| # taz.de -- Kirgisisches Theater in Berlin: Stimmen aus Kirgistan | |
| > In Berlin inszeniert ein kirgisisches Ensemble Interviews aus dem | |
| > zentralasiatischen Land. Sie sind zu Zeiten der Corona-Pandemie | |
| > entstanden. | |
| Bild: Gegen die Geringschätzung der westlichen Welt – Szene aus NEST | |
| In Kirgistan ist die Zinkwanne der Thron der kleinen Leute, begreift man im | |
| Ku’damm 56, der Nebenspielstätte der Schaubühne in Berlin. Da sitzt | |
| Zhusupbek uulu Emil in einer. Um ihn herum wuseln drei | |
| Schauspielkolleginnen und schütten ihm ständig Wasser über sein Haupt. | |
| Gleichzeitig rotieren sie mit Wischmop und Putzlappen in der Miniwohnung, | |
| die als Bühne fungiert in „Nest“, dem ersten kirgisischen Gastspiel beim | |
| [1][Festival Internationale Dramatik (FIND)] seit seiner Gründung vor 25 | |
| Jahren. | |
| Regisseur Chagaldak Zamirbekov und sein Ensemble haben sich während der | |
| Pandemie in die eigenen vier Wände zurückgeworfen, mit Geborgenheitsräumen | |
| beschäftigt. 30 Menschen aus verschiedenen Regionen des Landes, aus | |
| diversen gesellschaftlichen Gruppen und sämtlicher Altersstufen haben sie | |
| zu dazu befragt. Sechs dieser Interviews schafften es als Originaltexte in | |
| die Inszenierung. | |
| So hält Zhusupbek uulu Emil in der Zinkwanne den Monolog eines jungen | |
| Mannes, dessen Vater sich als Koranstudent Ende der 90er Jahre in der | |
| zentralasiatischen militant-islamistischen Hizb ut-Tahrir-Bewegung | |
| radikalisiert. Er entzieht sich der strafrechtlichen Verfolgung durch | |
| Flucht ins Ausland und gilt in Kirgistan offiziell als Volksfeind. | |
| Der junge Mann breitet sich über sämtliche Unterströmungen der | |
| hanafitischen Rechtsschule aus, der er angehört, und verkündet dann: „Ich | |
| denke, dass Kirgistan derzeit den führenden religiösen Einfluss innerhalb | |
| der GUS darstellt. Wenn Gott will, wird Kirgistan durch den Islam | |
| weltbekannt werden.“ | |
| ## Nähe zum Publikum | |
| Zamirbekov und sein Ensemble lassen die Aussagen der Interviewten im Raum | |
| stehen. In der Bühne von Marat Raiymkulov und Malika Umorava schaut das | |
| Publikum von drei kleinen Tribünen durch ein Fenster oder eine Tür in die | |
| Einzimmerwohnung. Das Ensemble bewegt sich ständig aus der Wohnung und in | |
| den schmalen Bühnenstreifen davor, schlägt sich die Türen zwischen den | |
| Tribünen vor der Nase zu und geht immer wieder auf Tuchfühlung mit dem | |
| Publikum. | |
| So quetscht sich die an Guckkastenbühnen gewöhnte, mit dem Titel „verdiente | |
| Volksschauspielerin“ ausgezeichnete Tursunbaeva Gulmira immer mal wieder in | |
| die erste Reihe. Ihr energiereiches Spiel kommt bis in die letzte Ritze, | |
| egal, wo sie gerade ist. Gulmira gibt einer fast 100-Jährigen und einer | |
| 50-Jährigen ihre Stimme. | |
| Deren Lebensgeschichten werfen Schlaglichter auf die allgemeine | |
| Verfasstheit der kirgisischen Gesellschaft. So wurde die alte Frau, die nie | |
| lesen und schreiben gelernt hat und mit 13 von ihrem künftigen Ehemann im | |
| Konsens mit ihren Eltern entführt wurde, irgendwann von ihrer Familie ins | |
| Altersheim abgeschoben. | |
| Arzymatova Taalaigul wiederum, in ihrer Lebensmitte, hat vor gut 15 Jahren | |
| einen Ort für Frauen und Kinder geschaffen, die von ihren Männern | |
| beziehungsweise Vätern und einer extrem männerdominierten Gesellschaft im | |
| Stich gelassen werden. So ist es, wenn Mütter für den Lebensunterhalt der | |
| Familie allein aufkommen müssen, „unsere Mission, Kinder nicht von ihren | |
| Müttern zu trennen“, sagt Arzymatova Taalaigul. | |
| Auch unverheiratete ungewollt Schwangere, von der Familie verstoßen, finden | |
| hier Obdach und Schutz und können in Geborgenheit ihr Kind zur Welt | |
| bringen. | |
| Asylbek kyzy Zeres Spiel ist reduziert, leise und gleichzeitig intensiv. | |
| Sie gibt die Worte einer jungen wütenden Frau wieder, die sich über die | |
| westliche Perspektive auf Kirgistan, bis 1991 Teil der UdSSR, als | |
| Dritte-Welt-Land echauffiert. Und sie fragt: „Wenn Russland uns überfallen | |
| würde, würdet ihr uns beistehen?“ | |
| Ihre These ist: In der Ukraine sind es weiße Menschen, die bedroht sind, | |
| darum werden sie so massiv unterstützt. Mit Verve verteidigt sie ihre | |
| glückliche Kindheit in der Geborgenheit einer Einzimmerwohnung gegen die | |
| Geringschätzung der westlichen Welt. | |
| 14 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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