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# taz.de -- Japanischer Horrorfilmklassiker: Tote nasse Mädchen
> Seit 20 Jahren gehört „Ju-on: The Grudge“ zum Gruselkanon. Dessen
> weibliche, langhaarige Geister haben in Japan eine lange
> Kulturgeschichte.
Bild: Kayako aus „Ju-on: The Grudge“ ist ein Onryō, ein sich für patriarc…
Rika hat etwas Schreckliches auf dem Dachboden entdeckt. Die Pflegekraft
rennt Richtung Haustür, sie versucht zu fliehen. Unten im Treppenhaus hört
sie ein Geräusch und dreht sich um. Eine Gestalt starrt sie von oben an.
Dann kriecht die Gestalt auf allen Vieren die Treppe hinunter auf sie zu.
Ihre blutunterlaufenen Augen paralysieren Rika. Sie wird das Haus nicht
mehr verlassen.
Die Szene aus dem japanischen Horrorfilm „Ju-on: The Grudge“ steht weltweit
fast ikonisch für japanischen Horror. Zusammen mit dem Film „Ringu“ von
1998 erschütterte „Ju-on“ 2002 die internationale Horrorfilmfangemeinde.
Auch heute, 20 Jahre später, ist „Ju-on“ noch allgegenwärtig: Neben einem
gigantischen Franchise in Japan griffen 2020 eine Netflixserie und eine
vierte amerikanische Adaption den Stoff erneut auf.
Die anhaltende Faszination für Filme wie „Ju-on“ und „Ringu“ lässt si…
eine Gemeinsamkeit zurückführen: das „dead wet girl“, ein vorher nie
dagewesenes, markerschütterndes Filmmonster. Die „toten nassen Mädchen“ d…
Filme erkennt man leicht: Sie haben lange schwarze Haare vor dem Gesicht,
sie tragen ein weißes Nachthemd. Und sie töten.
Wieso aber schaffen es die blassen, langhaarigen Geisterfrauen, so
nachhaltig und nationenübergreifend Angst und Schrecken zu verbreiten? Die
Gründe dafür sind in Japan und dem westlichen Ausland sehr unterschiedlich.
## Geister aus der japanischen Folklore
In „Ju-on“ geht es um ein Haus in Tokio, auf dem ein Fluch liegt. Der Geist
der Frau Kayako terrorisiert alle, die es betreten. In Episoden werden
immer mehr Geheimnisse um Kayakos Tod aufgedeckt. In „Ringu“ klettert der
Geist des Mädchens Sadako aus einem Brunnen und tötet Menschen, die sich
eine Videokassette angesehen haben. Eine Frau, deren Sohn das Video
angesehen hat, stellt Nachforschungen an und versucht, den Fluch zu
brechen.
Nachdem die beiden Filme beim japanischen Publikum sehr gut ankamen,
folgten bald US-amerikanische Adaptionen, und die „dead wet girls“ zogen
auch westliche Zuschauer:innen in ihren Bann. Was viele westliche Fans
aber nicht wissen: Geister wie Sadako und Kayako gibt es in Japan schon
lange. Die Regisseure Hideo Nakata und Takashi Shimizu haben die Idee aus
der japanischen Folklore.
Die Sage: Ist eine Frau gestorben und hat eine wichtige Aufgabe nicht
beendet, kehrt sie als Yūrei zurück, als Untote – und zwar in der Regel in
der ikonischen Form: weißer Begräbniskimono, blasse Haut und lange, offene
Haare. Manchmal auch wütend und rachsüchtig.
Ist eine Frau nämlich gewaltsam gestorben, heißt es, kommt sie als Onryō
zurück: als Rachegeist. Beispiele gibt es in bekannten Geistergeschichten:
In „Yotsuya Kaidan, Die Legende von Oiwa“, aus dem Jahr 1825 vergiftet ein
Ehemann seine Frau, weil er eine andere heiraten will. „Banchō
Sarayashiki“ von 1741 erzählt von der Dienerin Okiku. Ihr
Samurai-Vorgesetzter bedrängt sie sexuell. Als sie sich wehrt, wirft er sie
in einen Brunnen. Beide Frauen kehren zurück und rächen sich an den
Lebenden.
## Rache für patriarchale Verbrechen an Frauen
Die „dead wet girls“ aus den Kultfilmen haben ähnliche Vorgeschichten wie
ihre Vorgängerinnen Oiwa und Okiku: Sadako wurde von ihrem Adoptivvater in
einen Brunnen geworfen, wo sie kläglich verendete. Seitdem klettert sie
raus, um zu töten. Kayako tötet im eigenen Haus, weil ihr eifersüchtiger
Ehemann sie und den gemeinsamen Sohn dort ermordet hat. Onryō sind nicht
grundlos böse. Sie rächen sich. Für Verbrechen, die ihnen Männer angetan
haben. Genau darin liegt auch ihr Schrecken: Sie verkörpern das schlechte
Gewissen [1][einer Gesellschaft, die Frauen misshandelt].
Weibliche Rachegeister sind Form gewordene patriarchale Angst, denn sie
machen Taten sichtbar, die die Gesellschaft lieber nicht sehen will. So
versteht es die australische Autorin Stephanie Lai in ihrem Essay „Sympathy
for Lady Vengeance“: „Was sagt es bitte über eine Gesellschaft aus, wenn
eine Frau zum Monster werden muss, um sich selbst zu schützen?“
Rache ist eine besonders starke, unfeminine Form von Selbstermächtigung.
[2][Wut ist ein Gefühl, das Frauen in patriarchalen Gesellschaften in der
Regel nicht zugestanden wird.] Eine Frau, die nach ihrem Tod zurückkehrt,
um Gerechtigkeit zu verlangen? Für ihren Peiniger gibt es wohl keine
größere Horrorvorstellung.
Im schauerlichen Aussehen der Onryō manifestiert sich männliche Angst
visuell. Lange Haare, blasse Haut: Eigentliche Schönheitsideale sind
albtraumhaft überzeichnet. Das Patriarchat wird zur Rechenschaft gezogen,
seine Opfer richten seine Gewalt auf es zurück.
In den US-amerikanischen Remakes bekommen die Rächerinnen eine andere
Bedeutung. In „The Grudge“, der Adaption von „Ju-on“ aus dem Jahr 2004,
zieht eine Familie aus den USA in das Haus in Tokio. Hilflos schaut die
blonde Hauptfigur im Supermarkt auf Ramen-Packungen, weil sie die
japanische Schrift nicht lesen kann. Das US-Publikum versteht: Man ist hier
in der Fremde.
## Anti-asiatischer Rassismus in westlichen Remakes
Auch Kayako hat sich verändert: Während sie im Original allgegenwärtig in
den Schatten des Hauses lebt und alles zu beobachten scheint, wird in der
Adaption ihr Aussehen betont: ihre verdrehten Arme und Beine, ihre
Alienhaftigkeit.
In dem Essay „Transformations of the Monstrous Feminine in the New Asian
Female Ghost Films“ von Hunju Lee heißt es, der Horror in den Remakes
entstehe vor allem aus rassistischen westlichen Vorurteilen gegenüber allem
„Asiatischen“: „Die Westler in den amerikanischen Remakes staunen und sind
entsetzt, sie sind frustriert von der asiatischen Fremdartigkeit, der
unheimlichen Atmosphäre.“
Während die originalen „New Asian Female Ghost Films“ bewusst
gesellschaftliche Missstände thematisieren, greifen in den Remakes die
kolonialistischen Regeln des Hollywood-Horrors: Für den amerikanischen
Helden gilt es, die undurchschaubare Gefahr aus der Fremde – in diesem Fall
Kayako – zu zerstören und die „normale“ Ordnung wiederherzustellen.
18 Apr 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Emeli Glaser
## TAGS
Japanischer Film
Horrorfilm
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Femizide
Film
Gewalt gegen Frauen
Patriarchat
Horrorfilm
Staatsanwalt
Kino
Spielfilm
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