# taz.de -- Regisseurin Nguyen beim Festival FIND: Die Freiheit der Fiktion | |
> Sich der Komplexität der Realität stellen: Die französische | |
> Theatermacherin Caroline Guiela Nguyen inszeniert drei Stücke an der | |
> Schaubühne Berlin. | |
Bild: Hier wird geschneidert: Das Modeatelier im Stück „Lacrima“ von Carol… | |
Sie ist eine Geschichtenerzählerin. Ihre sind Geschichten, die Gemeinschaft | |
zwischen den Erzählenden und den Zuschauenden stiften. So sieht sich | |
Caroline Guiela Nguyen in erster Linie, als Autorin. Dann als Regisseurin | |
ihrer eigenen Stücke. Und schließlich als Leiterin eines Theaters, des | |
Théâtre National de Strasbourg, dessen Intendantin sie seit 2023 ist. | |
Der Schaubühne in Berlin ist die französische Künstlerin schon seit einigen | |
Jahren verbunden. Dieses Jahr ist sie als [1][„Artist in Focus“ mit drei | |
Stücken zu FIND, dem Festival Internationaler Neuer Dramatik, eingeladen]. | |
Ihre Inszenierungen sind fast immer vielsprachig: Schon in ihrem Sound | |
führen sie in die geopolitischen Verflechtungen von globalisierten Märkten | |
und Migration, deren Auswirkungen für das Leben der Einzelnen sie bis in | |
intime Situationen hinein verfolgt. | |
Alle ihre Stücke sind somit ein programmatisches Signal gegen eine | |
nationale und nationalistische Verengung von Erzählungen (in Frankreich und | |
anderswo). Sie wenden sich gegen eine Entwertung von Wirklichkeit und eine | |
Negierung von Komplexität, die die Theatermacherin sowohl in den | |
rechtsgerichteten Kräften der Politik am Werk sieht, als auch in den | |
vereinfachten und einseitigen Weltbildern der sozialen Medien, in denen | |
Meinung zu schnell den Blick auf die Wirklichkeit ersetzt. | |
## Sinnliches und zugängliches Theater | |
Die Mittel, mit denen sie in ihren Inszenierungen dagegen hält, sind | |
sinnlich und von großer Zugänglichkeit. Die Szenen sind oft alltagsnah, das | |
Bühnenbild detailreich, die Spielenden beschäftigt mit konkreten | |
Gegenständen, so dass immer wieder ein Wimmelbild entsteht. Ihre | |
Bühnenbildnerin Alice Duchange, so erzählt Nguyen im Gespräch im | |
Schaubühnen-Café, baue auch Details ein, die das Theaterpublikum gar nicht | |
sehe, die aber den Darsteller:innen auf der Bühne helfen, sich | |
glaubwürdig in ihre Rollen hineinzuarbeiten. | |
Das ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sich Nguyen für jede | |
Inszenierung neben einigen Stammschauspieler:innen auch neue | |
Darsteller:innen sucht, entsprechend der Geschichte. Das sind teils | |
auch Amateure. Die bringen dann nicht nur ihre eigene Sprache mit, sondern | |
teilen auch Erfahrungen mit ihren Rollen. | |
Aber das hat auch zu einer Einordnung ihrer Theaterarbeit geführt, die | |
Nguyen zu einseitig ist. 2018 entstand ihr erfolgreiches Stück „Saigon“, | |
das sie auch diesmal wieder in Berlin zeigt. Es spielt in Paris und in | |
Saigon in einem vietnamesischen Restaurant und reflektiert Kolonial- und | |
Einwanderungsgeschichte. Seitdem gilt sie als Spezialistin für migrantische | |
Themen und ihre Arbeit als Dokumentartheater. Aber diese Einordnung ist ihr | |
zu eng, ihre Geschichten sind auch fiktional und die Schauspieler:innen, | |
die oft mehr als eine Rolle übernehmen, gehen damit auch weit über ihre | |
Biografien hinaus. | |
## Auf Dokumentartheater festgelegt | |
Das ist für Caroline Guiela Nguyen ein wichtiger Punkt, denn sie findet es | |
falsch und begrenzend, dass auf vielen Bühnen Frankreichs, Künstler:innen, | |
die mit einem rassifizierenden Blick wahrgenommen werden, festgelegt werden | |
auf Dokumentartheater und Herkunftsgeschichten. Was sie erzählen können und | |
bei Nguyen erzählen, ist aber viel mehr. | |
Caroline Guiela Nguyen wurde 1981 geboren und wuchs in Südfrankreich auf, | |
Tochter einer französisch-vietnamesischen Mutter und eines Vaters, der als | |
sephardischer Jude aus Algerien nach Frankreich gekommen war. Herkunft zu | |
erkunden, war für sie ein wichtiges Thema einerseits, um gegen die Lücken | |
anzuarbeiten, die zum Beispiel durch das Nicht-Thematisieren französischer | |
Kolonialgeschichte entstanden waren. Andererseits galt es, sich gegen die | |
Erzeugung von Stereotypen zu wehren, die der Herkunft angeheftet werden. | |
Dieser Spagat begleitet sie in ihren Stücken. | |
Ihre Arbeiten sind von einer berührenden Emotionalität. Vor drei Jahren kam | |
sie mit [2][„Fraternité“] zum Festival FIND, eine Bündelung von Geschicht… | |
um Verluste von geliebten Menschen, um Trauer und um die Suche nach Trost, | |
eingebunden in eine Science-Fiction-Story. In [3][„Lacrima“] erzählt sie | |
von der Herstellung eines prächtigen Brautkleids in einem Pariser | |
Modeatelier. | |
## Die Stickerinnen von Alencon | |
Sie taucht ein in die Geschichte der Stickerinnen von Alençon, deren | |
Konzentration bei der Arbeit so groß ist, dass man Sorge tragen muss, dass | |
sie das Atmen nicht vergessen. Im Video erlebt man eine wirkliche | |
Stickerin, die mit ihrer Tochter in der Gebärdensprache redet, denn | |
tatsächlich wurden in dem Gewerbe viele Taube beschäftigt, weil man davon | |
ausging, dass sie sich nicht durch Reden ablenken. | |
Nguyen erzählt auch von einem Perlensticker in Mumbai, der über seiner | |
Arbeit erblindet, auch weil er, um eine Frist einzuhalten, viel zu lange | |
gearbeitet hat. Sie beleuchtet die Ausbeutung durch die zwischen Frankreich | |
und Indien bestehenden Arbeitsbedingungen, aber auch den Stress, der die | |
Leiterin des Modeateliers in Paris zusammenbrechen lässt. Einzelne | |
Abschnitte sind wie Exkurse gebaut, die in die Geschichte eines Handwerks | |
tauchen. | |
Im gesellschaftlichen Diskurs auch hier in Deutschland ist viel von | |
mangelnder Wertschätzung der Arbeit die Rede. In den Künsten wird dagegen | |
vermehrt der Fokus auf handwerkliche Traditionen, die Weitergabe von Wissen | |
mit speziellen Techniken betont. Das war für Caroline Guiela Nguyen zwar | |
zunächst nicht der Ausgangspunkt für „Lacrima“; aber rückte dann doch im… | |
mehr in den Fokus, je mehr sie während ihrer Recherchen über die | |
Spitzenstickerinnen aus der Normandie und die Perlensticker aus Mumbai | |
erfuhr. Jetzt setzt ihnen das Stück ein lebendiges Denkmal. | |
## Profis und Amateure | |
Nguyens Inszenierungen leben auch davon, dass man den vielsprachigen Cast, | |
zusammengesetzt aus Profis und Amateuren, mit sehr jungen und sehr alten | |
Darsteller:innen, auch als eine Gemeinschaft erlebt, die sich dabei | |
unterstützt, ihre Geschichte zu erzählen. Der detailfreudige Realismus, mit | |
dem die Ensembles dabei arbeiten, wurzelt für die Regisseurin auch noch in | |
einer speziellen Erfahrung. | |
Acht Jahre lang hat sie mit Langzeitgefangenen in einer Haftanstalt in | |
Arles gearbeitet. „Für die war die Glaubwürdigkeit ihrer Rolle“, so | |
beschreibt es Nguyen, „eine Lebensnotwendigkeit. Die Fiktion war ihr | |
einziges Mittel, woanders zu sein, außerhalb des Gefängnisses.“ Auch aus | |
diesem Erleben heraus ist ihr die Freiheit der Fiktion wichtig. | |
Caroline Guiela Nguyen arbeitet lange an ihren Stücken, oft zwei Jahre. | |
„Ich bin keine Maschine“, kommentiert sie das, auch mit Seitenblick auf | |
einen Theaterbetrieb, der stets Neues verlangt. Dass ihr jüngstes Stück | |
„Valentina“ ein Jahr nach „Lacrima“ zur Premiere kommt, ist eine Ausnah… | |
Noch vor seiner Uraufführung in Straßburg in zwei Wochen wird es als | |
Vorpremiere an der Schaubühne gezeigt. | |
Wieder liegt ein Fokus auf der Sprache, wo sie Zugang zu einer Welt und | |
Gesellschaft schafft und wo Sprachgrenzen zu sozialer Ausgrenzung führen. | |
Erzählt wird von einer Mutter und ihrer Tochter, die aus Rumänien nach | |
Frankreich gekommen sind. Die Tochter muss für die Mutter dolmetschen, auch | |
als es um eine lebensbedrohliche Krankheit geht. | |
Die öffentlichen Sozial- und Gesundheitssysteme trügen der Tatsache, dass | |
viele Menschen in Frankreich nicht oder nicht gut genug Französisch | |
könnten, zu wenig Rechnung. Dolmetscher fehlten zu oft, Kindern werde so | |
viel aufgebürdet; dieser Befund hat Nguyen zu dieser Geschichte gebracht. | |
9 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /FIND-Theaterfestival/!6077393 | |
[2] /Festival-an-der-Schaubuehne-Berlin/!5848093 | |
[3] /FIND-Theaterfestival/!6077393 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Frankreich | |
Schaubühne Berlin | |
Festival | |
Arbeitsbedingungen | |
Politisches Theater | |
Theater | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kirgisisches Theater in Berlin: Stimmen aus Kirgistan | |
In Berlin inszeniert ein kirgisisches Ensemble Interviews aus dem | |
zentralasiatischen Land. Sie sind zu Zeiten der Corona-Pandemie entstanden. | |
FIND-Theaterfestival: Auch im Intimsten sitzt die Gesellschaft | |
Beim FIND-Festival für zeitgenössische Dramatik sind Stimmen von Menschen | |
zu hören, die sonst im Schatten der großen Ereignisse stehen. | |
Festival an der Schaubühne Berlin: Zentrum für Trost und Sorge | |
Die Schaubühne Berlin hat für das Festival FIND Gastspiele aus den USA, | |
Frankreich und Chile eingeladen. Es geht um Polizei-Gewalt, Schmerz und | |
Trauer. | |
Auswahl Theatertreffen 2022: Eigenartige Bewegungen | |
Im Mai findet in Berlin das Theatertreffen statt. Die Kritiker-Jury stellte | |
ihre Auswahl von zehn Inszenierungen vor. |