# taz.de -- Plädoyer gegen das Pilzesammeln: Lasst die Maronen im Wald | |
> Rötliche Röhrlinge, falsche Pfifferlinge: Wer „in die Pilze geht“, kann | |
> darin umkommen. Und sieht oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. | |
Bild: Im Herbst wollen viele in den Wald: Pilzesammler in Oberpinzgau in Öster… | |
„Guck mal, da ist einer, halt an!“, rief Alex. Ich trat auf die Bremse und | |
stellte die Automatik des alten schwarzen 3er BMW auf P. Wieder hatten wir | |
einen Steinpilz entdeckt. Er war riesig und stand prominent in den Weiten | |
des schwedischen Waldes. Nicht nur die Bäume sind größer in Schweden, auch | |
die Pilze scheinen (oder besser: erschienen uns) größer – eine Kombination, | |
die uns das Pilzesuchen per Automobil als immerhin angemessen erscheinen | |
ließ. Wir waren auf dem Rückweg vom „Systembolaget“ in Richtung Sommerhaus | |
und hatten vergessen, im Supermarkt Pilze für das Abendessen zu kaufen. | |
Sie dort zu erwerben, wäre auf jeden Fall sinnvoller gewesen. Denn wer in | |
die Pilze geht, kann den Wald nicht sehen. Nicht etwa, weil er sich in | |
einem Pilz befindet. Woher stammt dieser irreführende Begriff eigentlich, | |
„in die Pilze gehen“? Aus einem deutschen Märchen? Kleinwüchsige Männer … | |
Bärten klettern mit winzigen Leitern an Fliegenpilzen herauf, an deren | |
Außenwänden sich kleine Türchen öffnen, und schwupps, hinein in den Pilz? | |
Nein, man sieht den Wald nicht, weil man ununterbrochen zu Boden starrt. | |
Es ist an der Zeit, über Pilze zu sprechen. Nicht über Kürbisse, denn dies | |
geschieht bereits an anderer Stelle in dieser Zeitung, und auch nicht über | |
Bärlauch zur Unzeit, also jetzt im Herbst. Auch das Bundesamt für | |
Strahlenschutz tut es und hat zu Saisonbeginn via Pressemitteilung vor | |
strahlenbelasteten Pilzen in den südlichen Regionen Deutschlands gewarnt. | |
## Pilze vielerorts weiterhin strahlenbelastet | |
[1][Mehr als dreißig Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl] sei | |
das Cäsium-137 lediglich zu etwas mehr als der Hälfte verfallen. Pilze im | |
Bayerischen Wald, dem Osnabrücker Land und an der Elbe zwischen Schwerin | |
und Magdeburg seien weiterhin belastet. Weiter empfiehlt das | |
Umweltbundesamt, generell nicht mehr als 250 Gramm Wildpilze in der Woche | |
zu verzehren – und die Stiftung Warentest warnt insbesondere Schwangere vor | |
Schwermetallen im Pilz. | |
Eigentlich kann man nur froh sein, keine Pilze zu finden, wenn man in den | |
Wald geht, und stattdessen lediglich auf die üblichen alten Schädel aus der | |
Nazizeit oder durchgerostete Handgranaten zu stoßen. Wer Pech hat, findet | |
sich in einem „Tatort“-Szenario wieder, man streift unauffällig in | |
Funktionskleidung durch Fichten-Monokultur im Harz und findet eine Leiche. | |
Oder Gert Fröbe steht plötzlich im schwarzen Mantel auf der Lichtung und | |
erschreckt einen zu Tode. | |
Gegen Pilze hilft Canesten. Oder diese Sprühdüsen im Schwimmbad, Teebaumöl | |
auch. Pilze können ein Lebewesen um die Ecke bringen, auch ohne dass man | |
sie verzehrt. Stattdessen setzen Menschen sich ihnen völlig ohne Not aus. | |
Setzen gar ihr Dasein aufs Spiel, indem sie den heimtückischen | |
Doppelgängern der Speisepilze auf den verpilzt riechenden Leim gehen. | |
Wie soll man zum Beispiel ahnen, dass es sich ausgerechnet beim | |
Flockensteinigen Hexenröhrling um die harmlose Variante handelt, während | |
der ähnlich aussehende, aber eigentlich ganz sympathisch klingende | |
Satansröhrling bei Genuss Brechdurchfall verursacht? Und dann der | |
mörderische Kegelhütige Knollenblätterpilz, der nur so tut, als sei er der | |
freundlich-langweilige Wiesenchampignon von nebenan. Und der so garstige | |
wie sprichwörtliche falsche Pfifferling. Dieser Tage warnt nun auch das | |
„Giftzentrum Nord“, dass herkömmliche Apps Pilze zuweilen falsch | |
identifizieren, und rät stattdessen zur geführten Pilzwanderung. | |
Warum überhaupt Lieder der Bündischen Jugend pfeifend und in kurzen Hosen | |
wie Björn Höcke durch den Thüringer Wald marschieren – auch im | |
Kyffhäuserkreis wächst die Krause Glucke –, wenn man ordentlich in Kartons | |
abgepackte Zuchtchampignons und [2][Pfifferlinge im Holzkörbchen] erwerben | |
kann? Man brate sie in einer gusseisernen Pfanne an, mit Butter, Zwiebeln | |
und Speck. Frische Petersilie darauf, ein Omelette und Röstbrot dazu. | |
Merke: Wer im Wald keine Zeit mit dem Suchen von Röhrlingen verschwendet, | |
kann mehr Kilometer beim Nordic Walking machen. Und ist deshalb noch lange | |
nicht auf Champignon-Rahmsuppe aus der Tüte angewiesen. Intakte | |
Lieferketten befördern mit Steinpilz gefüllte Ravioli aus Norditalien über | |
die Alpen (mit der Bahn!) direkt in unsere Küchen. Und dort kann man | |
gegebenenfalls auch selbst Ravioli mit Ziegenfrischkäse befüllen und mit | |
gebratenen Steinpilzen vom Markt servieren. Risotto mit Porcini! Oder gar | |
Porcini mit Buchweizen, ein Rendezvous der nussigen Geschmacksrichtungen. | |
Nicht der Pilz an sich ist zu verurteilen, sondern das überkommene „in die | |
Pilze gehen“. Warum dorthin gehen, wo nur noch der Borkenkäfer ruft? | |
Womöglich noch mit dem Auto kommen und die Restnatur zertrampeln – fragen | |
Sie mal die BewohnerInnen in den Speckgürteln rund um die Großstädte, wie | |
sie das so finden, wenn die Horden im Herbst anreisen und besinnungslos | |
durch die Forste stolpern. | |
Am besten überlasst man das Pilzesuchen den Profis. Im Fall des Trüffels | |
sind das Schweine oder Hunde in Begleitung kundiger Menschen. Oder greift | |
auf solche Pilze zurück, die in alten Nato-Bunkern, DDR-Liegenschaften und | |
feuchten Schlosskellern gezüchtet werden. | |
Die Steinpilze, die wir seinerzeit in Småland mit dem Auto gepflückt | |
hatten, waren jedenfalls ungenießbar gewesen. Denn allerlei Tierchen und | |
Gewürm waren bereits, ganz herbstlich, in die Pilze gegangen. | |
16 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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