# taz.de -- Festival an der Schaubühne Berlin: Zentrum für Trost und Sorge | |
> Die Schaubühne Berlin hat für das Festival FIND Gastspiele aus den USA, | |
> Frankreich und Chile eingeladen. Es geht um Polizei-Gewalt, Schmerz und | |
> Trauer. | |
Bild: Dael Orlandersmith in der Performance „Until the Flood“ bei Festival … | |
Man sitzt in diesen Tagen anders im Theater. Vor dem Hintergrund des | |
Krieges in der Ukraine verändert sich, was einen von der Bühne aus erreicht | |
und berührt. Eine Spannung ist da, die erst überwunden werden muss, und | |
eine Dünnhäutigkeit. | |
Bilder von Grausamkeit und Folter, wie sie das Teatro La Re-sentida aus | |
Santiago de Chile in einem Tanztheaterstück über Disziplinierung, | |
Gruppenzwang und Demütigung nutzen, lassen sich schwer ertragen und die | |
Gedanken schweifen voll Schrecken ab zu Bildern von den Toten des realen | |
Krieges. Szenen der Gemeinschaft, von Trost und Unterstützung der von | |
Verlusten Getroffenen, wie sie im Mittelpunkt des Stücks „Fraternité, Conte | |
fantastique“ der französischen Theatermacherin Caroline Guiela Nguyen | |
stehen, erinnern an das hilfesuchende Zusammenrücken der Menschen in der | |
Ukraine in den angegriffenen Städten. | |
So wird einerseits zwar der Aspekt der Universalität gestärkt, den das | |
Theater behauptet – andererseits relativiert sich ständig, was in der Kunst | |
als Bedeutung durchdringt. | |
Keine leichten Zeiten also für Theater. Das Festival Internationale Neue | |
Dramatik, zu dem die Schaubühne in Berlin seit 2000 einlädt und in dessen | |
aktueller Ausgabe (noch bis 10. April) die oben genannten Produktionen zu | |
sehen waren, kann zwar endlich wieder live stattfinden nach | |
[1][pandemiebedingten Absagen]. Aber Festivalstimmung geht diesmal | |
nicht. Nach jeder Vorstellung werden Spenden gesammelt, abwechselnd für | |
eine Frauentheatergruppe aus Afghanistan und eine Gruppe aus der | |
Ukraine. | |
Finster ist das Bild der Gesellschaft, das das [2][Teatro La Re-sentida] in | |
„Oasis de la Imprunidad“ (Deutsch: „Oase der Straffreiheit“) zeichnet. | |
Schmächtige und groteske Gestalten, mit zu großen Ohren und zu kleinen | |
Schuluniformen, durchlaufen ein Training der Grausamkeit. Im Paartanz | |
reißen sie sich an den Haaren, üben Foltergriffe am eigenen entblößten | |
Körper, sind jederzeit zu Spott, Verrat und Opferung dessen bereit, der aus | |
den Spielen der Demütigung ausscheren will. Das ist inszeniert von Marco | |
Layera wie ein Karneval; aber hinter den unter Zwang angenommenen Rollen | |
gibt es keine andere Identität, keinen Ort des Rückzugs mehr. | |
## Geschlossener Raum | |
Layeras Bilder sind drastisch, man kann sie auf die Vergangenheit Chiles in | |
der Pinochet-Diktatur beziehen oder auf Systeme der Unterdrückung | |
allgemein. Aber die Szenen bleiben grobe Karikaturen, ohne Ansatz, wie sich | |
eine Perspektive ändern könnte. Es sind Bilder aus einem geschlossenen | |
Raum. | |
Von einer Vielzahl der Perspektiven, vom Nachzeichnen vieler Konturen, die | |
einen Unterschied machen, lebt dagegen das Solostück der Schauspielerin und | |
Autorin Dael Orlandersmith aus der US-Metropole St. Louis, „Until the | |
Flood“. In Ferguson, der Vorstadt von St. Louis, in der im [3][August 2014 | |
der schwarze Teenager Michael Brown von dem weißen Polizisten Darren | |
Wilson] erschossen wurde, hat sie Interviews geführt und daraus acht | |
Charaktere geformt, deren Gedanken über die tödlichen Schüsse wir hören und | |
wie ihr Leben sich seitdem verändert hat. | |
Da gibt es den 17-jährigen Paul, der im gleichen Sozialwohnungsblock wie | |
Michael Brown lebt und Angst hat, wenn er mit Freunden draußen ist. Er | |
zählt die Tage, bis er weg kann, zum Studium in Berkeley und hofft, dass er | |
es schafft. Ein alter schwarzer Friseur nimmt Gestalt an, Reuben, der sich | |
gegen die Vereinnahmung als Opfer wehrt durch junge naive Frauen, weil er | |
schwarz und arm sei. | |
Eine pensionierte Lehrerin denkt über ihre Jahrzehnte der Kämpfe nach, die | |
öffentlichen, gegen Rassismus, aber auch die in der Familie, weil sie sich | |
in der Jugend der Angepasstheit ihres Vaters schämte und später mit dieser | |
Verurteilung hadert. | |
## Kult des Männlichen | |
Orlandersmith’ Protagonist:innen, in die sie sich ohne großes Aufheben | |
verwandelt, sind schwarz, weiß, jung, alt, männlich und weiblich. | |
Auffallend ist, dass sie mit einigen ihrer Stimmen beide jungen Männer, den | |
Erschossenen und den Schützen, als Produkte eines Systems sieht, das in | |
einem Kult des Männlichen feststeckt. | |
Selten gelingt es einem Theaterstück in knapp 70 Minuten so gut, den Raum | |
des Nachdenkens, für den Blick in die Geschichte, für eine | |
Auseinandersetzung mit Rassismus so sensibel zu öffnen. Die vielfach mit | |
Preisen ausgezeichnete Theatermacherin Orlandersmith hat mit „Until the | |
Flood“, mit dem sie schon viel in den USA getourt ist, dem Festival FIND | |
einen Höhepunkt beschert. | |
## Essenspakete für Einsame | |
Die Inszenierung „Fraternité, Conte fantastique“ aus Frankreich spielt in | |
einem Zentrum für Trost und Sorge. Immer wieder wird der Tisch gedeckt, | |
werden Essenspakete für Einsame gepackt, Botschaften an vermisste Menschen | |
in den Äther gesandt. Es macht Freude, dem Cast der Inszenierung, | |
Schauspieler und Laien, beim Herumwuseln, Trösten, Diskutieren zuzusehen. | |
Sie reden französisch, englisch, vietnamesisch und arabisch, teils ist die | |
Übersetzung als hilfreiche Geste teil des Spiels, teils leistet sie die | |
Übertitelung. Dieser Mehrsprachigkeit so einfach folgen zu können, hat | |
utopisches Potenzial. | |
Ebenso, wie soziale Grenzen in dieser Gruppe überwunden sind. Doch was sie | |
zusammenhält, ist der Schmerz, alle haben – und hier beginnt das | |
Fantastische und leider Wabernde der Geschichte – Angehörige bei einer | |
Sonnenfinsternis verloren. Ihre Herzen, schwer von Trauer, schlagen | |
verlangsamt, und geheimnisvoll ans Universum gekoppelt nimmt auch die | |
Bewegung der Planeten ab. Es läuft darauf hinaus, dass sich Menschen von | |
ihren Erinnerungen trennen müssen, bevor Zukunft möglich scheint. | |
Diese überkonstruierte und letztendlich etwas therapeutisch orientierte | |
Geschichte nimmt einen dann doch nicht über drei Stunden lang mit. Das ist | |
schade, eigentlich hat die Regisseurin Caroline Guilea Nguyen mit dem Cast | |
eine ideale Basis für ein Stück über die Herausforderungen der Gegenwart. | |
8 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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