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# taz.de -- Wissenschaftsfreiheit an der Uni Hamburg: Alle Macht den Argumenten
> Die Universität Hamburg hat sich einen „Kodex Wissenschaftsfreiheit“
> gegeben. Sie möchte damit Einflussnahmen und Denkverboten entgegentreten.
Bild: Kodexkonform? Protest in der Antrittsvorlesung von Bernd Lucke in der Uni…
Osnabrück taz | Meinungsfreiheit. Dieses Wort fällt derzeit häufiger als
gewöhnlich, zumal im überhitzten Streit um die Deutungshoheit zu Covid-19.
Pressefreiheit sowieso, im Kampf der Telegram-Demagogen gegen die
klassischen Medien. Kunstfreiheit ebenfalls, spätestens seit der Berliner
Staatsschutz sich jüngst entschied, Objekte des Zentrums für Politische
Schönheit zu durchsuchen, des „radikalen Flügels des Humanismus“, wegen
dessen provokanter Anti-AfD-Arbeit.
Aber damit enden die Freiheiten nicht, die uns Artikel 5 des Grundgesetzes
garantiert. [1][„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“], steht in
Absatz 3.
Verständlich also, dass sich 2019, zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes,
eine Allianz von Wissenschaftsorganisationen bildete, von der
Alexander-von-Humboldt-Stiftung bis zur Deutschen Forschungsgemeinschaft,
von der Max-Planck-Gesellschaft bis zur Nationalen Akademie der
Wissenschaften Leopoldina, um in der Kampagne „Freiheit ist unser System.
Gemeinsam für die Wissenschaft“ ein Zeichen zu setzen „gegen
Einschränkungen und Einflussnahmen, die vielerorts an Boden gewinnen“.
Auch die Universität Hamburg sieht offenbar Gefahr im Verzug. Jüngst hat
sie den [2][„Kodex Wissenschaftsfreiheit“] in ihr Leitbild implementiert.
Im Auftrag des Akademischen Senats und des Präsidiums hat eine 14-köpfige
Kommission ihn erarbeitet, von Oktober 2019 bis Mai 2021.
„Danach hat es sich dann, wie das manchmal so ist, bis zur Umsetzung leider
noch etwas hingezogen“, sagt Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Fakultät für
Rechtswissenschaft und Vorsitzender der Kommission, der taz. „Kollegen aus
Philosophie und Medizin haben zusammengearbeitet, aus Theologie und
Erziehungswissenschaft, dazu Vertreter der Studierendenschaft, des
Akademischen Mittelbaus und der Verwaltung. Das war ein sehr spannender, in
Teilen durchaus auch streitiger Diskussions- und wechselseitiger
Lernprozess. Da sieht man dann plötzlich Dinge, die man vorher in dieser
Deutlichkeit und Brisanz noch gar nicht wahrgenommen hat.“
Der Kodex tritt dem Versuch entgegen, „Argumente durch Macht zu ersetzen“,
so Trute. „Da treten dann allgemeine gesellschaftliche Konfliktlinien
zutage, und mitunter wird die Hochschule dadurch zum Kampffeld.“
Besonders augenfällig: Der Fall von Bernd Lucke, Professor für
Makroökonomie an der Universität Hamburg und ehemaliger Spitzenpolitiker
der AfD, dessen Vorlesungen [3][2019 durch Proteste gecrasht] wurden. „Das
ist dann das Gegenteil von Wissenschaft“, sagt Trute. „Egal, wie man zu
Lucke steht. Solange er den Hörsaal nicht für politische Predigten
missbraucht, muss man das aushalten können.“ Pause. „Es gab auch den Fall
einer Nachwuchswissenschaftlerin, die von einem ehemaligen Beauftragten der
Bundesregierung wohl ganz unverhohlen unter Druck gesetzt wurde. Solche
Sachen passieren immer wieder.“
Dass der Kodex jetzt im Leitbild der Universität steht, heißt allerdings
nicht, dass die Arbeit mit ihm beendet ist. „Das muss jetzt mit Leben
gefüllt werden“, sagt Trute. „Vielleicht gibt es eine Vorlesungsreihe dazu,
Seminare in den Fakultäten.“
In elf Kernthesen definiert der Kodex den „Freiraum der Wissenschaft“, und
die Universität Hamburg ist da bundesweit Vorreiter.
Einzelnes an diesen Thesen und ihren Erläuterungen klingt ein wenig
redundant. Etwa bei Kernthese X., „Bedeutung von
Ressourcen-Entscheidungen“. Sie beginnt mit: „Die Freiheit der Wissenschaft
stößt dort an praktische Grenzen, wo aufgrund fehlender oder unzureichender
Mittel Forschungsfragen gar nicht oder nur beschränkt verfolgt werden
können.“ Und die Erläuterung beginnt mit: „Die zur Verfügung stehenden
Ressourcen haben einen direkten Einfluss darauf, ob, in welcher Weise und
in welchem Umfang akademische Freiheiten in Forschung und Lehre real
wahrgenommen werden können.“
Aber der Großteil hat Kraft. Da liest man dann, „dass eine von
gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen
Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft
letztlich am besten dient“. Oder dass Forschung „vielfach auf kritische
Befragung gesellschaftlicher Verhältnisse“ zielt und versucht, „Impulse f�…
deren Änderung zu setzen“.
## Ethik ist Sache der Forschenden
Besonders herausfordernd wird es bei Kernthese V., „Missbrauch von
Forschungsergebnissen“. „Die Möglichkeit einer missbräuchlichen Verwendung
der in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse durch Dritte“, steht hier,
rechtfertige keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit. Neues Wissen
schade nicht. Ethische Erwägungen allein vermöchten „eine rechtliche
Einschränkung der Freiheit nicht zu rechtfertigen“.
Von besonderer Tragweite ist die Überzeugung: „Die Grenzziehung kann
letztlich nur durch Selbstreflexion der Wissenschaftler:innen erfolgen und
nicht durch von außen aufgeprägte Normen.“ Und was, wenn es diese
Wissenschaftler:innen an „Rechenschaft über die Folgen des eigenen
Handelns“ fehlen lassen?
Dass Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in aller Munde sind, die
Wissenschaftsfreiheit jedoch nicht, erklärt Trute so: „Die meisten Menschen
haben das einfach nicht auf dem Schirm. Wer weiß schon, wie Wissenschaft
funktioniert? Was da passiert, ist ja oft sehr opak.“ Dass das Verständnis
für Wissenschaft so gering sei, sieht er auch als Fehler der Wissenschaft:
„Wir müssen [4][besser kommunizieren], was wir tun.“
Vielleicht kommt es ja mit dem „Kodex Wissenschaftsfreiheit“ wie mit dem
„Verhaltenskodex zur Religionsausübung“, der ebenfalls Teil des Leitbilds
der Universität Hamburg ist. „Der hat wirklich Kreise gezogen“, sagt Trute.
„Bis nach Österreich, bis in die Schweiz.“
7 Feb 2022
## LINKS
[1] /Wissenschaftsfreiheit/!t5580694
[2] https://www.uni-hamburg.de/uhh/profil/leitbild/kodex-wissenschaftsfreiheit.…
[3] /Proteste-gegen-Lucke-an-der-Uni-Hamburg/!5637591
[4] /Vermittlung-von-Wissenschaft/!5779429
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Universität Hamburg
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China
Wisskomm
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