Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Kunst der Woche für Berlin: From Disco to Disco
> Bei Barbara Thumm erhebt sich endlich wieder eine Discokugel, Kerstin
> Drechsel zeltet bei Zwinger, Textbasiertes von Jimmie Durham bei Barbara
> Wien.
Bild: Alex Schweder: „Her Joy“ (2021); Foto: Jens Ziehe
Es ist mord’s was los, bei [1][Barbara Thumm], die Leute lieben die
Ausstellung und jeder und jede empfiehlt den Freunden, die Schau ja nicht
zu verpassen. Denn sie gibt uns zurück was wir, die noch immer unter den
Pandemiebeschränkungen leiden, so nötig brauchen: den Dancefloor.
Eine glitzernde, pulsierende Schlange am Boden bläst sich unter vielerlei
Geruckel zur riesigen Discokugel auf. Der raumfüllenden Ballon hat mehr als
vier Meter Durchmesser. Die 2000 Spiegelplatten, die der in Berlin lebende
New Yorker Künstler Alex Schweder mit Klettband auf die schwarze Ballonhaut
aufgebracht hat, werfen glitzernde Lichtreflexe in den Raum als ginge
gerade ein veritabler Meteoritenschauer über den Wänden nieder. Dazu raunt
eine dunkle Frauenstimme: „Her joy, her joy“. Aber das weiß man da schon
längst.
Neben dran pumpen sich auch drei zottelige Pelzwesen mächtig auf.
Allerdings haben sie eine deutlich phallische Form, sie erigieren, wobei
sie – kaum haben sie ihre volle Größe erreicht – auch schon wieder schlapp
machen. Dem Ballon geht in diesem Moment dann auch die Luft aus, versinkt
er vor Scham in den Boden? In einem iPad läuft „Our Milk“ (2021) ein
augemented Image, das die Galeriesituation zeigt, wobei riesige
Milchtropfen durch den Raum segeln. Das sieht faszinierend surreal aus und
weil Schweders anschwellende Skulpturen seit neuestem auch Lärm machen,
begleitet Frank Bretschneiders rhythmisches Getrommel über dem ein minimal
melodisches, elektronisches Surren liegt, die verschüttete Milch.
Mit dem Sopran den Geneva Skeen für die Wuschelpelze, die aus der mächtigen
Wolle bulgarischer Bergschafe gewebt sind, komponiert hat, dem Ächzen der
im Wachsen begriffenen Discokugel entsteht ein weiterer Klang-Raum, „The
Third Thing“, von dem der Ausstellungtitel spricht?
## Im Zeltlager mit Kerstin Drechsel
Statt Drittes Ding interessiert Kerstin Drechsel die „Dritte_Haut“ wie ihre
Soloschau in der [2][Zwinger Galerie] heißt. Drechsel interessiert die
Behausung der Menschen. Für die Ausstellung hat sie unterschiedlichste
Formen dieser leichten und relativ instabilen Zelte in den Fokus genommen,
die ihren Einsatz im Urlaub am Strand haben, wo sie Schutz gegen die Sonne
und den Wind bieten. Manchmal sieht man sie auch in den Berliner Straßen
und Parks, wo sie in Nischen versteckt, Obdachlose als Unterschlupf
nutzten.
Die [3][Künstlerin] hat nun eine weitere Verwendung für diese ephemere
Architektur gefunden. Sie macht ihr Zeltlager zu einer vielteiligen,
raumgreifenden Leinwand, zum Malgrund für die Raster der Moderne. Freilich
beschwört sie mit den roten oder blauen Karos wie sie Geschirrtücher
aufweisen, eine spezifische weibliche Ordnung des Intimen und Häuslichen.
Dazu verleiht sie der Leinwand Gebrauchsspuren, malt bräunliche und
gelbliche Flecken auf sie. Was natürlich die Frage provoziert: Hat da
vielleicht ein Hund im Vorbeigehen das Bein gehoben?
Ergänzt wird [4][diese Malerei] durch aufgedruckte Textfragmente, die man
auf den ersten Blick als Rede von den zwischenmenschlichen wie den
gesellschaftlichen Verhältnisse interpretiert, die jedoch bei genauerer
Betrachtung eher ins Unscharfe und Vieldeutige tendieren, womit es Aufgabe
und Vergnügen der Betrachter:innen bleibt, sich einen Reim auf diese
Sätze zu machen: „Wir sind heute lahm“ oder „Wir haben ein schlechtes
Gewissen“ oder „Wir schließen zweimal ab“. Dem kann man aber nur zustimm…
„Nur weil ich traurig bin, musst du mir nicht deine Zunge reinschieben“.
## Jimmie Durham von seiner textuellen Seite
Auch im Werk von Jimmie Durham (1940-2021) spielen Texte eine ganz
kardinale Rolle zum Verständnis der künstlerischen Konzepte. Und auch hier
sind sie nicht simples Werkzeug und Mittel zum Zweck. Sie sind selbst
Zweck, also Selbstzweck, Literatur, Poesie und Standpunkt. Das lässt sich
zur Zeit in der posthumen Einzelausstellung „texts and recordings“ in der
[5][Galerie Barbara Wien] erfahren.
Barabara Wien begann 2000 mit Jimmie Durham zusammenzuarbeiten und als
Spezialistin für das Künstlerbuch veröffentliche sie zwei seiner
Gedichtbände und den Vortrag „The Usual Song & Dance Routine With a Few
Minor Interruptions“, den er 2010 an der Glasgow School of Arts hielt und
von dem ein Filmausschnitt jetzt in der Ausstellung zu sehen ist. Ein
weiterer Filmmitschnitt zeigt eine Lesung aus dem 2020 erschienenen
Gedichtband „Particle/World Theory“.
Es ist der weniger bekannte Jimmie Durham, dem man bei Barbara Wien
begegnet. Denn international berühmt wurde der Künstler in den 1980er
Jahren als er aus Steinen, Tierschädeln, Hölzern, Federn und Knochen
Wolpertinger-artige Skulpturen bastelte und die sich – wie unschwer zu
erkennen war – über esoterische und andere europäische Klischees über die
„Kunst der Indianer“ lustig machte. „Pocahontas’ Underwear“ heißt ei…
dieser Arbeiten.
Der Künstler wusste wovon er sprachen, denn in Zeiten der US-amerikanischen
Bürgerrechtsbewegung bekannte er sich demonstrativ zu seiner Abstammung als
Cherokee und initiierte als Aktivist maßgeblich die UN-Deklaration zu den
Rechten der indigenen Völker. 2017 warf ihm dann das
Indian-Country-Magazine in identitätspolitischer Stoßrichtung vor, nicht
der (amtlich bestätigte) Cherokee zu sein, als der er es sich angeblich
anmaßt für American Indians zu sprechen.
Als Künstler war er viel gefragt, zum Beispiel im Jahr 2011 wie aus der
12-teiligen Wandinstallation „Pissing in Germany“ (2012) ersichtlich wird.
Er reist von Arnsberg zu seiner Retrospektive nach Antwerpen, eine lange,
langweilige Zugfahrt über Orte wie Vierssen, Hückelhoven und Hörde, woraus
Durham eine Gedichtzeile macht. Den Text hat er auf eine rohe
Sperrholzplatte geklebt. An der nächsten Wand hängt der vergrößerte
Sanifair Wert-Bon.
## Der Anfang der Sprache
Dann geht’s zurück nach Kassel, wo er im Vorfeld der documenta 13 in der
Karlsaue einen Korbiansapfelbaum pflanzt. Weiter nach Basel, wo er das
Wochenende durcharbeitet, um auf der Art Basel eine komplexe Arbeit zu
zeigen. Auf der Messe erleidet er dann einen Schlaganfall. Jetzt klebt auf
der Holztafel der Zettel für das glutenfreie Krankenhausfrühstück,
bestehend aus Kaffee und Orangensaft, 2 Brötchen, 2 Butter, 2 Konfitüre und
Fruchtjoghurt.
„Mäßige Materialfehler“ (2000) eine Grafikmappe mit neun mit Steinen und
Glasscherben ausgeführten Radierungen enthält auch ein Textblatt, in dem er
luzide über Sprache nachdenkt und schreibt „I think that language does not
begin with the desire to name things, but with the need to describe action:
Search!, Help!, Run, Come, Dance, Work.“ In diesem Sinne, weil es sich
absolut lohnt: Hingehen!
15 Feb 2022
## LINKS
[1] https://bthumm.de/
[2] https://www.zwinger-galerie.de/
[3] https://kerstindrechsel.com/
[4] /Archiv-Suche/!805693&s=kerstin+drechsel&SuchRahmen=Print/
[5] https://www.barbarawien.de/
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
taz Plan
Berliner Galerien
Kunst Berlin
zeitgenössische Kunst
Installation
Skulptur
Malerei
Textilkunst
Word Art
taz Plan
taz Plan
taz Plan
Wochenkommentar
taz Plan
Installation
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellungsempfehlung für Berlin: Tüten von Welt
Jac Leirner entpuppt sich als Plastiktütensammlerin. Bei Esther Schipper
setzt sie die Funde in Szene; die Besucher:innen versetzt sie in
Staunen.
Die Kunst der Woche für Berlin: Im Ohrenschmalz die Kenntnis
Durch Gräser tauchen mit Raphaël Larre, Gemälde aus Samen von Trisha Baga
und ein einziges Winden durch die Gehörgänge mit Wong Ping.
Die Kunst der Woche für Berlin: Abriss, Angriff
Schlagfertig: die Grupenausstellung „Tagesschau“ bei Mountains;
Antikolonial: das Kollektiv CATPC bei KOW; Einsam: Porträts von Aubrey
Levinthal.
Debatte um Kunsthalle in Tempelhof: Der Dercon-Moment
Der Boykottaufruf der Berliner Künstlerschaft gegen die private Kunsthalle
im Flughafen Tempelhof ist richtig.
Kunsttipps der Woche: Bilder, die streiten
Frühe Farb-„Characters“ aus den 1980ern von Fiona Rae. Wortreiche
Bilderrätsel mit Tilo Riedel. Und Indien neu fotografiert – von den Rändern
her.
Kunstwochen in Berlin: Puppenhaus mit Kammern
Von der neuen SOX-Schaufensterausstellung bis zur KGB-Kunstwoche sind eine
Woche vor der Berlin Art Week schon viele kritische Positionen am Start.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.