| # taz.de -- Neuer kulinarischer Trend: Vom Waldboden essen | |
| > Nicht nur Wild und Pilze, auch Flechten, Zapfen und Nadeln stürmen die | |
| > Teller. Aber ist es wirklich so unproblematisch, sich im Forst zu | |
| > bedienen? | |
| Bild: Nein, kein Schwamm, sondern eine Krause Glucke liegt hier auf dem Waldbod… | |
| Nicht mal mehr vier Wochen, dann zeigt sich unter den Bäumen das erste | |
| essbare Grün. Mehr oder weniger intensiv wabert ein milder Zwiebelduft über | |
| den Waldboden. Es ist der [1][Bärlauch]. Und einerlei, ob jemand schon mal | |
| Pilze gesammelt hat, Flechten von Steinen gekratzt hat, ob er gelernt hat, | |
| Holunder- von Vogelbeeren zu unterscheiden oder Kornelkirschen von rotem | |
| Hartriegel – um Bärlauch zu sammeln, muss man nichts wissen. | |
| Die giftigen Maiglöckchen und Herbstzeitlose sind zwar ähnlich, aber es | |
| braucht keinen groß geschulten Blick, um den Unterschied zu erkennen. Man | |
| geht einfach nur der Nase nach, wenn man auf ein Feld mit dunkelgrünen | |
| Blättern trifft. Und mal ehrlich: Man nimmt immer zu viel mit, oder nicht? | |
| Der Bärlauch ist eine Pionierpflanze, auch im botanischen Sinne, vor allem | |
| aber – und darum geht es hier: im kulinarischen Kontext. So wie sich kaum | |
| jemand einen Frühling ohne Spargel vorstellen kann, ist es auch mit | |
| Bärlauch. Inzwischen gibt es ihn nicht nur als frisches Bund im Supermarkt, | |
| sondern auch geschnitten und gefriergetrocknet, als Pesto oder Risotto-Mix. | |
| Gleichzeitig hat er den Blick geweitet für das, was sonst noch so unter | |
| Bäumen wächst und verzehrbar ist, jenseits von Pilzen und Wildbret. | |
| Und das ist überraschend viel. Das junge Laub des Ahorns kann man wie | |
| Weinblätter benutzen, um darin Graupen einzuwickeln oder Fisch zu dämpfen. | |
| Auch Sirup lässt sich daraus machen, ebenso wie aus Tannen- und | |
| Fichtensprossen. Die zarten Nadeln sind essbar und schmecken leicht | |
| zitronig. | |
| Jahr für Jahr kommen neue Kochbücher raus, entdecken Gourmetköche, die sich | |
| regional und saisonal orientieren, den Wald als Nahrungsraum. Jedes Jahr | |
| werden es ein bisschen mehr: Wildkochbücher, die sich nicht mehr bei | |
| Rehpfeffer, Hirschragout und der Buttermilchmarinade der Großmütter | |
| aufhalten, sondern Wild modern interpretieren. Restaurants, die Krause | |
| Glucke, Schwarze Trompete oder Parasol (alles Pilze) auf die Karte nehmen. | |
| Und auch die Flora bietet ständig neue Möglichkeiten. | |
| ## Essen als Völkerverständigung | |
| Längst gibt es im Bioladen Birkenwasser und Birkenzucker, aber schon | |
| erobern Wildspargel, Löwenzahn, Bucheckern im Gefolge des Bärlauchs Küchen | |
| und Gourmetläden. | |
| Wenn der Mensch isst, dann reist er am liebsten in ferne Länder oder in die | |
| Vergangenheit. Diese goldene Regel der Kochliteratur gilt nach wie vor. Der | |
| Geschmack der Kindheit oder eines Urlaubs birgt Wohlfühlgarantie. Es gibt | |
| zwei kulinarische Trendthemen, die nicht in dieses Muster passen und | |
| eigentlich nicht unterschiedlicher sein können. Das sind Wald und Flucht. | |
| Es geht hier nicht um Soul, sondern um Conflict Food. | |
| Dazu muss ich die Geschichte der „Conflict Kitchen“ erzählen, ein Imbiss, | |
| der 2010 in Pittsburgh, Pennsylvania eröffnete. Im wöchentlichen Wechsel | |
| bot er Speisen aus Ländern an, mit denen die USA im Clinch lagen: Irak, | |
| Iran, Kuba, Venezuela, Nordkorea, sogar die Küche der nordamerikanischen | |
| indigenen Völker. | |
| Ein durch und durch politisches Projekt, das weltweit gewisses Aufsehen | |
| erregte und wegen seines Erfolgs Nachahmer fand, in Europa meist durch | |
| [2][Pop-up-Restaurants]. | |
| Conflict Food wird vielleicht nie eine so große Marke werden wie Slow Food. | |
| Aber das Motiv lässt sich immer wieder beobachten: Essen aus Solidarität, | |
| als Völkerverständigung. So gehörten zur Willkommenskultur nach 2015 nicht | |
| nur Restaurantprojekte mit Geflüchteten, sondern es füllten sich auch die | |
| Kochbuchregale. Bücher mit Rezepten aus den Herkunftsländern stießen auf | |
| Nachfrage – aus Syrien, Iran oder Libanon. | |
| Dieser panorientalische Trend war nicht neu, 2015 bekam er in der deutschen | |
| Gastronomie aber richtig Antrieb. Es entstanden viele Restaurants mit | |
| sogenannter levantinischer Küche. Hier darf man speisen, als ob es von der | |
| Türkei bis nach Ägypten, von Israel bis in den Iran keine kulturellen, | |
| religiösen oder politischen Konflikte gäbe. | |
| Der Wald ist auch ein Schauplatz für Conflict Food. Eigentlich ist es | |
| widersinnig, dass er gerade jetzt als Nahrungsraum in Mode kommt. Der Wald | |
| ist Krise. Er brennt, er vertrocknet, das ganze Ökosystem ist aus den | |
| Fugen, erklären die Experten. Es steht so schlimm, dass 1,5 Milliarden Euro | |
| für Wiederaufforstung bereitgestellt wurden. Junge Klimaschützer | |
| organisieren inzwischen bundesweit Protest, wenn Bäume Tagebauen, | |
| Autobahnen oder Fabriken weichen sollen. Aber vom Wald zu essen, das soll | |
| gleichzeitig okay sein? Wie passt das zusammen? | |
| Man könnte einiges über die Deutschen, die Romantik und den Wald | |
| schreiben. Interessant ist: Im 19. Jahrhundert begann die Geschichte des | |
| Kulturbereichs Wald, der bis dahin „Wildnis“ und „Wirtschaftsraum“ war. | |
| Dass man sich daraus seit Jahrhunderten für die Küche bediente, wurde mit | |
| der Industrialisierung der Landwirtschaft immer uninteressanter, so wie | |
| auch die Sagen und Geschichten über Wilderer aus der Mode kamen. | |
| Die bürgerliche Küche, die in dem Jahrhundert entstand, ist eine extrem | |
| landwirtschaftliche: Sollte sich der Adel doch weiter den Gewehrschrot aus | |
| den Zähnen pulen, wenn Wildschwein auf den Tisch kam. | |
| ## Kommt bald der Forétarier? | |
| Mit der prekären Situation ändert sich das Bild. Es entstehen ein neuer | |
| Sehnsuchtsort und neue Techniken der Aneignung. Peter Wohlleben, | |
| Deutschlands bekanntester Förster, hat uns das soziale System Wald erklärt. | |
| Menschen gehen zum Waldbaden, wie sie sich früher CDs mit Walgesängen in | |
| den Rekorder schoben. | |
| Der Wald ist nicht mehr gefährlich, sondern verletzlich – aber immer noch | |
| ursprünglich. Kein Kochbuch, kein Blog zum Thema Wald, das nicht darauf | |
| hinweist: Wenn Nutztiere irgendwo artgerecht leben, dann ist es Wild – ohne | |
| Zäune und bei der Futtersuche auf sich gestellt. Und bei Obst und Gemüse | |
| erklären sie: Der Wald ist das bessere Bio, [3][Ausnahme Steinpilze], Sie | |
| wissen schon – Tschernobyl. | |
| Wenn der Mensch isst, dann reist er auch gerne in eine bessere Welt. Im | |
| Wald ist es die alte der Jäger und Sammler der Steinzeit und zugleich das | |
| Morgen eines klimaneutralen, deindustrialisierten Planeten. Sicher gibt es | |
| bald einen Begriff für Waldesser, so wie Veganer oder Flexitarier: | |
| Forétarier würde nice klingen. | |
| 8 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
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