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# taz.de -- Sterbliche Überreste aus Kolonialzeit: „Es gibt ein Recht auf To…
> Berliner Institutionen, die menschliche Überreste aus kolonialen
> Kontexten haben, wissen zu wenig über ihre Bestände, so Ethnologin
> Isabelle Reimann.
Bild: „The soul within“ (Ausschnitt) aus der Serie „collect“ ist der Do…
taz: Frau Reimann, Sie haben für die Initiative Decolonize Berlin
ermittelt, wie viele menschliche Überreste – auf Englisch human remains –
aus Kolonialzeiten in Berliner Institutionen aufbewahrt werden, etwa bei
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Wie sieht das Ergebnis aus?
Isabelle Reimann: Zunächst: Ich habe keine eigene Erfassung oder
historische Rekonstruktion der Sammlungen gemacht. Mein Gutachten beruht
auf Angaben der Einrichtungen selber. Die Ergebnisse sind daher nur die
Minimalangaben – auch weil einzelne Institutionen selbst definieren
wollten, was sie als kolonialen Kontext betrachten. Danach gibt es
mindestens 5.958 menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten in zwölf
Institutionen. Bei 13.500 human remains kann zudem ein kolonialer Kontext
nicht ausgeschlossen werden, dazu gehören auch die
„rassenanthropologischen“ Sammlungen. Dazu kommen noch 16.000
Knochenfragmente aus Grabungen auf dem Gelände des ehemaligen
Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und
Eugenik.
Was hat Sie am meisten überrascht?
Vor allem, wie wenig Aufarbeitung es bislang in den Institutionen gibt.
Seit den 1970er und 1980er Jahren gibt es die Repatriierungsbewegung; 2013
wurde im Leitfaden des Deutschen Museumsbundes die Ermittlung der Herkunft
von menschlichen Überresten zur Priorität erklärt, und 2019 wurde das im
Eckpunktepapier der Bund-Länder-AG als politischer Wille bestätigt.
Trotzdem haben meine Anfragen in den Institutionen jetzt Diskussionen und
zum Teil überhaupt erste Bestandsaufnahmen ausgelöst.
Hat es Sie schockiert, dass die Berliner so wenig wissen über ihre
Bestände?
Als Provenienzforscherin weiß ich natürlich um den schwierigen und
langwierigen Prozess, die Identität und Herkunft der Menschen zu ermitteln.
Schockiert hat mich eher, wie wenig die Institutionen in Berlin bei der
Provinienzforschung bislang aktiv mit den Herkunftsgesellschaften
zusammenarbeiten und wie wenig diese als Expert*innen einbezogen wurden
und werden. Die hiesigen Institutionen können die Fragen der
Herkunftsgesellschaften nach dem Verbleib der Überreste ihrer Ahnen gar
nicht beantworten, ohne erst eine Forschung anzustoßen. Aber bei dieser
Forschung ist das Wissen der Herkunftsgesellschaften wichtig – um die
zweite Seite der Geschichte einzubeziehen, die nicht in den Archiven
hierzulande zu finden ist.
Warum ist die Einbeziehung sonst noch wichtig?
Für Angehörige aus den Herkunftsgesellschaften sind diese menschlichen
Überreste zum Teil spirituell lebendige Entitäten, die in Beziehung mit
ihnen stehen – und sie haben die Verantwortung, ihren Vorfahren eine gute
Bestattung und ein würdiges Andenken zu gewähren. Bei uns hier steht das
bislang nicht im Fokus, sondern eher, wie man methodisch die Bestände
ermitteln kann. Aber das gehört zusammen.
Fordern Sie darum die Einrichtung eines advisory boards, das
Vertreter*innen der Herkunftsländer einbezieht?
Genau. Schon der Prozess einer Bestandsaufnahme sollte mit Dialog
einhergehen.
Müsste man dafür nicht schon wissen, aus welcher Region etwas kommt, damit
man die richtigen Leute beteiligt?
Es gibt an den meisten human remains Bezeichnungen, etwa ethnische
Zuschreibungen – meist sind das aber Fremdbezeichnungen aus dem 19.
Jahrhundert. Die Institutionen der ehemaligen Kolonialmächte sollten nicht
die Entscheidungsmacht haben, mit wem zusammengearbeitet wird. Da braucht
es die lokale Expertise, die mit möglichst transparenter Informationslage
durch die Institutionen unterstützt werden.
Soll also jede Sammlung in Berlin, die human remains hat, Menschen aus den
Herkunftsgesellschaften einladen, um gemeinsam zu forschen und Rückgaben
vorzubereiten?
Sofern Menschen aus den Herkunftsgesellschaften Interesse an einer
Zusammenarbeit haben, wäre dies wünschenswert. Damit nicht jede Einrichtung
einen eigenen Beirat gründen muss, können überinstitutionelle Forschung und
ein advisory board ein erster Schritt zum vereinfachten, nachhaltigen
Vorgehen sein, das Synergien erzeugt und Ressourcen bündelt. In so einem
Beirat sollten Repatriierungsexpert*innen aus den Herkunftsländern
wichtige Dinge, die ihre Vorfahren betreffen, autorisieren können. Etwa:
Was wird als menschliche Überreste definiert? Wie soll damit umgegangen
werden? Was passiert mit den Forschungsdaten? Wer hat Zugang dazu? Was ist
für die Öffentlichkeit bestimmt? Da wird es sehr unterschiedliche Antworten
geben: Denn so unterschiedlich wie Menschen in verschiedenen Kulturen mit
ihren Ahnen umgehen, so unterschiedlich sind auch diese Wege.
Haben Sie ein Beispiel?
In Australien verletzt es das moralisch-ethische Empfinden der Angehörigen,
Fotografien der Überreste zu zeigen. In Namibia dagegen waren die Bilder
der Schädel, die vor ein paar Jahren von Berlin zurückgegeben wurden, für
die Nachfahren wichtig, um die Geschichte dieser Personen und den Genozid
sichtbar zu machen. Die Fotografien der Schädel zu zeigen, galt dort als
Anerkennung der Opfer des Genozids. Solchen Unterschieden müssen wir uns
stellen. Denn wie gesagt: Es handelt sich ja um menschliche Überreste aus
der ganzen Welt, die ohne Zustimmung der Angehörigen aus kolonialen und zum
Teil sehr gewalttätigen Kontexten hierherkamen.
Wie groß ist die Bereitschaft der Berliner Institutionen, diese Aufgabe
anzugehen?
In vielen Institutionen gibt es eine große Bereitschaft dazu. Aber es wurde
auch geäußert, dass es eine überinstitutionelle Auseinandersetzung und in
vielen Einrichtungen auch Unterstützung von außen geben muss. Viele
Institutionen haben an ihren Beständen kleinere oder größere
Forschungsprojekte angefangen. Aber es sollte eben auch ein
überinstitutionelles Projekt initiiert und staatlich unterstützt werden.
Eine Institution hat sich geweigert, mit Ihnen zu sprechen: die Berliner
Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Ur- und Frühgeschichte
(BGAEU). Dort ist man der Auffassung, man brauche die menschlichen
Überreste für wissenschaftliche Forschung. Wie sehen Sie das?
Menschliche Überreste haben einen wissenschaftlichen Wert, etwa weil mit
neuen technischen Möglichkeiten in der Genetik Informationen gewonnen
werden können. Allerdings denke ich, dass man die koloniale Aneignung
reproduziert und legitimiert, wenn die Aneignung der Schädel ohne
Zustimmung erfolgt ist, zum Teil als gewaltsamer Akt, sogar als Raub in
einem kolonialen Kriegskontext – und man dennoch einfach ohne Zustimmung
weiterforscht an den Überresten. Man setzt dann das alte Ungleichgewicht
der Macht fort. Zudem ist es nicht so, dass indigenes Wissen und westliche
Wissenschaft sich ausschließen. Es gibt international gute Beispiele für
gemeinsame Forschungsprojekte.
Auch in Deutschland?
Hier müsste zunächst der erste Schritt – die Anerkennung der
Kolonialgeschichte und das Prinzip der informierten Zustimmung der
indigenen Rechte – fest etabliert werden. Wenn wir indigene Gruppen als
gleichberechtigte Gesprächspartner mit ihren eigenen politischen und
philosophischen Anschauungen ansehen, erscheint die westliche Wissenschaft
nicht mehr als universeller Wert an sich, sondern als ein Interesse unter
anderen.
Das sagt auch der CERD-Bericht vom European Center for Constitutional and
Human Rights (ECCHR), der zusammen mit Ihrem Gutachten veröffentlicht
wurde.
Der Bericht hält fest, dass Deutschland beim Thema human remains seinen
rechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt, etwa dem UN-Abkommen zur
Beseitigung rassistischer Diskriminierung. Die Repatriierung von ancestral
human remains ist ein Menschen- und Grundrecht. Es gibt ein Recht auf
Totenruhe sowie ein Recht der Angehörigen, ihre Verstorbenen in
angemessener Weise zu betrauern und zu bestatten.
In Ihrem Gutachten heißt es, dass es bislang in Deutschland keine
Rechtsgrundlage für Rückgaben von human remains gibt. Was fehlt?
Es gibt die staatlich garantierte Menschenwürde, die dem Grundgesetz
zugrunde liegt. Dies könnte man auf den Kontext menschlicher Überreste
anwenden. Praktisch ist es aber so, dass Angehörige Glück haben müssen,
dass man mit ihnen kooperiert. In einem Kommentar zu meinem Gutachten
fordern darum Hiturangi und Huki aus Rapa Nui, die zu Chile gehörige
Osterinsel, der Bundestag müsse eine Regelung schaffen, die sowohl
Nachkommen als auch hiesigen Verantwortlichen hilft. So könnte auch die
überinstitutionelle Provenienzforschung unter Einbezug eines advisory
boards verankert werden.
Wir reden bisher über human remains aus kolonialen Zeiten. Was ist mit
älteren Knochen?
Das ist eine der großen Auslassungen in meinem Gutachten: Ich habe es von
der Kapazität nicht geschafft, dazu eine fundierte Position zu erarbeiten
in einer Diskussion, die in Deutschland gerade erst begonnen hat. Auch
wurde mir etwa von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gesagt, dass ich
keine Ansprechperson im Ägyptischen Museum oder Vorderasiatischen Museum
bekomme, weil prähistorische, archäologische oder paläontologische Bestände
für mein Gutachten nicht relevant wären.
Wie finden Sie das?
Das ist problematisch. Man müsste genauer gucken, wo der koloniale Kontext
im Einzelfall endet. Zudem haben Repatriierungspraktiker*innen, wie Amber
Aranui der Maori aus Neuseeland, geäußert, dass es für sie egal ist, ob die
Menschen vor sehr langer Zeit gestorben sind oder vor drei Generationen –
und dass auch solche alten Überreste als ihre Ahnen nicht im Besitz von
ehemals kolonialen Institutionen liegen sollen.
Zum Schluss: Warum ist das Thema überhaupt wichtig – nicht nur für die
ehemals Kolonisierten, sondern auch für uns?
Für uns als sogenannte Aneignungsgesellschaft ist die Auseinandersetzung
mit all diesen Sammlungsbeständen wichtig, um zu verstehen, was die
koloniale Praxis und die kolonialen Denkweisen mit der Bevölkerung – mit
uns, unseren Vorfahren – gemacht haben. Schließlich sind Rassismus und
Eurozentrismus weiterhin sehr wirkmächtige Ideologien, sie stecken in
unserem Denken, in unseren Körpern. Um das zu beenden, müssen wir die
kolonialen Strukturen und Vorstellungen aufbrechen. Das ist für ehemals
Kolonisierte wie Kolonisierende gleichermaßen wichtig.
21 Mar 2022
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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