][in Afghanistan], im [7][Jemen], in
Äthiopien, wir haben sehr gefährliche Entwicklungen im Sahel. Am Horn von
Afrika sind 13 Millionen Menschen nach drei Jahren Dürre akut von Hunger
bedroht. Es ist ein globales Problem, das sich durch den Ukrainekrieg
weiter verschärfen wird. Weil Länder, die schon an der Kippe stehen, weiter
herausgeschoben werden und Familien, die schon jetzt bis zu 80 Prozent des
Einkommens für einfachste Grundnahrungsmittel ausgeben müssen, sich das gar
nicht mehr leisten können.
Und dann?
Sind sie auf Hilfe angewiesen. Und diese Hilfe ist eigentlich die letzte
Stufe eines Versagens des internationalen Systems. Menschen werden dann zu
einem Fall für humanitäre Hilfe, wenn alles andere nicht funktioniert hat.
Deswegen dürfen wir uns nicht nur auf die kurzfristige Hilfe fokussieren,
die natürlich enorm wichtig ist, lebenserhaltend. Aber wir müssen dafür
sorgen, dass Menschen resilienter werden, dass sie selbst auf die Beine
kommen und Krisen abfedern können.
27 Apr 2022
## LINKS
[1] /Daten-zu-Neuinfektionen-in-Deutschland/!5851065
[2] /US-Importstopp-fuer-russisches-Oel/!5839787
[3] /Bericht-des-Weltklimarats-IPCC/!5845033
[4] /-Nachrichten-im-Ukrainekrieg-/!5851045
[5] /Weizenkrise-und-Ukraine-Krieg/!5844762
[6] /Drogenwirtschaft-in-Afghanistan/!5843405
[7] /Waffenstillstand-im-Jemen/!5843284
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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