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# taz.de -- Katastrophenschutz in Deutschland: Wenn es ganz dicke kommt
> Warnsirenen wurden abgebaut, Luftschutzbunker zugeschüttet. Doch die
> Katastrophen nehmen wieder zu – und man fragt sich: Sind wir gut
> geschützt?
Bild: Auf dem Dach der Bäckerei in Schönkirchen befindet sich eine von wenige…
WWWWOOOOOOoooooo… – Gerd Radisch hebt den Finger, um auf ein Geräusch
aufmerksam zu machen, das ohnehin nicht zu überhören ist. OOOOOooooouuuuu,
heult es weiter, ehe das Geräusch irgendwann verstummt. Es ist 12 Uhr an
einem Samstag Ende März in Schönkirchen, einer Gemeinde, die nordöstlich an
Kiel grenzt. „Jetzt wissen alle, dass Wochenende ist“, sagt Radisch, 68
Jahre, und schmunzelt. Seit sechs Jahren ist er Bürgermeister der rund
7.000 Einwohner:innen Schönkirchens. Und man merkt, dass er den Witz
mit dem Wochenende nicht zum ersten Mal macht.
Das laute, lang gezogene Geräusch, auf das Radisch hingewiesen hat, stammt
von einer Warnsirene. Sie soll die Schönkirchener:innen natürlich nicht
daran erinnern, dass sie heute nicht zur Arbeit müssen und sich entspannt
in den Garten legen können. Im Grunde soll sie nur darauf aufmerksam
machen, dass sie noch da ist. Dass sie funktioniert und warnen könnte –
falls es sein muss. Falls ein Hochwasser Straßen und Häuser umspült, falls
es ein größeres Gasleck im Gemeindewerk geben sollte oder auch, falls ein
Luftangriff droht.
Dass die Sirene hier, auf dem Dach der Bäckerin Rosemarie Blöcker, gleich
gegenüber der Gemeindekirche, überhaupt noch existiert, ist nicht
selbstverständlich. Anfang der Neunzigerjahre umfasste das Sirenennetz in
Deutschland noch rund 80.000 Standorte. Im Jahr 2018 konnten laut dem
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) gerade noch
15.000 Sirenen ein Bevölkerungswarnsignal senden.
Die meisten Warnsirenen wurden in den vergangenen 30 Jahren abgebaut,
andere wurden abgeschaltet. Nach der Wiedervereinigung und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion wähnte sich nicht nur der
Politikwissenschaftler Francis Fukuyama am „Ende der Geschichte“ und damit
am Ende der großen Kriegsgefahr. Alarmsirenen? Brauchte es nicht mehr in
dieser schönen, friedlichen neuen Welt.
In Schönkirchen hat man sich Anfang der Neunziger dennoch gegen den Abbau
der insgesamt fünf Sirenen in der Gemeinde entschieden. Warum? „Wir haben
einfach die Gegenfrage gestellt“, sagt Radisch. „Warum sollten wir sie
abbauen?“ Zehn Sekunden dauert das Warnsignal jeden Samstag. Dass sich mal
jemand über das Geräusch beschwert habe, daran kann Radisch sich nicht
erinnern. Doch der Bürgermeister will gar nicht in erster Linie über die
Warnsirene sprechen. Ihm geht es um das, was danach folgt: Um den Schutz
der Bürger:innen. Um den macht sich Radisch – trotz Sirenen – Sorgen.
Es ist nicht so, dass er seine Gemeinde für vollkommen schutzlos hält. Ein
Starkregen-Ereignis im vergangenen Jahr, die bisherigen Hochphasen der
Coronapandemie, auch die hin und wieder notwendigen Bombenentschärfungen
habe man bisher – alles in allem – ganz gut gemeistert. „Aber was ist, we…
es mal dicke kommt?“, fragt er. „Dann sitzen wir hier wie das Kaninchen vor
der Schlange.“
Die Frage, wie gut die Menschen in Deutschland vor Großgefahren geschützt
sind, wird von Jahr zu Jahr lauter gestellt. Denn dass es „dicke“ kommt,
wie Radisch sagen würde, wird wahrscheinlicher. Klimakrise, Pandemie und
nun auch noch Kriegsgefahr und Kriegsfolgen. In einem Zeitalter, in dem –
wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach kürzlich sagte – „die Katastrophe
die neue Normalität ist“, sollte man annehmen, dass auch der Schutz der
Bevölkerung zum politischen Alltag, zur Normalität gehört. Aber stimmt das?
Folgt man Radisch, dann liegt beim Bevölkerungsschutz in Deutschland
einiges im Argen. Formal ist seine Gemeinde für diesen gar nicht zuständig.
Für die allermeisten Katastrophenfälle sind in Deutschland die Kreise
beziehungsweise Landkreise zuständig. Sie rufen den Katastrophenfall aus,
organisieren und leiten die Krisenstäbe. Sie haben auch die Aufgabe, zu
schauen, welche Katastrophen überhaupt auftreten können, wer sie womit
bekämpfen und wie die Bevölkerung vor Gefahren geschützt werden kann. Das
jeweilige Bundesland unterstützt und kann in Extremfällen auch selbst den
Katastrophenfall ausrufen. Geregelt sind die Aufgaben und Zuständigkeiten
in den Katastrophenschutzgesetzen der Länder.
Das Problem ist: Radisch traut diesen Strukturen nicht. So lägen ihm die
Katastrophenschutzpläne des zuständigen Landkreises Plön gar nicht vor,
sagt er. Und tatsächlich macht der Versuch, die Pläne einzusehen, stutzig.
Auf eine Bitte bei der Verwaltung, einem die ausgearbeiteten Pläne zu
schicken, heißt es, dass man diese Anfrage aktuell nicht so einfach
bedienen könne. Auf den Hinweis, dass die Pläne laut
Landeskatastrophenschutzgesetz zur Einsicht ausliegen müssen, sagt eine
Mitarbeiterin am Telefon: „Im Gesetz steht viel.“
Die Frage nach dem Zustand des Bevölkerungsschutzes ist komplex.
Katastrophen haben unzählige Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen. Es
gibt Naturkatastrophen wie Erdbeben, Stürme, Hochwasser, Hitze oder
Waldbrände – teils vom Menschen verursacht, teils durch ihn verstärkt. Es
gibt technische Katastrophen. Industrieunfälle, Zugunglücke,
Flugzeugabstürze. Und es gibt Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen –
auch und gerade für die Zivilbevölkerung.
Dazu kommt, dass eine singuläre Katastrophe sehr viele verschiedene
katastrophale Folgen nach sich ziehen kann. Nach dem Ahrtal-Hochwasser 2021
kam es zu flächendeckenden Stromausfällen, die Trinkwasserversorgung war
unterbrochen, viele Patient:innen kamen nicht an ihre Medikamente.
Heizöl und Benzin lief vielerorts aus. Es drohte die nächste
Umweltkatastrophe.
Das bedeutet aber auch, dass man sich auf keine Katastrophe im Detail
vorbereiten kann. Man merkt dies unter anderem an der Formulierung in dem
entsprechenden Gesetz zum Katastrophenschutz in Schleswig-Holstein: „Eine
Katastrophe […] ist ein Ereignis, welches das Leben, die Gesundheit oder
die lebensnotwendige Versorgung zahlreicher Menschen […] in so
außergewöhnlichem Maße gefährdet oder schädigt, dass Hilfe und Schutz
wirksam nur gewährt werden können, wenn verschiedene Einheiten und
Einrichtungen des Katastrophenschutzdienstes […] zusammenwirken.“
Nicht das Ereignis bestimmt also, was eine Katastrophe ist, sondern die
Reaktionsfähigkeit des Staates, seine Überforderung.
Was der Staat kann und muss, ist Strukturen schaffen, die die Überforderung
in Grenzen halten. Formal besteht der Bevölkerungsschutz in Deutschland aus
zwei Bereichen: Dem Zivilschutz im Kriegsfall. Und dem Katastrophenschutz
für alle Katastrophen, die in Friedenszeiten auftreten. Der Bund ist für
ersteres zuständig, die Länder für letzteres.
Die Unterscheidung zwischen Katastrophen- und Zivilschutz ist historisch
gewachsen, laut zahlreicher Expert:innen jedoch nicht mehr zeitgemäß.
Operativ greifen Katastrophen- und Zivilschutzeinheiten ohnehin längst
ineinander. Der Bund packt mit der Bundeswehr und dem Technischen Hilfswerk
bei Naturkatastrophen mit an. Katastrophenschutzeinheiten wie das Deutsche
Rote Kreuz würden auch im Kriegsfall tätig werden.
Rückgrat des Katastrophenschutzes sind die Feuerwehren mit ihren über eine
Million Mitgliedern. Dazu kommen Polizei, private Hilfsorganisationen,
gegebenenfalls Gesundheitseinrichtungen, und immer wieder ein Heer von
freiwilligen Helferinnen und Helfern.
Auf den ersten Blick wirkt das alles recht gut organisiert. Doch nicht nur
Bürgermeister Radisch, sondern auch Menschen, die sich tagein, tagaus mit
nichts anderem als Bevölkerungsschutz beschäftigen, zeichnen ein eher
düsteres Bild von der zivilen Wehrhaftigkeit des Staates.
An einem Mittwoch Mitte März sitzt Martin Voss in seinem Büro am Institut
für Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Voss leitet die
[1][Katastrophenforschungsstelle] an der Universität und ist pessimistisch,
was den Zustand des hiesigen Bevölkerungsschutzes angeht. „Es gibt ein
formelles Arrangement, aber die Praxis ist davon weitgehend entkoppelt. Die
damit verbundenen Probleme müssen die vielen Akteure mit all ihrem
Engagement ausgleichen.“
Voss ist Soziologe, die Forschungsstelle ist interdisziplinär angelegt, hat
aber einen klaren sozialwissenschaftlichen Fokus. Vereinfacht ausgedrückt
könnte man sagen, dass Voss und seine Kolleg:innen sich nicht fragen,
wie viele Pumpen, Sandsäcke und Einsatzkräfte es bei einem bestimmten
Pegelstand in einer bestimmten Region braucht, sondern wie solche
Entscheidungen zustande kommen, warum sie wann, wie und von wem getroffen
werden.
Seinen Pessimismus macht Voss am Beispiel der Krisenstäbe deutlich, also
dem zentralen Beratungs- und Kommunikationsgremium in Katastrophenfällen.
Das Know-how der Beteiligten sei nicht das Problem, aber oftmals seien die
verschiedenen Expert:innen gar nicht in der Lage, miteinander zu
kommunizieren, da sie außer in Katastrophenfällen und gelegentlichen
Übungen nur selten miteinander in Kontakt kämen. „In komplexen Katastrophen
können Probleme nicht verwaltungsmäßig abgearbeitet werden“, sagt Voss.
„Man bekommt kein Bild vom großen Ganzen, nur weil man verschiedene
Spezialisten zusammenführt. Dazu braucht es besondere Kompetenzen,
sozusagen Generalisten, die wir uns aber nicht mehr leisten.“
Nun will Voss nicht nur den Mahner geben, sondern hat auch einen Vorschlag
erarbeitet, wie es aus seiner Sicht besser funktionieren könnte. Er hat
dafür ein Konzept erarbeitet, das sich „Kompetenzhubs Resilienz und Schutz
der Bevölkerung“ nennt. Dieses sieht im Kern die Einführung jener
Generalisten vor, die laut Voss so dringend fehlen. Jedem Landrat müssten
zwei bis drei Expert:innen zur Seite gestellt werden, die sich mit den
spezifischen Gefahren vor Ort auskennen und – das sei entscheidend –
gemeinsam Konzepte zur Gefahrenabwehr, aber auch zur Vorsorge entwickeln.
Gleiches gilt für die Innenminister:innen der Länder und die
Bundesebene.
„Es ist zwar die Aufgabe einer Landrätin oder eines Landrates, den
Katastrophenschutz politisch zu leiten, aber sie oder er hat dafür aktuell
nicht die Ressourcen und viel zu viele andere Aufgaben“, sagt Voss. Er
hofft, dass die Experten-Hubs diese Strukturen aufbrechen, Bürger:innen
für Gefahren sensibilisieren und so auch wieder für ein Risikobewusstsein
in der Gesellschaft sorgen könnten. Voss taxiert die Kosten für ein solches
Projekt auf einen mittleren bis höheren zweistelligen Millionenbetrag, was
angesichts der auf 12,5 Milliarden Euro bezifferten Summe an Sachschäden in
Folge des Hochwassers 2021 nicht größenwahnsinnig klingt.
Das Konzept klingt erst mal wenig revolutionär, aber es wäre laut Voss ein
radikaler Bruch damit, wie in Deutschland Bevölkerungsschutz gedacht wird:
nicht wie bisher als Reaktion auf vergangene Katastrophen, sondern als
Vorsorge auf mögliche künftige Szenarien.
Es gibt jedoch Orte, wo durchaus schon im Sinne von Voss gedacht wird: Gerd
Radisch, der Bürgermeister von Schönkirchen, steht zum Zeitpunkt des
Sirenengeheuls mit einem Tablet in der Hand in einer der zwei Turnhallen
der Gemeinde, einem Klinkerbau, der an die Schule anschließt. Inmitten
eines Parcours mit Hindernissen aus Matten, Sprungkästen und Bänken sagt
er: „Das hier soll mal unser Katastrophenschutzzentrum werden.“
Beide Turnhallen will Radisch so herrichten lassen, dass hier im Ernstfall
bis zu 150 Menschen über mehrere Tage untergebracht werden können. Das
Szenario, an das er dabei denkt, ist ein flächendeckender und
langanhaltender Stromausfall, ein Blackout. Die Turnhallen sollen ein
eigenes Blockheizkraftwerk bekommen, sodass sie autark mit Strom und Wärme
versorgt werden können. Einen entsprechenden Auftrag an die Gemeindewerke
Schönkirchen habe die Gemeindevertretung bereits vergeben, sagt Radisch.
Die Turnhalle ist nicht das erste Projekt, das in Schönkirchen für den
Katastrophenschutz umgesetzt wurde. Mittlerweile hat Radisch das Gebäude
verlassen und läuft einen Fußballplatz entlang in Richtung des Kiebitzbeks,
einem kleinen Bach am Rande der Ortschaft. Er will hier zeigen, ja
beweisen, warum sich Vorsorge aus seiner Sicht lohnt und warum sie
notwendig ist.
Der Kiebitzbek ist wenig mehr als ein Rinnsal. Radisch schlägt die
Schutzklappe seines Tablets zurück, um ein Video zu zeigen. Darauf sieht
man den Kiebitzbek, wie er mit großer Geschwindigkeit am Fußballplatz
vorbeirauscht. Der Pegel knapp unter der Grasnarbe. Das sei vor einem Jahr
gewesen. Und es wäre schlimmer gekommen, wenn die Gemeinde nicht vorgesorgt
hätte, sagt Radisch.
Er läuft ein Stück weiter zu einer kleinen Brücke und zeigt auf die zwei
darunterliegenden Durchflussrohre. Das zweite habe man erst vor zwei Jahren
angelegt, um eine Stauung des Wassers zu verhindern. Noch weiter
bachaufwärts, man steht mittlerweile im Wald, zeigt Radisch mehrere
Findlinge, die man rangeschafft habe, damit sich das Wasser im Ernstfall
hier stauen und im Waldboden versickern kann. „Wir haben in den vergangenen
Jahren mehr als eine Million Euro für den Hochwasserschutz ausgegeben“,
sagt Radisch.
Fragt man ihn, warum ihn der Katastrophenschutz so umtreibt, erzählt er von
zwei Ereignissen. Als 8-jähriges Kind erlebte er in Hamburg im Jahr 1962
die Sturmflut. Seine Familie sei zwar nicht direkt betroffen gewesen, sie
hätten aber die ganze Nacht den Polizeifunk verfolgt und natürlich das
Ausmaß der Zerstörung gesehen. Später als Soldat war Radisch im Einsatz bei
der Schneekatastrophe im Winter 1978/79. „Vielleicht hat mich das für den
Katastrophenschutz sensibilisiert“, sagt er.
Zur Wahrheit gehört aber auch das: Schönkirchen ist seit mehreren Jahren
schuldenfrei. Geld war bei all den Vorhaben zum Katastrophenschutz nie ein
K. O.-Kriterium. Dennoch legt Radisch Wert darauf, dass seine Gemeinde
nicht einfach wahllos irgendwelche Schutzvorrichtungen plant. Beim
Hochwasserschutz sei man Prognosen gefolgt. Das Hochwasser, das Radisch auf
seinem Tablet gezeigt hat, sei ein sogenanntes 30-jähriges Ereignis
gewesen, trete also den Erfahrungen der Vergangenheit nach alle 30 Jahre
einmal auf. Mit anderen Worten: Man wusste, dass es kommt. Man wusste nur
nicht, wann.
Dass Radisch nun auch die Turnhalle aufrüsten will, geht auf einen Vortrag
der Feuerwehr Neumünster aus dem Jahr 2020 zurück. Dort zeigte man
interessierten Kommunalpolitiker:innen, welche desaströsen Folgen ein
Blackout haben kann: von der Unterbrechung der Trinkwasserversorgung über
den Zusammenbruch des Kommunikationssystems bis zum Ausfall von
Tankstellen, sodass keine Rettungsfahrzeuge mehr betankt werden können –
all das habe ihn tief beeindruckt, erzählt Radisch.
Ein solches Szenario halten Expert:innen zumindest in der Zukunft nicht
für unplausibel. Denn so ein Blackout ist häufig die Folge von einer
vorangegangenen Katastrophe wie einem verheerenden Unwetter, einem
Cyberangriff oder einem Krieg.
Und doch erklärte Albrecht Broemme, Vorsitzender des Zukunftsforums
Öffentliche Sicherheit, eines Thinktanks im Bereich Katastrophenschutz,
kürzlich in der Tagesschau: „Auf einen Blackout ist Deutschland überhaupt
nicht vorbereitet.“ Die Sensibilität für die Folgen eines solchen
Stromausfalls sei in keiner gesellschaftlichen Gruppe vorhanden.
Die mangelnde Vorbereitung betrifft noch weitere Bereiche. Nicht, dass es
in Deutschland an Szenarien für mögliche Katastrophen fehlt. Das Problem
ist: Sie bleiben meist folgenlos.
Die verschiedenen Übungen, in denen ein Pandemieausbruch und seine Folgen
durchgespielt wurden, sind mittlerweile oft zitiert worden. 2007 fand unter
Federführung des BBK eine sogenannte LÜKEX statt, eine „Länder- und
Ressortübergreifende Krisenmanagementübung (Exercise)“. Übungsthema:
Ausbruch einer Grippepandemie. [2][Im Anschluss stellte man unter anderem
„Optimierungsbedarf“ beim „Meldewesen, Ressourcenmanagement und
Informationsmanagement“ fest.] Im Januar 2013 erhielten die Mitglieder des
Bundestags eine vom Robert Koch-Institut ausgearbeitete „Risikoanalyse
Bevölkerungsschutz – Pandemie durch Virus Modi-SARS“. Und im Mai 2017 übt…
die Gesundheitsminister der G20-Staaten den fiktiven Fall eines Ausbruchs
des „Mars-Virus“.
Trotz dieser drei Übungen mit teils sehr konkreten Empfehlungen im
Anschluss fehlten Deutschland beim Pandemie-Ausbruch 2020 nicht nur Masken
und andere Schutzausrüstung, es fehlte auch an den strukturellen
Voraussetzungen. Das Infektionsschutzgesetz war weitgehend unbrauchbar für
den eingetretenen Fall und musste eilig durch den Rechtsbegriff
„epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ergänzt werden, damit der Bund
überhaupt tätig werden konnte.
Es lassen sich Beispiele aus anderen Bereichen anführen. Aktuell wird in
vielen Medien die [3][LÜKEX-Übung von 2018 zu einer Gasmangel-Lage]
hervorgeholt. Auch sie blieb weitgehend folgenlos. Ein Gesetz, das
Mindestfüllmengen in Gasspeichern vorschreibt, wurde erst hektisch vor
wenigen Wochen im Bundestag beschlossen, als ein Gasembargo gegen Russland
wahrscheinlicher wurde.
Das Problem eines unzureichenden Katastrophenschutzes ist auch eines der
politischen Verantwortung. Es gibt diesen Spruch: „There is no glory in
prevention“. Anders könnte man sagen: Mit Vorsorge lassen sich keine Wahlen
gewinnen. Vielleicht noch entscheidender ist aber: Mit fehlender Vorsorge
verliert auch kaum jemand eine Wahl.
Nun ist der Bevölkerungsschutz, wie gesagt, komplex. Dazu gehört, dass
Deutschland einerseits zwar unzureichend auf viele Katastrophenszenarien
vorbereitet ist, andererseits die Menschen sicher nicht schutzlos gegenüber
Katastrophen sind. Das Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit, dessen Leiter
mit so großer Sorge auf mögliche Blackouts schaut, veröffentlichte 2020 ein
„Grünbuch zur Öffentlichen Sicherheit“. Darin heißt es: „Deutschland i…
Bevölkerungsschutz grundsätzlich gut aufgestellt.“ Aus der föderalen
Struktur folgten in der Regel „bedarfsorientierte und lokal adäquate
(Re-)Aktionen, eine erleichterte Einbindung von Ehrenamtlichen und
bürgernahe Entscheidungen“, lobt der Bericht.
Vor allem haben Politik und Blaulicht-Einheiten auch viel aus vergangenen
Katastrophen gelernt. Eine Sturmflut, wie Gerd Radisch sie 1962 in Hamburg
miterlebte, würde heute sehr wahrscheinlich keine 315 Todesopfer mehr
fordern. Deiche wurden verbessert, Wettervorhersagen und -prognosen sind
präziser und die Kommunikation ist schneller und umfassender. Auch ein
Katastrophenschutzgesetz kannte Hamburg 1962 noch nicht. Die Orkantiefs
Ylenia und Zeynep, die Mitte Februar diesen Jahres über Nord- und
Westdeutschland peitschten, sind auch deswegen von den meisten schon wieder
vergessen, weil sie groß angekündigt, gut vorbereitet und Hilfseinsätze
schnell organisiert wurden.
Allerdings bringe diese relative Sicherheit ein neues Problem mit sich,
sagt Katastrophenforscher Martin Voss von der FU Berlin. „Es hat ein
Verlernprozess stattgefunden“, sagt er. „Wir haben seit Jahrzehnten
Resilienz abgebaut.“
Das betrifft nicht nur, aber doch vor allem den Bereich des Zivilschutzes,
also den Schutz der Bevölkerung im Kriegsfall. Ein ranghoher Vertreter, der
auf Bundesebene mit dem Zivilschutz befasst ist, sagt zur taz: „Wenn man
ehrlich ist, müssen wir hier die Hosen runter lassen und sagen: Wir sind
blank.“
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden nicht nur Warnsirenen abgebaut.
„Öffentliche Schutzräume wie z. B. Luftschutzbunker gibt es nicht mehr“,
steht auf der Seite des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe (BBK). Nach einem gemeinsamen Beschluss von Bund und
Ländern im Jahr 2007 wurden viele Hochbunker zu Wohnhäusern umgebaut.
Andere werden als Kulturveranstaltungsorte genutzt oder wurden mit Zement
zugeschüttet. Im Falle eines Angriffs empfiehlt das BBK, „innenliegende
Räume mit möglichst wenigen Außenwänden, Türen und Fenstern“ aufzusuchen.
Die gefühlte Sicherheit ging so weit, dass der Vorgänger des BBK, das
ehemalige Bundesamt für Zivilschutz, Anfang der Nullerjahre weggespart
wurde und das Thema Zivilschutz fortan von einer Unterabteilung des
Bundesverwaltungsamts bearbeitet wurde. Dann kam der 11. September und hat
zumindest für ein graduelles Umdenken gesorgt, in dessen Folge entstand
2004 das heutige Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe.
Doch die Möglichkeit eines Krieges spielte bei den großen Übungen kaum eine
Rolle mehr. „Da haben wir in den letzten Jahren – gut nachvollziehbar für
mich – das Thema Krieg ausgeklammert“, sagt ein mit dem Zivilschutz
betrauter Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte. „Das fällt einem jetzt
auf die Füße, das ist so. Wir ringen um klare Empfehlungen, um klare
Formulierungen.“
Dabei muss sicher einschränkend festgehalten werden, dass die
Katastrophenschutzeinheiten der Länder dem Bund selbstverständlich auch im
Kriegsfall zur Verfügung stünden. Zum anderen sorgt der Bund zumindest ein
wenig vor. So gibt es eine 90-tägige Reserve für Öl, eine für wenige Tage
bis mehrere Wochen haltende Nahrungsmittelreserve und – im Falle eines
nuklearen Angriffs oder eines Reaktorunfalls – einen Vorrat an rund 190
Millionen Jodtabletten. Eine Gesundheitsreserve mit Schutzausrüstung,
Schutzmasken, Beatmungsgeräten und Medikamenten befindet sich seit der
Coronapandemie im Aufbau. Doch die Frage, inwieweit die Mittel im Ernstfall
effizient verteilt werden könnten, steht zumindest im Raum.
Viel Platz auf der Webseite des BBK nimmt ohnehin ein anderes Thema ein:
Selbstschutz und Selbsthilfefähigkeit. Es gibt Anleitungen, was in die
Hausapotheke gehört, Hinweise, wo man seine Erste-Hilfe-Kenntnisse
auffrischen kann und natürlich die Empfehlung zum Anlegen eines
Nahrungsvorrats. Mit einem Werbevideo, das man auf YouTube anschauen kann
und auf dem rotäugige Killer-Kaninchen eine alte Frau anzugreifen drohen,
wirbt das BBK dafür, immer ein Notfall-Gepäck mit Medikamenten, Nahrung,
warmer Kleidung und Hygieneartikeln zur Hand zu haben.
Doch in relativer Sicherheit haben es Appelle an die individuelle Vorsorge
schwer. Als der damalige Innenminister Thomas de Maizière 2016 die
[4][„Konzeption Zivile Verteidigung“] vorstellte, ging es vor allem darum,
den Zivil- und Katastrophenschutz enger zu verzahnen und Doppelstrukturen
aufzulösen. Doch diese Inhalte drangen kaum durch, weil in dem Konzept an
einer Stelle der Hinweis an die Bevölkerung stand, sich einen
10-Tages-Vorrat an Lebensmitteln und Trinkwasserversorgung für den
Ernstfall zuzulegen. Obwohl diese Empfehlung nicht neu war und aus heutiger
Sicht auf einmal sehr vorausschauend wirkt, stürzten sich Medien und
Oppositionspolitiker auf diesen einen, kurzen Satz in dem 70-seitigen
Papier. Dem Minister wurde Panikmache vorgeworfen.
Anruf bei Christian Kuhlicke, Professor für Umweltrisiken und
Nachhaltigkeit an der Universität Potsdam. Kuhlicke forscht zum Thema
Verhaltensvorsorge. Er sagt: „Um in Anpassung und Vorsorge zu investieren,
braucht es sowohl ein Gefühl der Bedrohung als auch die Überzeugung, dass
Vorsorge wirksam ist.“
Wie Martin Voss sieht auch Kuhlicke einen Verlernprozess. Wer über 70 Jahre
in Frieden lebt, denkt, dass er keine Sirenen mehr braucht. Bis ein Krieg
kommt, bis das Hochwasser da ist.
Kuhlicke hat sich intensiv mit dem Elbehochwasser von 2002 beschäftigt.
Seine Doktorarbeit trug den Titel „Verwundbarkeit und Nichtwissen: Das
Hochwasser von 2002 als radikale Überraschung“. Kuhlicke wollte wissen, wie
Menschen, die mitten in einer Flussaue leben, so von einem Hochwasser
überrascht werden konnten, warum Evakuierungsaufforderungen ignoriert
wurden.
Er führte viele Gespräche mit Betroffenen, deren Ergebnisse er so
zusammenfasst: „Die ganze Erfahrung und Institutionen haben etwas anderes
suggeriert. Es gab ein gutes Deichsystem, das bisher erfolgreich kleinere
Hochwasser zurückhalten hat, auch größere Hochwasser von 1954 und 1974
wurden gut überstanden. Auch darum wurden die angekündigten Pegelstände für
unplausibel gehalten. Sie waren schlicht nicht mit den eigenen Erfahrungen
in Einklang zu bringen.“
Kuhlicke stellte aber auch fest, dass das Erfahrungswissen nach der
Katastrophe gewachsen sei. Hätten vorher nur etwa 15 Prozent der
Bewohner:innen Verhaltensvorsorge betrieben, seien es 2015 bereits
knapp 50 Prozent gewesen. Das Land Sachsen hat ein Kompetenzzentrum
Hochwassereigenvorsorge gegründet. Die Sächsische Aufbaubank vergibt
Kredite für Maßnahmen zur privaten Hochwassereigenvorsorge. „Lernprozesse
finden statt“, sagt Kuhlicke. „Die Erfahrung ändert etwas.“
Nur erwächst aus dieser Erkenntnis eine recht deprimierende
Schlussfolgerung: Es muss erst dicke kommen, bevor Vorsorge zur Norm wird.
Ohne Hochwasser keine Deiche. Ohne Krieg keine Bunker. Kuhlicke beobacht
aber auch, dass man vielerorts versuche, aus der Erfahrungsspirale
auszubrechen.
Es lassen sich aktuell einige Beispiele für diese Beobachtung finden: Auf
Bundesebene kursiert ein noch nicht veröffentlichtes Papier, in dem
angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine von einer weiteren
finanziellen Stärkung der Zivilen Verteidigung in Höhe von zehn Milliarden
Euro in den kommenden zehn Jahren die Rede ist. Bereits beschlossen wurde
nach dem Hochwasser von 2021, dass der [5][Wiederaufbau der Warnsirenen
bundesweit mit 90 Millionen Euro gefördert wird].
In Schleswig-Holstein wurde nach dem Hochwasser im Ahrtal ein
Zehn-Punkte-Plan für den Katastrophenschutz erarbeitet. 35 Millionen Euro
sollen unter anderem in die Modernisierung der Rettungsmittel, die
Ertüchtigung der Ausbildung und ein neues Lage- und Kompetenzzentrum
fließen. Darüber hinaus soll ein Katastrophenschutzlager mit
Hygieneartikeln, Lebensmitteln, Feldbetten und anderen Ressourcen
entstehen. Das BBK schließlich will am 1. Juni das neue „Gemeinsame
Kompetenzzentrum Bevölkerungsschutz“ eröffnen, in dem die
Bund-Länder-Zusammenarbeit verstetigt und ausgebaut werden soll.
Für den Katastrophenforscher Voss sind all das nur kosmetische
Verbesserungen. Er glaubt nicht, dass man den Katastrophenschutz mit
Reformen an bestehenden Strukturen noch fit für die Zukunft machen kann.
Die Handlung von „Don’t look Up“ – ein Film, in dem ein Asteorid
letztendlich die Erde zerstört, obwohl alles Wissen und alle Technik für
eine Gefahrenabwehr vorhanden war – hält er für gar nicht so weit
hergeholt: „Als Katastrophensoziologe fand ich den gar nicht so originell.“
Gerd Radisch schließlich, der Bürgermeister aus Schönkirchen, befürchtet,
dass das „Dicke“ zu früh kommen könnte: „Ich sehe uns gut aufgestellt.
Meine Sorge ist nur, dass wir nicht rechtzeitig fertig werden mit unserem
Katastrophenschutzzentrum“, sagt er zum Abschied.
Vielleicht lässt sich der Stand beim Bevölkerungsschutz am besten so
illustrieren: Seit 2004 findet in Deutschland alle zwei bis drei Jahre eine
große Bevölkerungsschutzübung statt, die bereits erwähnten LÜKEX. Nur sind
zwei der vergangenen drei LÜKEX ausgefallen. 2015 aufgrund der Vielzahl an
Geflüchteten, die nach Deutschland kamen. 2021 wegen der Coronapandemie.
Die realen Krisen haben die fiktiven Katastrophenszenarien längst
eingeholt.
11 Apr 2022
## LINKS
[1] https://www.polsoz.fu-berlin.de/ethnologie/forschung/arbeitsstellen/katastr…
[2] https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Mediathek/Publikationen/LUE…
[3] https://www.bbk.bund.de/DE/Themen/Krisenmanagement/LUEKEX/_documents/art-lu…
[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/…
[5] https://www.bbk.bund.de/DE/Warnung-Vorsorge/Warnung-in-Deutschland/Warnmitt…
## AUTOREN
Daniel Böldt
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