# taz.de -- Internetzensur in Russland und China: Die listige Räuberin | |
> Putin schottet das Internet ab, um den Krieg so zu erzählen, wie er will. | |
> In China kann man derweil sehen, dass man sich an Zensur auch gewöhnen | |
> kann. | |
Bild: Seit Langem träumt Wladimir Putin von einem abgeschotteten Netz | |
Russland macht zu. Nicht erst jetzt natürlich. Das fing schon früher an. | |
Schon vor dem Krieg, im vergangenen Mai, stand das Land auf Platz 150 von | |
180 im Index der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Auf der | |
eingefärbten Weltkarte, die dazu veröffentlicht wird, ist Russland rot wie | |
ein Hummer, das steht für „schwierige Lage“. Nicht ganz so tiefrot wie | |
China, Syrien oder Eritrea. Aber eben schon sehr rot. | |
Krieg macht alles schlimmer, und auch im Internet geht es um Macht. Neben | |
der ganz unmittelbaren Bedrohung und [1][dem Leid, das Putin den | |
Ukrainer*innen gerade zufügt], mag die Abschottung des russischen | |
Internets wie ein Nebenschauplatz erscheinen. Aber sie ist ein wesentlicher | |
Teil der Kriegsführung und der Macht, die für Putin besonders von Interesse | |
ist. Es geht um die Deutungshoheit darüber, wie dieser Krieg, seine | |
Gegenwart und seine Geschichte erzählt wird: in Bildern, Sätzen, durch | |
Stimmen. | |
Am 4. März 2022 verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das | |
„Falschaussagen“ über das russische Militär mit bis zu 15 Jahren Haft | |
ahnden kann. Am gleichen Tag kappte die staatliche Zensurbehörde | |
Roskomnadsor den Zugang zu Facebook und Twitter. Und zwei Tage darauf | |
berichtete das unabhängige Medienprojekt „Nexta“, dass Russland plane, sich | |
bis Mitte März völlig [2][vom globalen Internet abzuschotten]. | |
Währenddessen konnte man auf Twitter lesen, wie Menschen davon erzählten, | |
Familie und Freund*innen an Putins Version der Wahrheit verloren zu | |
haben, und wie dieser Verlust sie schmerzte. Weil auch diese Menschen Opfer | |
des Kriegs werden. Weil eine Trennung vom globalen Internet auch eine | |
Trennung von der Welt bedeutet. Weil Putin zu einem Klumpen zusammendrückt, | |
was zuvor noch etwas weiter war – oder zumindest die Chance hatte, weiter | |
zu werden. | |
## China, dunkelrot eingefärbt | |
Ich habe niemals jemanden auf diese Weise verloren, dabei habe ich Familie | |
und Freund*innen [3][im dunkelrot eingefärbten China], das aktuell auf | |
Platz 177 von 180 im Index der Pressefreiheit geführt wird. Ich erinnere | |
mich auch an keinen einschneidenden Moment, in dem auf einmal alles anders | |
war. Da kam kein Diktator mit einer Axt, hackte unter den Augen der | |
restlichen Welt Kabel durch und meine Welt entzwei. | |
Da steht vielleicht eher ein Sternekoch in der Küche, seit Jahren, meistens | |
leise, aber mit einer Selbstverständlichkeit, als gehörte er zum Inventar. | |
Er schneidet langsam mit einem scharfen Messer meine Welt in Scheiben, und | |
wenig später stopfe ich sie mir persönlich in den Mund. | |
In China ist Zensur einfach da, und es ist gar nicht so schwer, sie im | |
Alltag wie Hintergrundmusik laufen zu lassen. In den Neunzigern und frühen | |
Zweitausendern wusste ich nichts von ihr oder über sie. Das war okay, ich | |
war schließlich ein Kind. [4][Als Google sich 2010 aus China zurückziehen | |
musste], war ich stolz zu wissen, wie man Schriftzeichen in die chinesische | |
Suchmaschine Baidu tippt. Und seit die ganze Familie Smartphones hat, bin | |
ich froh mit ihnen über WeChat per Video telefonieren zu können. Hauptsache | |
wir sehen uns. Wenn es dafür eine andere App braucht, ist das eben so. Wir | |
sind durch das Internet viel näher zusammengerückt, während Zensur in China | |
zugleich immer mehr zugenommen hat. | |
Es geht uns ja gut. Das ist eine oft unterschätzte Eigenschaft von Zensur – | |
dass sie für viele ein aushaltbarer Umstand sein kann. Dass man sich an sie | |
gewöhnt. Wenn du zuerst in einer anderen Welt gelebt hast, dann tut es | |
höllisch weh, wenn jemand sie dir plötzlich mit aller Gewalt entreißt. Aber | |
es gibt auch Szenarien, in denen viele Menschen sich mit ihr arrangieren | |
können. Das klingt hart, das ist schlimm, aber es ist auch einfach | |
pragmatisch. | |
## Wunderschöne Landschaften in Xinjiang | |
Gut leben mit Zensur geht dann, wenn gut leben zunächst einmal bedeutet, | |
dass man ein Dach über dem Kopf hat und genug zu Essen. Dass man es besser | |
hat als noch die Eltern oder man selbst, als man ein Kind war. Meine | |
Großmutter ist in einer Hütte ohne Heizung, Strom und Toilette | |
aufgewachsen. Eine ihrer Töchter wurde als Jugendliche zehn Jahre aufs Land | |
verschickt, und statt einer Ausbildung blieb ihr danach nur die Heirat. | |
Vom Rückspiegel des Autos meines Cousins baumelt seit Jahren ein | |
goldgerahmtes Mao-Porträt. Früher hat er manchmal gesagt: „Wir haben Mao | |
auch vieles zu verdanken“, jetzt teilt er häufiger Gifs mit flatternder | |
Nationalflagge und Lobpreisungen der Kommunistischen Partei. Als ich liebe | |
Grüße aus Taiwan sendete, schrieb er mir, dass China doch viel besser sei. | |
Ich habe keine Ahnung, ob er das wirklich glaubt oder ob er nur denkt, es | |
in unseren Chatverlauf schreiben zu müssen. Solche Fragezeichen tun weh, | |
auch wenn sie dem Körper keinen unmittelbaren Schaden zufügen. | |
Das Versprechen des Internets war mal eine größere und zugleich | |
erreichbarere Welt – doch wenn man es abschottet, bleibt oft nur ein | |
perfektes Gewächshaus für Nationalismus. Das gilt für den digitalen Raum | |
genauso wie für den analogen. Doch selbst ein abgeschotteter digitaler Raum | |
kann noch immer einer voller Möglichkeiten sein. | |
Im chinesischen Internet kann man eigentlich alles: Essen bestellen und | |
Fußballtickets kaufen, Aktienkurse checken, shoppen, mit Freund*innen | |
chatten, lustige Filter über das eigene Gesicht und das seines Kindes | |
legen, Restaurantbewertungen schreiben, Katzenvideos gucken und Nachrichten | |
schauen. Obwohl Medien staatlich kontrolliert werden, kann man wissen, was | |
in der Welt geschieht. Man kann ein Porträt über Olaf Scholz lesen und | |
Analysen zum neuen IPCC-Bericht. | |
## Bilder von den Friedensdemos gibt es nicht | |
Man erfährt auch, dass Krieg ist in der Ukraine – allmählich, nachdem | |
staatliche Medien und politische Führung lange von einer „Militäroperation�… | |
geredet haben, in Anlehnung an das russische Framing. Aber man bekommt eben | |
nur jene Erzählungen über die Welt, die der Kommunistischen Partei zusagen, | |
die sie für unbedenklich hält. Bilder von den vielen Friedensdemos zeigt | |
das Fernsehen nicht. | |
Ohne VPN-Zugang lässt sich keine Verbindung zur New York Times herstellen | |
oder zu Instagram, Facebook, Twitter – die Liste ist noch viel länger. | |
Internetfirmen stellen schon seit Jahren Leute ein, die nur für die Zensur | |
der von User*innen hochgeladenen Inhalte zuständig sind. CCTV zeigt | |
ständig wunderschöne Landschaften und lächelnde Minderheiten in Trachten | |
statt der Internierungslager in Xinjiang. | |
Bevor man Menschen an die Zensur verliert, weil sie an eine | |
zurechtkuratierte Version der Wahrheit glauben, noch davor verliert man | |
etwas anderes an die Angst. Was genau das ist, weiß ich nicht. Vielleicht | |
ist es Freiheit. Also nicht die, die hierzulande in Maskenpflicht- und | |
Tempolimitdebatten verhandelt wird. Ich meine die andere Freiheit. Die, | |
über deren Verletzung man kein großes Aufsehen erregen will, mit der man | |
sich eben irgendwie arrangiert. | |
Die, deren Einschränkung oft Schweigen zurücklässt. Das wird dann | |
glattgestrichen wie eine Tischdecke in jeder guten Familie, die mit aller | |
Kraft versucht, ein wenig Privates vor dem Politischen zu schützen. Die | |
sich entscheidet nicht von Politik zu sprechen, weil sie weiß, dass manches | |
sonst unwiederbringlich kaputt geht. Denn Zensur ist eine listige Räuberin. | |
Sie raubt nicht nur die Worte anderer, die du nicht mehr lesen und hören | |
kannst, sondern auch solche, die dir selbst auf der Zunge oder dem Herzen | |
liegen. | |
## Die Dinge bleiben im Hals stecken | |
„Die ganze Welt ist gleich“, hat mein Cousin mal gesagt, als wir über | |
absurde Immobilienpreise sprachen. Überall gleich ist auch, dass Menschen | |
zu oft still sind und schlucken, bis ihnen die Dinge im Halse stecken | |
bleiben und sie schlimmstenfalls an ihnen ersticken. Anders ist aber, dass | |
es hier leicht ist sich zu informieren und zumindest im Verhältnis eher | |
ungefährlich sich zu versammeln, zu protestieren, Kritik an der Regierung | |
zu üben – auch wenn manche lautstark das Gegenteil behaupten. Leicht ist | |
auch, anderen gewaschene Gehirne und Feigheit vorzuwerfen, wenn man selbst | |
keine Konsequenzen zu befürchten hat. | |
Manchmal fühlt es sich an, als würde der Westen nur auf die nächsten | |
Dissident*innen warten, die sich dann als möglichst tragische | |
Held*innen in Szene setzen lassen. Wäre es nicht hilfreicher sich zu | |
fragen, wie man den Kampf gegen Zensur als globale Aufgabe begreift? Wie | |
wir die Orte, an denen man tatsächlich kaum noch etwas sagen darf, nicht | |
sich selbst überlassen, besonders jetzt, während Nationalismus weltweit | |
erstarkt und viele Länder sich mit den innenpolitischen Folgen der Pandemie | |
beschäftigen müssen? | |
Das ist nicht leicht, sicher, und die Wege, von außen Einfluss zu nehmen | |
werden enger, wenn Journalist*innen ausreisen und aus einem World Wide | |
Web nationale Netzwerke werden. Aber man sollte es versuchen. Man muss. | |
12 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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