# taz.de -- Afghanische Geflüchtete in Deutschland: Die Zerrissenen | |
> Vor sechs Monaten beendete die Bundeswehr die Evakuierung in | |
> Afghanistan. Die Geschichte von Dreien, die es nach Deutschland geschafft | |
> haben. | |
Der Tag, an dem die Taliban Kabul einnehmen, ist ein guter Tag für Mohammad | |
Ghafuri. Er fährt mit dem Taxi zur Post und holt die neuen Pässe für seine | |
Töchter, seine Frau und sich ab. Wenn alles gut geht, wird er mit seiner | |
Familie in wenigen Wochen in Deutschland landen. In dem Land, für dessen | |
Soldat:innen er vier Jahre gekocht und gekellnert hat. Aber es geht | |
nicht alles gut. Fünf Monate wird es dauern, bis die Familie endlich | |
fliegen kann. Wochenlang verstecken sich die Ghafuris mit anderen Familien | |
in sogenannten Safe Houses der Bundeswehr in Kabul. Nach Hause trauen sie | |
sich nicht. Die Angst, dass dort die Taliban vor der Tür stehen, ist zu | |
groß. Von 2011 bis 2014 arbeitete Ghafuri für die Bundeswehr. Für die | |
Taliban ist er deshalb ein Verräter, genauso wie Hunderte ehemalige | |
Ortskräfte der Deutschen, die noch immer in [1][Afghanistan] sind. | |
Im vergangenen halben Jahr konnten insgesamt 11.000 Afghan:innen nach | |
Deutschland fliehen. Von ihnen sind etwa 2.000 ehemalige Ortskräfte und | |
knapp 700 besonders schutzbedürftige Personen – zum Beispiel | |
Journalist:innen, Menschenrechtsaktivist:innen und | |
Wissenschaftler:innen –, die nun mit ihren Familien in Deutschland | |
leben. | |
Sie mussten auch deshalb ihre Heimat verlassen, [2][weil der Westen bei dem | |
Versuch scheiterte], Afghanistan auf dem Weg zur Demokratie zu | |
unterstützen. Für diesen Text haben wir drei von ihnen getroffen: | |
Mohammad Ghafuri, der sechs Jahre darauf wartete, nach Deutschland zu | |
kommen. Der heute versucht, seine Freiheit zu schätzen, während die Taliban | |
bei seinen Eltern nach ihm suchen. | |
Rishad Qarizada, der in Afghanistan ein prächtiges Leben führte und in | |
Deutschland angefeindet wird. Der so schnell wie möglich wieder zurück in | |
sein Heimatland will. | |
Und Zainab Baqiri, die nicht aufhören kann, für die Zurückgebliebenen zu | |
kämpfen. Die weiter an ein demokratisches Afghanistan glaubt. | |
Alle drei arbeiteten im Camp Marmal, dem größten Militärcamp der Bundeswehr | |
im Norden Afghanistans, mit den deutschen Truppen zusammen. Alle drei sind | |
in den vergangenen sechs Monaten nach Deutschland gekommen und leben hier | |
nun an unterschiedlichen Orten. Was denken sie über Deutschland? Und wie | |
blicken sie in die Zukunft? | |
## Auf gepackten Koffern: Mohammad Ghafuri | |
Es schneit, als Mohammad Ghafuri, 31, Anfang Dezember mit seiner Familie am | |
Münchner Flughafen landet. Endlich kann er das Leben beginnen, von dem er | |
träumte, seit er für die deutschen Soldat:innen arbeitete. „Ich war | |
einfach nur glücklich, hier zu sein“, erinnert sich Ghafuri. Noch am selben | |
Abend werden die Ghafuris in ein Ankerzentrum für Geflüchtete nach Bamberg | |
gebracht. Afghanische Ortskräfte und Angehörige mit einer Aufnahmezusage | |
erhalten zu der Zeit einen Aufenthaltstitel für drei Jahre, „aus | |
dringenden humanitären Gründen“, wie es im Gesetz heißt. | |
Noch im Dezember stellte Außenministerin Annalena Baerbock einen | |
„Aktionsplan Afghanistan“ vor, um die mehr als 21.000 Afghan:innen mit | |
einer Aufnahmezusage der Bundesregierung bei ihrer Flucht zu unterstützen. | |
Trotzdem sind viele bei einer Ausreise immer noch auf nichtstaatliche | |
Organisationen angewiesen. Die [3][Luftbrücke Kabul] und das | |
Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte halfen seit Ende August mehr | |
als 1.700 Menschen bei ihrer Flucht. | |
Es koste etwa 1.400 US-Dollar, einen Menschen aus Afghanistan nach | |
Deutschland zu bringen, schreibt das Patenschaftsnetzwerk auf taz-Anfrage. | |
Seit Anfang des Jahres sei das Spendenkonto leer. Das Kernteam der | |
Organisation besteht aus Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan stationiert | |
waren und selbst mit Ortskräften wie Ghafuri zu tun hatten. | |
In den Tagen nach dem Fall von Kabul versuchten die Ghafuris zehn Tage | |
lang, zum Flughafen zu kommen. Seine Familie und er standen auf den | |
Evakuierungslisten, sagt Ghafuri. Doch sie schafften es nicht zum Gate. Zu | |
viele Menschen wollten in einen der rettenden Flieger. Als das deutsche | |
Militär seinen Rettungseinsatz in Kabul am 26. August für beendet erklärte, | |
gaben die Ghafuris die Hoffnung auf. | |
Vier Monate später organisierte das Patenschaftsnetzwerk Visa für Katar für | |
die Ghafuris. In Doha, der Hauptstadt Katars, warteten sie zwölf Tage auf | |
ihre Weiterreise nach Deutschland. Die Familie wohnte in einem brandneuen | |
Hotel, das für die anstehende Fußballweltmeisterschaft gebaut wurde, | |
erzählt Ghafuri. | |
Einen Monat nach ihrer Ankunft in Deutschland zogen die Ghafuris vom | |
Ankerzentrum in eine andere Flüchtlingsunterkunft in Bamberg. Das Gebäude | |
liegt in einem Industriegebiet, gleich hinter einer Tankstelle. Ghafuri | |
steht Anfang Februar in der Einzimmer-Erdgeschosswohnung der Familie, seine | |
Töchter, zwei Jahre und ein Jahr alt, klammern sich an seine Waden. Es ist | |
Ghafuri wichtig zu sagen, dass er nicht wütend auf die Bundeswehr ist: | |
„Überhaupt nicht.“ An einem der Stockbetten hängt eine Stofftasche in | |
Schwarz-Rot-Gold. „Ich war stolz, für die Deutschen zu arbeiten“, sagt | |
Ghafuri. Heute ist er sich nicht mehr so sicher, ob stolz noch das richtige | |
Wort ist. Trotzdem, er fand den westlichen Militäreinsatz in Afghanistan | |
richtig. „Ich habe daran geglaubt, dass unser Land danach ein besseres | |
ist.“ Mehr will er dazu nicht sagen. Er betont, wie dankbar er sei, hier zu | |
sein. | |
Auf seinem Handy zeigt Ghafuri Bilder vom Team der „Oase“ – ein Restaurant | |
und Freizeittreffpunkt im Camp Marmal in Afghanistan. Hier verbrachten | |
Soldat:innen ihre freien Stunden, bestellten Essen à la carte. Gyros, | |
Chicken Wings und Spaghetti: Ghafuri kennt die Klassiker eingedeutschter | |
Kulinarik. Ab 21 Uhr wurde dort auch Wein und Bier ausgeschenkt. Besonders | |
gern tranken die Deutschen Beck’s. Und sie gaben gutes Trinkgeld, mehr als | |
die US-Soldat:innen, erzählt Ghafuri. | |
Er lächelt viel, wenn er von der Zeit in der „Oase“ spricht. Nicht nur das | |
Monatsgehalt von 420 US-Dollar war gut, auch die Arbeit im Serviceteam habe | |
ihm Spaß gemacht. Auf einem Foto ist sein altes Team zu sehen. Er steht in | |
der zweiten Reihe und trägt seine Arbeitskleidung, ein dunkles Poloshirt | |
mit einer kleinen roten Palme darauf. Das verschmitzte Grinsen ist bis | |
heute gleich geblieben. | |
Aus dem Team der „Oase“ sind mittlerweile alle 45 Mitarbeiter geflohen. | |
Zwei Kollegen Ghafuris sind mit ihren Familien in Iran, zwei in Pakistan, | |
der Rest in Deutschland. Manche von ihnen schon seit Jahren. Auch Ghafuri | |
beantragte 2015, ein Jahr nachdem sein Vertrag in der „Oase“ auslief, ein | |
deutsches Visum. Der Antrag wurde abgelehnt. Als die Taliban 2018 | |
erstarkten und sich die Anschläge häuften, versuchte er es wieder. Er hatte | |
Angst, dass ihn jemand bei den Taliban anschwärzen könnte, weil er für die | |
Deutschen gearbeitet hatte. Wieder wurde der Antrag abgewiesen. | |
Im vergangenen Sommer kontaktierte ihn dann die Bundeswehr: Seine Familie | |
und er dürften nach Deutschland kommen. Kurz zuvor hatte die | |
Bundesregierung die Aufnahmevoraussetzungen für ehemalige Ortskräfte so | |
geändert, dass auch Afghan:innen nach Deutschland kommen durften, die | |
vor 2019 bei der Bundeswehr oder anderen deutschen Institutionen wie dem | |
Goethe-Institut oder der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit | |
(GIZ) angestellt waren. | |
Für die Ausreise brauchten die Ghafuris neue Pässe. Mit dem alten | |
afghanischen Pass konnten sie nicht nach Deutschland. Ein Problem, vor dem | |
auch heute viele ehemalige Ortskräfte stehen, die noch in Afghanistan | |
feststecken. Denn sie kommen nicht an die dringend benötigten | |
Ausweispapiere, seit die Taliban in den Behörden das Sagen haben. | |
Am Küchentisch in Bamberg greift Ghafuri nach den grünen Rosinen und | |
schwarzen Maulbeeren auf dem Teller vor ihm. Je ein Kilo hat die Familie in | |
zwei Plastiktüten aus Afghanistan mitgenommen. Nur wenn Gäste da sind, gibt | |
es die getrockneten Früchte zusammen mit Nüssen zum Tee. Seitdem er in | |
Deutschland ist, ruft ihn seine Mutter jeden Tag an und erzählt, wie die | |
Lebensmittel wieder knapp werden. Über die Taliban wird bei diesen Anrufen | |
nicht viel gesprochen, sagt Ghafuri. „Jeder in Afghanistan weiß, was | |
passiert, wenn die Taliban an der Macht sind.“ | |
Nur wenige seiner Familienmitglieder wissen, dass er jetzt in Deutschland | |
ist. Auch seinen Freunden hat er nicht Bescheid gegeben, ihnen kein | |
einziges Whatsapp-Foto geschickt. Es wäre gefährlich für seine Angehörigen | |
in Afghanistan, wenn sich herumspricht, dass er hier sei. Seit seiner | |
Flucht hat sein Vater zwei Schreiben von den Taliban bekommen. Darin | |
forderten sie ihn auf, den Aufenthaltsort seines Sohns zu verraten. Wenn | |
Ghafuri davon spricht, verschwindet sein Lächeln. | |
Ghafuri will, dass seine Eltern nach Deutschland kommen. Seit er das Land | |
verlassen hat, wächst seine Sorge um sie. „Weil ich in Freiheit bin, sind | |
sie noch mehr in Gefahr.“ Sein Vater ist Lastwagenfahrer und transportierte | |
manchmal Müll aus Camp Marmal ab. Einen Vertrag als Ortskraft hatte er | |
nicht. Deswegen haben seine Eltern keine Aufnahmezusage von der | |
Bundesregierung bekommen. | |
Im neuen Zuhause der Ghafuris in Bamberg stehen seit ihrem Einzug Mitte | |
Januar drei große Reisetaschen und ein Koffer ungeöffnet in der Ecke. „Das | |
hier ist nicht für immer“, sagt Ghafuri. Er möchte eine Ausbildung zum | |
Kfz-Mechatroniker machen. Mit seinem Vater hat er schon immer viel an Autos | |
herumgeschraubt. Zurück in seine Heimat nach Masar-i-Scharif will Mohammad | |
Ghafuri nicht. „Nein. Unser Leben in Afghanistan ist vorbei.“ | |
## Rishad Qarizada: Lieber gemeinsam in Gefahr | |
Rishad Qarizada wirkt weder besonders verrückt noch besonders naiv. Aber | |
nach einer Woche in Deutschland trifft der 25-Jährige einen Entschluss, der | |
für manche wahnwitzig klingen mag. Er will zurück nach Afghanistan. Zurück | |
in das Land, aus dem er aus Angst um sein Leben geflohen ist. | |
„Ich weiß, dass niemand in Afghanistan für meine Sicherheit garantieren | |
kann“, sagt Qarizada. Sechs Jahre war er Berater und Übersetzer der | |
Bundeswehr. Eine Woche vor der Machtübernahme der Taliban floh er mit | |
seiner Familie. Warum will er die neue Sicherheit wieder aufgeben? | |
Qarizada sitzt im Februar auf einem Schreibtischstuhl im Keller eines | |
Mehrfamilienhauses in Sulzbach am Main. Ein Ort mit 7.000 | |
Einwohner:innen in der Nähe von Aschaffenburg. Dunkle Ränder säumen | |
seine Augen, die müde in die Frontkamera des Handys blicken. Der deutsche | |
Winter macht ihm zu schaffen, erzählt er im Videocall. Mit seiner Frau, | |
seinem fünfjährigen Sohn und seiner zweijährigen Tochter lebt er in einer | |
kleinen Einzimmerwohnung. | |
An Qarizadas Wortwahl fällt auf, dass er lange mit internationalen | |
Soldat:innen gearbeitet hat. In sein fließendes Englisch mischen sich | |
immer wieder Wörter aus dem Militärjargon – „Power Breakers“, „Politi… | |
Advisor“. Stolz schickt er Fotos von Urkunden der Bundeswehr, die ihn für | |
seine Arbeit auszeichnen. In Afghanistan beriet Qarizada deutsche Offiziere | |
darin, die afghanischen Verhandlungspartner nicht aus Versehen mit einer | |
falschen Frage zu kränken, mit Tipps wie: „Auf keinen Fall die Ehefrau des | |
Gegenübers erwähnen.“ | |
Den Job bei der Bundeswehr nahm er in erster Linie wegen des Gehalts an. | |
Eigentlich wollte er nach seinem Englischstudium als Dozent an der Uni | |
arbeiten. Aber die Deutschen merkten schnell, dass Qarizada nicht nur ein | |
guter Übersetzer, sondern auch ein wertvoller Ratgeber ist, erzählt er | |
stolz. Mit 24 Jahren wurde er Berater des TAAC North, des von Deutschland | |
geleiteten Nato-Kommandos. Qarizada vermittelte Kontakte zu lokalen | |
Politikern. Auf Bildern steht er im Nadelstreifenanzug neben Ansgar Meyer, | |
dem Kommandeur des letzten deutschen Afghanistan-Kontingents. | |
Qarizada spricht auch etwas Deutsch, gerade macht er einen B1-Sprachkurs. | |
In den ersten Wochen nach seiner Ankunft übte er neue Vokabeln, indem er | |
fremde Menschen auf der Straße begrüßte. Zurück kam meistens, wenn | |
überhaupt, ein komischer Blick, erzählt er. Einmal wartete Qarizada am | |
Bahngleis auf den Zug und telefonierte mit seiner Mutter, als eine fremde | |
Frau ihn beim Vorbeigehen anblökte, er solle gefälligst Deutsch sprechen. | |
„Scheiß Ausländer“, war einer der ersten Sätze, die er verstand, sagt er. | |
Den Ort, an dem seine Kinder aufwachsen sollten, hatte sich Qarizada anders | |
vorgestellt. Das soll nicht falsch klingen, betont er. Natürlich wisse er, | |
wie glücklich er sich angesichts der gefährlichen Lage in seiner Heimat | |
schätzen könne. Und trotzdem: Seine Zukunft sieht Qarizada nicht im | |
unterfränkischen Sulzbach, sondern in Afghanistan. | |
Während der ersten Wochen in Deutschland war Qarizada zuversichtlich, dass | |
seine Eltern und Geschwister nachkommen könnten. Das ist mittlerweile | |
anders. Er warte immer noch auf Antworten auf seine E-Mails an das | |
Innenministerium, Verteidigungsministerium und das Auswärtige Amt. | |
Mittlerweile denkt er, „dass es besser ist, pessimistisch zu sein“. | |
Qarizada fürchtet, dass die Taliban sich für seine Arbeit an seiner Familie | |
in Afghanistan rächen werden. Monatelang haben sie sich bei Freund:innen | |
und Bekannten versteckt. Kürzlich sind sie jedoch wieder in ihr Haus | |
zurückgekehrt. Die Sehnsucht nach ihrem Leben vor der Machtübernahme der | |
Taliban sei groß. | |
Qarizadas Vater, ein Unternehmer, der unter anderem Öl verkaufte, will so | |
schnell wie möglich wieder seine Geschäfte aufnehmen. Für ihn sei das | |
monatelange Verstecken bei Bekannten schlimmer als die Sorge vor einem | |
Hausbesuch der Taliban. Qarizada träumt davon, nach seiner Rückkehr in das | |
Unternehmen seines Vaters einzusteigen. Er habe ihm so viel zu verdanken, | |
da könne er nicht einfach in Deutschland rumsitzen. Erst recht nicht er, | |
der älteste Sohn. „Mit dieser Scham kann ich nicht leben.“ | |
Qarizada hofft, dass sich die Islamisten weiterhin gemäßigter geben als | |
nach der letzten Machtübernahme im Jahr 1996. Die Wirtschaft sei am Boden, | |
es gebe dort momentan keinen Markt, sagt Qarizada. Für ihn eine Chance, | |
denn die Taliban-Regierung ist auf Männer wie ihn und seinen Vater | |
angewiesen: Unternehmer, die noch über Kapital verfügen und dem Land nicht | |
endgültig den Rücken gekehrt haben. Mit seinem Vater hatte er zeitweise | |
überlegt, Teppiche aus Afghanistan über die Türkei nach Deutschland zu | |
importieren. Aber ein Geschäft in Deutschland aufzubauen sei „viel, viel | |
komplizierter“, als er dachte. Qarizada weiß auch, wie unberechenbar die | |
Lage in Afghanistan ist. Dass es reicht, wenn ein Nachbar oder | |
Geschäftspartner ihn und seine Familie bei den Taliban denunziert. „Die | |
Angst bringt dich jeden Tag aufs Neue um.“ | |
Er erzählt von einem deutschen Major, den er damals in Afghanistan zu sich | |
nach Hause zum Essen einlud. Der Major sei mit einem Konvoi aus | |
Militärfahrzeugen vorgefahren. Fotos zeigen Qarizada im Sitzkreis neben | |
seinen Brüdern, seinem Vater und einem blonden Mann in Camouflage. | |
Selbstbewusst grinst der junge Übersetzer in die Kamera. Zwar hatte er bis | |
dahin nicht verheimlicht, dass er für die Bundeswehr arbeitet. Doch | |
spätestens nach diesem Abend wusste die ganze Nachbarschaft, dass die | |
Qarizadas gute Kontakte zu ausländischen Soldaten pflegten. Dass ihn | |
dieser Abend einmal in Gefahr bringen könnte, habe er damals nicht geahnt, | |
sagt er heute. | |
Eine Woche bevor die Taliban Kabul überrannten, bekam Qarizada eine | |
Nachricht. Der Absender: der Major, der ihn damals zu Hause in | |
Masar-i-Scharif besucht hatte. Er habe darauf bestanden, dass Qarizada das | |
Land sofort verlässt. „Das war ein Befehl.“ Gemeinsam mit seiner Frau und | |
den zwei Kindern nahm Qarizada schließlich einen der letzten Charterflüge | |
raus aus Afghanistan. | |
Er versteht nicht, warum die Bundeswehr seiner erweiterten Familie nicht | |
hilft, Afghanistan zu verlassen. Seine Stimme wird laut, er gestikuliert | |
vor der Kamera. Qarizada habe im Camp Marmal viele deutsche Freunde gehabt. | |
Fast alle dieser Freundschaften endeten mit dem Abzug der Bundeswehr. Nur | |
einen Soldaten habe er noch einmal in Deutschland getroffen. Andere hätten | |
ihm geschrieben, sie dürften hier keinen Kontakt zu ihm haben, da er als | |
Berater in Afghanistan mit sensiblen Informationen arbeitete, sagt | |
Qarizada. | |
Wenn der Rest seiner Familie nicht nachkommen kann, will er wieder zurück. | |
Er sucht bereits nach Jobangeboten von internationalen Organisationen in | |
Afghanistan. Die GIZ bestätigt auf taz-Nachfrage, bereits neue Ortskräfte | |
in Afghanistan unter Vertrag genommen zu haben. Qarizada hat in den | |
afghanischen Nachrichten gelesen, dass auch die Europäische Union eine | |
„minimale Präsenz“ in Afghanistan aufbaut. Eine Delegation soll die | |
humanitäre Hilfe in Kabul koordinieren, insgesamt 268 Millionen Euro stellt | |
Brüssel bereit. | |
Nach einer Schätzung des UN-Welternährungsprogramms hungern derzeit 23 | |
Millionen Afghan:innen – das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung. | |
Und wie immer sind es vor allem Kinder, die besonders von der Krise | |
betroffen sind. Die neue EU-Präsenz ist für Qarizada eine unerwartete | |
Gelegenheit. Er hofft, bald wieder das tun zu können, was er bereits für | |
die Bundeswehr in Afghanistan tat: vermitteln, beraten, übersetzen. | |
Die politische Verantwortung für die dramatische Lage in seinem Heimatland | |
sieht Qarizada bei den USA, nicht bei Deutschland. Ausländische | |
Militäreinsätze in Afghanistan lehnt er nicht grundsätzlich ab. Seiner | |
Meinung nach wäre vieles besser gelaufen, „wenn Deutschland nicht so | |
abhängig von den USA gewesen wäre“. | |
Die größte Hoffnung bleiben für ihn jedoch die jungen und gebildeten | |
Afghan:innen, die bereit sind, wieder zurückzukehren. So wie er. | |
## Zainab Baqiri: Aufgeben ist keine Option | |
Zainab Baqiri will nicht mehr schweigen. Sie steht vor dem Pult und spricht | |
laut und klar, damit alle im Hörsaal B1 der Universität Hohenheim sie | |
verstehen können. Es ist Ende Januar, vor der 30-jährigen Frau sitzen etwa | |
25 Studierende. Sie sind nach der Vorlesung dageblieben, um zu hören, was | |
Baqiri zu sagen hat. Einige halten ausgedruckte DIN-A3-Blätter hoch, auf | |
denen einzelne Wörter und Sätze neonfarben angestrichen sind. Auf einem | |
steht: „Bildung ist Menschenrecht“. | |
Mit ähnlichen Plakaten demonstrierten Frauen in Afghanistan in den | |
vergangenen Monaten für ihre Rechte. „Millionen afghanischer Frauen und | |
Mädchen können wegen der Taliban nicht mehr zur Schule gehen“, ruft Baqiri | |
auf Englisch in den Raum. „Ich bin eine von ihnen, aber hatte das Glück, es | |
rechtzeitig hinaus zu schaffen“. | |
Die Universität Hohenheim liegt am südlichen Rand von Stuttgart zwischen | |
Obstbäumen und Feldern. Baqiri wohnt hier in einem Studierendenwohnheim. In | |
ihrem 13-Quadratmeter-Zimmer ist der Boden mit Teppichen bedeckt, auf dem | |
kleinen Tisch steht ein verwelkter Strauß Tulpen. Baqiri setzt sich im | |
Schneidersitz auf das schmale Bett. | |
Nicht die Taliban, sondern das Studium war der Grund, warum sie Mitte | |
Oktober nach Stuttgart kam. Sie studiert einen Master in Umweltschutz und | |
nachhaltiger Lebensmittelproduktion. Aber es fällt Baqiri schwer, sich auf | |
ihr Studium zu konzentrieren, während [4][in Afghanistan die Gewalt gegen | |
Frauen] zunimmt. Zum Teil dürften sie ohne ihren Bruder oder Vater nicht | |
mehr das Haus verlassen, erzählt sie. „#Free Tamana #Free Parwana #Free | |
Alia Azizi“ steht auf einem selbst gebastelten Protestschild. Es sind Namen | |
von bekannten afghanischen Frauenaktivistinnen, die mutmaßlich von den | |
Taliban inhaftiert wurden. Als im Januar die ersten Uni-Prüfungen näher | |
kommen, bittet Baqiri ihre Freund:innen, keine Fotos und Videos mehr aus | |
Afghanistan zu schicken. Die Bilder von Taliban, die auf protestierende | |
Frauen einprügeln, lassen in ihrem Kopf keinen Platz zum Lernen. | |
Baqiri gehört der ethnischen Gruppe der Hazara an, eine schiitische | |
Minderheit, die vor allem im Norden und im Zentrum Afghanistans lebt und | |
besonders heftig von den Taliban verfolgt wird. Viele der etwa 4 bis 8 | |
Millionen Hazara sind schon vor Jahrzehnten in den benachbarten Iran | |
geflohen. Auch Baqiri wuchs dort auf und studierte in Teheran. Im Laufe der | |
Nato-Friedensmission kehrten einige Hazara aus dem Exil nach Afghanistan | |
zurück. | |
So auch die Baqiris, eine gut vernetzte Politikerfamilie, in der ein | |
akademischer Grad ein „Must-have“ ist, wie Zainab Baqiri sagt. Ihr Bruder | |
arbeitete in verschiedenen Positionen für die Regierung, ihre Mutter | |
kandidierte als Parlamentsabgeordnete. Alle ihre Tanten mütterlicherseits | |
haben einen Universitätsabschluss. Die meisten Frauen in ihrer Familie | |
seien gebildeter als die Männer. „Die Leute in Afghanistan nennen uns eine | |
feministische Familie.“ Baqiri selbst arbeitete viele Jahre für eine | |
australische NGO, die Entwicklungsarbeit im Norden Afghanistans leistete. | |
Zuletzt war sie als Übersetzerin in der Pressestelle des Vizepräsidenten | |
angestellt. Davor übersetzte sie zwei Jahre für ihre Tante, eine | |
Gouverneurin im Norden Afghanistans, bei Treffen mit der Bundeswehr in | |
Masar-i-Scharif. | |
In Afghanistan habe man ein sehr perfektionistisches Bild von den | |
Deutschen, sagt Baqiri. Sie seien präzise, arbeiteten sehr genau. Auch sie | |
selbst hatte solche positiven Stereotype. Aber die deutschen Berater der | |
Bundeswehr veränderten ihr Bild. Fast keiner sei länger als ein Jahr | |
geblieben, die vielen Wechsel hätten eine vertrauensvolle Zusammenarbeit | |
mit den lokalen Politiker:innen fast unmöglich gemacht. | |
„Viele waren nur für ihre Karriere in Afghanistan“, sagt Baqiri. Der | |
Abzug der internationalen Truppen im vergangenen Juni und Juli sei eine | |
„Schande“ gewesen. Die Deutschen und US-Amerikaner:innen hätten genau | |
gewusst, was passiert, als sie das Land verließen. Baqiri ist aufgebracht, | |
wenn sie darüber spricht. | |
Keine westliche Regierung half ihr bei der Ausreise. Es waren ihre | |
europäischen Freund:innen, die sie in Kabul als Couchsurfing-Host | |
kennengelernt hatte. Ein Freund aus Italien zahlte ihr die Flüge und | |
Hotels, als die Banken nach der Machtergreifung der Taliban wochenlang | |
geschlossen waren. Zum Semesterbeginn Mitte Oktober kam Baqiri in Stuttgart | |
an. Anfangs hörte sie Kommiliton:innen sagen, „dass die Afghanen ja | |
nicht gekämpft und das Land einfach den Taliban übergeben haben“. Baqiris | |
Antwort: „Ich kenne viele Jungen, die seit Jahren nicht mehr in die Schule | |
gegangen sind, weil sie ihre Dörfer gegen die Taliban verteidigt haben.“ | |
Ihre Augen funkeln. „Es waren vor allem Afghanen, die in dem Krieg | |
gestorben sind, nicht Deutsche oder US-Amerikaner.“ | |
Die erste Zeit in Deutschland war keine leichte für Baqiri. Einen Monat | |
lang musste sie warten, bis ihr Antrag auf ein deutsches Bankkonto | |
genehmigt wurde, erzählt sie. Sie sei krank geworden, doch als die Angst | |
der vergangenen Monate abfiel, traute sich nicht, zum Arzt zu gehen, weil | |
sie noch keine Krankenversicherung hatte. Mit der Zeit sei es ihr besser | |
gegangen, das Studium sei interessant, auch wenn fast alles online | |
stattfindet. | |
Es gibt Baqiri Kraft, etwas für ihre Landsleute zu tun. Neben den | |
Vorlesungen versucht sie, deutsche Stipendien für afghanische Studentinnen | |
zu organisieren. Bis vor Kurzem waren nur Privatuniversitäten in | |
Afghanistan weiter für Frauen geöffnet. Erst Anfang Februar ließen laut | |
Medienberichten auch erste staatliche Universitäten im Süden Afghanistans | |
wieder Frauen zu Vorlesungen – jedoch strikt von Männern getrennt. Oft | |
telefoniert Baqiri bis zwei Uhr morgens mit NGOs, die humanitäre Hilfe | |
leisten oder Afghan:innen bei der Flucht helfen. Sie sagt: „Ich tue, was | |
eigentlich andere tun sollten.“ Die anderen, damit meint sie Nato-Staaten, | |
wie Deutschland und die USA. | |
Zum Schluss ihrer Rede im Hörsaal kritisiert Baqiri die umstrittenen | |
[5][Gespräche von westlichen Diplomat:innen mit einer | |
Taliban-Delegation Ende Januar in Oslo]. Es habe sich dort vor allem um | |
Interessen einzelner Länder gedreht, nicht um das Leid der Afghaninnen. | |
Baqiri ruft in das Stuttgarter Auditorium: „Sie sprechen über | |
Menschenrechte, aber meinen keine Frauen.“ Sie träumt von einer eigenen NGO | |
für Bildung, Frauenrechte und Ernährungssicherheit in Afghanistan. | |
Wenn das Scheitern des westlichen Militäreinsatzes etwas gezeigt habe, dann | |
dass finanzielle Unterstützung nicht bei den Leuten angekommen sei. Allein | |
Deutschland gab 20 Milliarden Euro für den Militäreinsatz und | |
Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan aus. „Terrorismus ist der Feind,“ | |
sagt Baqiri. Aber die Korruption sei das „echte Monster“, das es in | |
Afghanistan zu bekämpfen gelte. Viele ihrer Freund:innen im Exil hätten | |
mit Afghanistan abgeschlossen. Aber Baqiri glaubt an eine bessere Zukunft | |
für ihr Land. „Vielleicht wird die nächste Revolution gegen die Taliban | |
eine Revolution der Frauen.“ | |
Noch immer warten in Afghanistan Tausende besonders Schutzbedürftige auf | |
Hilfe, die ihnen aus Berlin zugesagt wurde, darunter auch Angehörige von | |
Zainab Baqiri, Rishad Qarizada und Mohammad Ghafuri. Seit ihrer Flucht | |
spüren die drei mehr Verantwortung für ihr Land und seine Menschen als | |
zuvor. Weil sie fliehen konnten, weil sie in Sicherheit sind. | |
28 Feb 2022 | |
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