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# taz.de -- Corona und Impfpflicht: Impfung oder Lockdown
> Bei der Impfpflicht geht es nicht um Gewissensfragen, sondern um die
> Lösung für ein Problem. Nur durch Impfungen sind die Krankenhäuser zu
> entlasten.
Bild: Bewegt unsere Zeit: das Coronavirus
Es sei seines Erachtens sehr vernünftig, sich impfen zu lassen, aber er
wolle auf keinen Fall, dass der Staat den Menschen vorschreibt, was
vernünftig ist. So begründete der FDP-Abgeordnete Wolfgang Kubicki seine
Ablehnung einer Corona-Impfpflicht vorige Woche in der
[1][Orientierungsdebatte des Bundestags]. Beim ersten Hinhören klingt das
wie eine dieser hübschen paradoxalen Differenzierungen, die eine
freiheitliche politische Ordnung unbedingt braucht: „Freiheit ist immer die
Freiheit des Andersdenkenden.“
Wahlweise „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür
einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ – Fügt sich das Kubicki-Stateme…
von der Vernünftigkeit der Möglichkeit der Unvernunft also nicht perfekt in
das Poesiealbum des Liberalismus? Das mag durchaus sein, aber es trägt
nicht die Ablehnung einer Impfpflicht. Zum einen kann es ein Recht auf
„unvernünftigen“ Freiheitsgebrauch nur geben, wenn man lediglich seine
eigenen Interessen beschädigt.
Wer seine Finanzen durch Prasserei, seine beruflichen Aussichten durch
Faulheit und seine Gesundheit durch Rauchen und Trinken ruiniert, hat beste
Argumente, auf seinem Recht auf Unvernunft zu bestehen: Der freiheitliche
Staat hat seinen Bürgern nicht vorzuschreiben, was unter Lebensgenuss zu
verstehen ist und wie viel davon akzeptabel ist.
Aber darum geht es bei der Impfung nicht: Nicht die Gesundheit des
Einzelnen ist ihr Ziel, sondern eine gesellschaftliche Resilienz, die eine
Rückkehr zum normalen Leben ermöglicht. Jeder könnte sich selbst überlegen,
ob er durch den Verzicht auf eine Impfung das Risiko einer schweren
Covid-19-Erkrankung eingehen will – wenn er sich dann still in den Wald
zurückzöge und unbemerkt verstürbe. Das tut aber niemand; vielmehr klopfen
auch die Ungeimpften an die Krankenhaustür und begehren Hilfe.
## Gesellschaftliche Resilienz ist das Ziel
Das ist das ganze Problem: Die Belastung der Krankenhäuser führt dazu, dass
wir Menschen mit anderen Erkrankungen nicht mehr zeitnah und hinreichend
helfen können, wenn nicht sogar eine Triage droht. Es wird ja schon
erforscht und berechnet, wie viele zusätzliche Krebstote uns dieser Engpass
[2][bereits gekostet hat]. Die Corona-Impfung zu verweigern, ist daher
keine private Angelegenheit, wie der abendliche Alkoholkonsum, sondern
ähnelt eher der Entscheidung, seine Steuern nicht zu bezahlen – da ist es
dann vernünftigerweise auch nicht mehr weit her mit der Toleranz gegenüber
der Unvernunft.
Zum anderen: Was wäre denn die Alternative zur Impfpflicht? Das Beschwören
der Hoffnung, die Ungeimpften kämen nun doch noch zur Vernunft oder uns
fiele plötzlich eine total stylische und überzeugende Werbekampagne für die
Impfungen ein, klingt schal und bleibt nicht ohne Grund seltsam unkonkret.
„Haben wir wirklich schon alle Mittel ausgeschöpft?“ – sicherlich nicht,
aber was wäre denn noch erfolgversprechend, um die Impfquote zu erhöhen?
Wenn die politische Mehrheit der Meinung ist, dass alles Werben und
Überzeugen und Anbieten nicht mehr weiterhilft – kann man es ihr verdenken?
Verfassungsrechtlich hielte sich das sicherlich im politischen
Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Denn die Alternativen zur Erhöhung
der Impfquote wären die Überlastung des Gesundheitssystems, die niemand
redlicherweise wollen kann, oder der immer wiederkehrende Lockdown.
Entweder wir opfern einen Teil der Schwerkranken oder unsere Freiheit der
„Tyrannei der Ungeimpften“ – dann wäre die Impfpflicht doch das mildere
Mittel, wenn es mit Freiwilligkeit und Überzeugung nicht geht. Dies wird
umso deutlicher, wenn man sich klarmacht, dass die Impfpflicht systematisch
nichts anderes ist als das Ausweichen vor der Zurückstellung
(„Posteriorisierung“) der Ungeimpften im Krankenhaus.
## Zur Behandlung bitte hinten anstellen
An sich wäre es ordnungspolitisch konsequent, den Ungeimpften zu sagen:
„Ihr müsst Euch nicht impfen lassen, das ist Eure Entscheidung. Aber
erwartet nicht, dass wir, die alles Erforderliche für unseren Schutz getan
haben, dann für Euch auf unsere medizinische Versorgung verzichten. Bitte
stellt Euch im Krankenhaus ganz hinten an.“
Dieses Argument gilt grundsätzlich gegenüber allen, die durch ihr Verhalten
zu ihrer Behandlungsbedürftigkeit beigetragen haben; in Teilen hat es die
Politik auch bereits aufgegriffen, als etwa zu Silvester das Abbrennen von
Feuerwerkskörpern weitgehend untersagt wurde, um eine weitere Belastung der
Krankenhäuser zu verhindern. Aber es sind im Übrigen kaum Verhaltensweisen
erkennbar, durch deren Veränderung die Krankenlast in der Pandemie schnell
gesenkt werden könnte – außer dem Impfen.
Und so ist es auch weniger die Gefahr einer schleichenden
Risikoindividualisierung und Entsolidarisierung im Versorgungssystem, die
uns vor einer Berücksichtigung des Impfstatus bei Behandlungsentscheidungen
zurückschrecken lässt. Vielmehr wollen wir auf die professionsethische
Orientierung des medizinischen Personals Rücksicht nehmen und ihm eine
Sortierung der Patienten anhand des Impfstatus nicht zumuten.
Aber hat Kubicki mit seiner liberalen Intuition nicht vielleicht doch in
dem Sinne recht, dass es eine absolute Grenze gibt, was der Staat vom
Einzelnen verlangen kann – und die verläuft an seiner Körpergrenze? „My
body is my castle“ klingt nicht so schlecht, und so könnte man jede
Verpflichtung zum Impfen schlicht als eine staatliche Körperverletzung
ansehen, die nie rechtfertigungsfähig ist. Tatsächlich sollte das
Überschreiten der körperlichen Grenze ein Warnlicht auslösen – aber hier
ist es falscher Alarm.
Wenn die Gefahr groß genug und der Eingriff – wie die Impfung – nur ein
minimales Risiko mit sich bringt, lässt sich die Verhältnismäßigkeit
letztlich nicht bezweifeln. Die Auffassung, dass staatliche Eingriffe in
die körperliche Integrität nie zulässig sind, während die soziale und
pädagogische Vernachlässigung der Kinder angesichts geschlossener Schulen
hinzunehmen ist, dürfte die Komplexität der Verhältnisse biologistisch
verkürzen: Ausgefallene Schulbildung kann viel schlimmer sein als ein
kleiner Piks.
Und auch „Mein Bauch gehört mir“ war in der deutschen Rechtskultur nie ein
unangefochtener Grundsatz. Es war deshalb nicht klug, die Entscheidung über
die [3][Impfpflicht im Bundestag zu einer Gewissensfrage] aufzuplustern.
Das ist bei medizin- und bioethischen Fragen zwar immer wieder gemacht
worden, es ist hier aber nicht nur unglücklich, weil man den Verdacht hat,
dass die Ampelkoalition damit gerne verdecken möchte, dass sie gar keine
Mehrheit zusammenbekommt.
Es verleiht der Impfdiskussion auch einen Status, den sie nicht hat: Es
geht nicht um die Rechtfertigung eines heiklen Bürgeropfers, sondern ganz
profan um die faire politische Bewältigung eines Problems: Wollen wir den
Lockdown, überlastete Krankenhäuser oder eine Impfpflicht? Diese klare
Fragestellung droht nun in den subjektiven Beliebigkeiten der
vermeintlichen Gewissensqualen unterzugehen.
## Kein Zweifel an der Verhältnismäßigkeit
Ganz und gar an der Sache vorbei gehen alle Behauptungen, eine höhere
Impfquote sei nicht nötig oder trage zur Problemlösung nichts bei. Das ist
haltloses Gerede, das – außer bei der AfD – im politischen Raum zum Glück
auch kaum Gehör findet. Auch die Idee, die Politik habe das deutsche
Krankenhauswesen heruntergewirtschaftet und es wäre ein „milderes Mittel“,
mehr Intensivbetten aufzustellen, ist schon angesichts des Umstandes, dass
[4][Deutschland die höchste Dichte an Intensivbetten hat], schwerlich
überzeugend. Kein Gesundheitssystem der Welt fängt eine Pandemie ab, wenn
man nichts tut.
Bleibt noch der „Bruch des Versprechens“. Haben nicht alle Politiker und
Parteien zunächst versichert, eine Impfpflicht werde es nicht geben?
Tatsächlich haben zu Beginn der Impfkampagne alle geglaubt – und die
wissenschaftliche Beratung hat das unterstützt –, dass man mit
Freiwilligkeit und Überzeugung eine ausreichende und viel höhere Impfquote
erzielt, als wenn man auf Verpflichtungen und Sanktionen setzt. Man wollte
den Bedenken der Impfskeptiker entgegenkommen.
Dass gerade sie es nun sind, die der Politik das vorhalten, ist auch nicht
ganz redlich. Tatsächlich musste die Politik in der Pandemie allerdings
lernen, dass man nichts definitiv ausschließen sollte. Aber was folgt
daraus? Dass man an dem einmal gemachten Fehler bis an das Ende aller Tage
festhalten muss? Die Frage, ob man eine allgemeine Impfpflicht braucht oder
ob nicht die Impfpflicht ab einem gewissen Alter ausreicht, um die
Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, mag die Politik unter
Heranziehung epidemiologischen Sachverstandes klug beantworten.
Und dann gibt es noch etliche [5][Um- und Durchsetzungsfragen]. Aber eine
Impfung abzulehnen und dann von allen anderen den Lockdown zu verlangen,
weil sonst die medizinische Versorgung nicht mehr sichergestellt werden
kann, auf die man mit gesteigerter Wahrscheinlichkeit selbst bald
angewiesen sein könnte, ist gewiss keine „vernünftige“ Haltung. Auf sie
muss man bei der Einführung einer Impfpflicht keine Rücksicht nehmen.
6 Feb 2022
## LINKS
[1] /Bundestagsdebatte-zur-Impfpflicht/!5832186
[2] https://www.dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2020/dkfz-pm-20-79-Zweite-…
[3] /Parlaments-Debatte-uebers-Impfen/!5828810
[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1111057/umfrage/intensivbett…
[5] /Gesundheitsaemter-an-der-Belastungsgrenze/!5829689
## AUTOREN
Stefan Huster
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