# taz.de -- Alexander Kluge wird 90: Der Landvermesser | |
> Nichts ist realer als menschliche Wünsche. Dem Filmer, Autor, Anwalt und | |
> Philosophen der „Gegenöffentlichkeit“ Alexander Kluge zum 90. Geburtstag. | |
Bild: Alexander Kluge 1975 in den Räumen des Filmverlags der Autoren in Münch… | |
Das Erste, was bei Begegnungen mit Alexander Kluge auffällt, ist sein | |
aufmerksamer, zugewandter Blick in einem kaum bewegten Gesicht. Seine | |
Stimme klingt im Gespräch exakt so, wie man sie aus seinen Filmen kennt: | |
eindringlich, freundlich, sachlich, aber alles andere als kalt, mit | |
leichter Distanz sowohl zum Gegenstand des Gesprächs wie zum Gegenüber. | |
Dem Gesprächspartner gegenüber wird Distanz durch Höflichkeit hergestellt, | |
im Verhältnis zum Gesprächsgegenstand geschieht das durch das Bemühen um | |
Genauigkeit. Es geht um Beobachtung, nicht um Einfühlung. Kluges | |
Konzentration ist nicht unbedingt die Disziplin eines Wissenschaftlers, der | |
auf Verfahrensgenauigkeit achtet und auf widerspruchsfreie Argumentation | |
besteht. Es ist die Konzentration, die im Spiel benötigt wird und die im | |
Spiel entsteht. | |
Vor zehn Jahren, in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag, reagierte | |
Alexander Kluge auf die Frage, wie er auf das kommende Jahrzehnt blicke, | |
mit einem seiner schillernden Sätze: „Das sind Jahre, die für uns alle | |
nicht ohne Rätsel, nicht ohne Gefährdungen sind. Aber können wir diese | |
Frage nicht auslassen? Ich stilisiere diesen Geburtstag ja nicht. Ich bin | |
ein arbeitender Mensch.“ | |
Ein arbeitender Mensch ist Alexander Kluge, der am Montag (14. 2.) seinen | |
90. Geburtstag feiert, bis heute. Allein in diesem Jahr veröffentlicht er | |
drei neue Bücher, als sei das Aufschreiben von Geschichten, das Festhalten | |
seines Gedanken-, Lektüre- und Erinnerungsstroms, für ihn so | |
selbstverständlich, notwendig und anstrengungsfrei wie für andere Menschen | |
das Atmen. Möglicherweise gleicht er darin Claude Lévi-Strauss, der „nicht | |
das Gefühl“ hatte, seine „Bücher selbst geschrieben zu haben. Eher habe i… | |
das Gefühl, dass ich eine Durchgangsstelle meiner Bücher bin“. | |
## Beobachter und Chronist | |
Das könnte den präzisen, nüchternen Stil des promovierten Juristen Kluge | |
erklären, ein getreuer Protokollant der Ereignisse. Allerdings fasst er die | |
Wirklichkeitsausschnitte, ja den Begriff der Wirklichkeit selbst, für die | |
er als Beobachter und Chronist zuständig ist, denkbar weit. Auch in seinen | |
jüngsten Veröffentlichungen reichen die Themen von Napoleon, dem Zirkus, | |
oder Hagen von Tronje über Rückblicke auf sein eigenes filmisches Frühwerk | |
und Momente des Zweiten Weltkriegs bis zu Kindheitserinnerungen, | |
Schneeberge im Januar, die Geräusche seiner Heimatstadt in der Frühe, | |
Bombengeschwader über der Stadt. | |
Es sind vertraute Motive aus Kluges Werk, an dem er seit sechs Jahrzehnten | |
arbeitet – ein ausgedehnter Bau mit zahlreichen Querverbindungen, Anbauten, | |
unterirdischen Gängen und Labyrinthen. Das Terrain, das er mit seinem Werk | |
ausmisst, bezeichnet Kluge im Untertitel seines jetzt erschienenen „Buchs | |
der Kommentare“ als einen „unruhigen Garten der Seele“. | |
Auch wenn Enzensberger ihn voller Respekt einen „herzlosen Schriftsteller“ | |
genannt hat, sollte man Kluges Nüchternheit nicht mit Gleichgültigkeit oder | |
Gefühlskälte verwechseln. Das Gegenteil ist der Fall. Im „Buch der | |
Kommentare“ berichtet er vom Tod seiner Schwester Alexandra Kluge, von den | |
Tagen davor und danach – ein Versuch, sie festzuhalten. Er ist eng mit ihr | |
verbunden, „meine lebenslängliche Gefährtin“. Genauigkeit ist eine Form d… | |
Anteilnahme: „Ich wusste nicht, dass das, was wir in kurzen Brocken | |
redeten, unser letztes Gespräch war. Ich war kein Realist.“ | |
Seine Wünsche wollen die Realität des Todes nicht wahrhaben. Beides, der | |
Tod eines geliebten Menschen und der Wunsch, der diesen Tod nicht | |
anerkennen will, ist für Kluge sehr wirklich. Er nennt das den | |
„Antirealismus des Gefühls“. Nichts ist für diesen nüchternen | |
Schriftsteller realer als die Wünsche der Menschen. Das gilt besonders für | |
die vergeblichen, unerfüllten Wünsche. | |
## Ein tiefer Brunnen | |
An einer Stelle vergleicht er seine Kommentare (und man darf wohl | |
hinzufügen: sein Werk) mit tiefen Brunnen, „die weit unten an ihrem Boden | |
mit anderen Brunnen verbunden sind. In der Wüste der Sahara legen solche | |
unterirdischen Wasseradern gewaltige Strecken zurück und verbinden Oasen. | |
Braudel vergleicht sie mit den ‚Flüssen des Unbewussten‘ in uns Menschen.�… | |
Man kann sich Kluges Werk als Tiefbohrungen zu diesen „Flüssen des | |
Unbewussten“ vorstellen. Er ist davon überzeugt, dass die „Wüsten des | |
Ichs“, die „organisierte Gleichgültigkeit der Objektivität“, das „Ein… | |
des Egos“ ohne diese unterirdischen „Adern der Lebendigkeit“ verkümmern | |
müssten. | |
Seine künstlerische Arbeit, egal ob als Schriftsteller oder Filmemacher, | |
gleicht der eines Landvermessers, der diese menschlichen Oasen, die | |
Wunschenergien und unterirdischen Ströme in der Wüste der Sachzwänge | |
kartografiert. Weil er beides, die „Adern der Lebendigkeit“ und die | |
„organisierte Gleichgültigkeit der Objektivität“ beobachtet und ernst | |
nimmt, kippt in seinem Werk Dokumentarisches und Fiktives verwirrend und | |
sich gegenseitig erhellend ineinander. | |
Jürgen Habermas, ein Freund und Weggefährte Kluges, beschreibt das In- und | |
Gegeneinander der gleichgültigen Objektivität, der Funktionslogiken der | |
Ordnungssysteme mit dem Eigenleben der Subjekte als einen Kern seines | |
Werkes. Kluge, so Habermas, „heftet den Blick auf die Nahstellen, wo die | |
Kategorien des Rechts und der Organisation in Lebensläufe eingreifen. Er | |
trennt diese Nähte geduldig wieder auf und stößt dort auf die | |
überwältigende Intelligenz des Alltags, auf Wünsche, Phantasien und | |
Empfindungen, auf sublime Tugenden und Fertigkeiten.“ | |
Die Bürokratien und Organisationen, sei es im Rechts- oder im Militärwesen, | |
untersucht Kluge mit der Detailfreude eines Ethnologen, der seltsame | |
Stammesrituale dokumentiert. Kein Wunder, dass er in seinen Filmen immer | |
wieder fasziniert die Choreografien von Paraden, Aufmärschen, | |
Staatsempfängen, Gerichtsverhandlungen oder Parteitagen beobachtet. Diese | |
Inszenierungen der Selbstrepräsentation der Macht werden unter Kluges Blick | |
zu einer Zirkusveranstaltung. | |
## Absurde Systeme | |
Dafür genügt zum Beispiel, dass er am Beginn seines Zirkusfilms „Die | |
Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ 1968 unter Filmaufnahmen Hitlers, der | |
eine Parade abnimmt, eine italienische Schlagerversion von „Yesterday“ | |
legt. Dass er den Organisationen und „großen Systemen“ (Habermas) nicht | |
traut und sehr lakonisch ihre Absurditäten festhält, dass er die „Wünsche, | |
Phantasien und Empfindungen“ für mindestens so real hält wie die | |
Befehlsketten, Geschäftsberichte und Gesetzbücher, macht ihn zu einem | |
subversiven Autor. | |
[1][Subversiv ist Kluge auch in seinem Begriff von Öffentlichkeit,] einer | |
der kostbaren und unverzichtbaren Ressourcen eines Gemeinwesens. | |
Interessanter, als die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern, ist es, | |
eigene Zeitungen zu gründen, Filme zu drehen und Bücher zu schreiben: Gegen | |
schlechte Filme, Zeitungen, Fernsehsendungen helfen nur gute Filme und | |
Zeitungen. Das ist Kluges Projekt der Gegenöffentlichkeit. | |
[2][Kluge erzählt Gegen-Geschichten zu den offiziellen Darstellungen der | |
Wirklichkeit] – am nachdrücklichsten vielleicht in dem von ihm initiierten | |
Kollektivfilm „Deutschland im Herbst“ über die Bundesrepublik nach der | |
Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer und den | |
Selbstmorden der in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder. Ein Jahr nach | |
diesem Film gründete sich 1979 die taz, auch das ein Projekt der | |
Gegenöffentlichkeit, das Kluge und sein Freund Habermas mit Sympathie und | |
Neugier beobachteten. Kluge erzählt, dass er in der Gründungsphase der taz | |
an einem der Frankfurter Vorbereitungstreffen teilgenommen hat. | |
Zu Kluges Begriff der Öffentlichkeit gehört, dass ihre Teilnehmer und | |
Nutzer erwachsene Menschen sind, nicht Reiz-Reflex-Kunden einer | |
Bewusstseinsindustrie, deren Daseinszweck die Monetarisierung von | |
Aufmerksamkeit ist, etwa als Einfallstor für Werbung. Dass Kluge in der | |
Frühzeit des Privatfernsehens dieses Geschäftsmodell eine „subtile Form des | |
Menschenhandels“ genannt hat, trifft erst recht für die heutige | |
Aufmerksamkeits-Verwertungs-Industrie der Internetkonzerne zu, neben deren | |
Raffinesse das Trash-Fernsehen der Privatsender rührend altmodisch wirkt. | |
Eines der erstaunlichen subversiven Manöver Kluges bestand darin, die | |
Sender des Privatfernsehens mit juristisch-politischer Geschicklichkeit zu | |
zwingen, ihm als unabhängigen Produzenten über viele Jahre Programmfenster | |
zu seiner freien Verfügung einzuräumen. Dort konnten die RTL-Zuschauer dann | |
zur späten Stunde Heiner Müller beim Schweigen zusehen, Kluges Freund Helge | |
Schneider als U-Boot-Kommandant in Fantasieuniformen begegnen oder sich von | |
Dirk Baecker erklären lassen, was postheroisches Management ist. | |
Kluges Fernsehen sei „Zirkus mit 12-Ton-Musik“ stöhnte der damalige | |
RTL-Chef Thoma seinerzeit. Das ist nicht die schlechteste Charakterisierung | |
des Werks dieses erstaunlichen Künstlers. | |
14 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
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