| # taz.de -- Unruhen in Kasachstan: Mär vom Aufstand der Islamisten | |
| > Kasachstans Regierung macht im Ausland trainierte Islamisten für den | |
| > Gewaltausbruch im Land verantwortlich. Experten bezweifeln das. | |
| Bild: Wut wegen sozialer Ungerechtigkeit oder islamistische Umtriebe? Demonstra… | |
| Berlin taz | „Die Ereignisse waren ein lokaler Protest“, sagt Edward | |
| Schatz, „zur gleichen Zeit aber auch ein Volksaufstand, eine Öffnung für | |
| Opportunisten, eine Abrechnung innerhalb der politischen Elite, ein | |
| Muskelspiel Russlands und viele andere Dinge mehr.“ So beschreibt der | |
| Politologe von der Universität Toronto, einer der führenden westlichen | |
| Mittelasienforscher, die [1][schweren Unruhen in Kasachstan] in der ersten | |
| Januarhälfte. | |
| Tausende Protestierende besetzten in dem riesigen, aber nur von 19 | |
| Millionen Menschen bewohnten Land vorübergehend den Flughafen von Almaty, | |
| der größten Stadt des Landes, brannten das Bürgermeisteramt, den Sitz der | |
| Staatsanwaltschaft und das Polizeihauptquartier nieder, plünderten Banken | |
| und Waffengeschäfte und kaperten Militärfahrzeuge. | |
| Präsident Kassim-Schomart Tokajew sah sich genötigt, Truppen des 2002 | |
| gegründeten, [2][russisch dominierten regionalen Militärbündnisses OVKS] | |
| zur Hilfe zu rufen. Einsätze unter ähnlichen Umständen 2010 im benachbarten | |
| Kirgistan und nach dem [3][Krieg um Bergkarabach 2021] an der Grenze | |
| zwischen Aserbaidschan und Armenien hatte das Bündnis noch ausgeschlagen, | |
| sodass viele im Westen schon ein zweites Ukraine-Szenarium sahen. Doch nun | |
| scheinen die [4][Truppen bereits wieder abzuziehen]. | |
| Wichtigstes politisches Ergebnis der Unruhen war die Entmachtung des 2019 | |
| zurückgetretenen, aber immer noch aus dem Hintergrund mitregierenden | |
| [5][Ex-Staatspräsidenten Nursultan Nasarbajew]. In Kasachstan sprach man | |
| deshalb von einem Macht-„Tandem“ mit seinem Nachfolger Tokajew. | |
| Der 68-jährige Präsident Tokajew, von Nasarbajew persönlich ausgewählt und | |
| vom Volk in einer Wahl bestätigt, drängt nun auch die Mitglieder von | |
| Nasarbajews Clan aus ihren Schlüsselpositionen in den Sicherheitskräften | |
| und der dank gewaltiger Öl- und Gasvorkommen reichen Wirtschaft. Während | |
| 120 Menschen die Hälfte dieses Reichtums kontrollieren, muss die | |
| Durchschnittsbürger:in mit umgerechnet 500 US-Dollar im Monat | |
| auskommen. | |
| ## Angriff der „ausländischen Terrorgangs“? | |
| Die Financial Times nennt Kasachstan, das lange als das liberalste Land in | |
| Mittelasien galt, „eines der stärksten Beispiele einer modernen | |
| Kleptokratie“. Ainur Kurmanow, Chef der kleinen Sozialistischen Bewegung | |
| Kasachstans, spricht von der Herrschaft einer „kapitalistischen Oligarchie | |
| mit asiatischem Gesicht“. | |
| Die kasachische Regierung machte dschihadistische Umtriebe für die Unruhen | |
| verantwortlich. In einer Fernsehansprache gleich nach dem Ausbruch der | |
| Unruhen behauptete Tokajew, das Land werde von „internationalen Terrorgangs | |
| angegriffen, die im Ausland trainiert“ worden seien. Einige von ihnen, so | |
| der ehemalige Uno-Diplomat, hätten „nichtkasachische Sprachen“ gesprochen, | |
| „säkulare Bürger“ getötet und „Frauen vergewaltigt“. | |
| Viele internationale Medien griffen das auf. [6][Kasachische Medien] | |
| machten daraus sogar „arabisch sprechende Terroristen“. Zumindest das | |
| stellte sich bald als Farce heraus. Einer der im Fernsehen vorgeführten | |
| angeblichen Söldner erwies sich als der stadtbekannte kirgisische | |
| Jazzmusiker Vikram Rusachunow. | |
| ## Religiöse Slogans fehlen | |
| Nicht eine einzige Kasachstan-Expert:in sieht Islamisten als treibenden | |
| Faktor in den Vorgängen. Islamismusexperte Serik Beisembajew, der in der | |
| nach dem Expräsidenten benannten Hauptstadt Nursultan (früher und wohl bald | |
| wieder Astana) arbeitet, sagte, in den Videos von den Protesten, die er | |
| gesehen habe, „gab es keine religiösen Slogans oder andere Symbole mit | |
| Bezug auf den IS oder andere extremistische Gruppen“. | |
| Auch Nargis Kassenova, die aus Kasachstan stammende Leiterin des Programms | |
| für Mittelasien-Studien in Harvard, sagte der taz: „Ich habe bisher keine | |
| Beweise für eine externe terroristische Bedrohung gesehen.“ Wenn, dann | |
| hätten sich einheimische Islamisten unter die Proteste gemischt, aber ohne | |
| sich als solche zu erkennen zu geben. | |
| Kasachstans bewaffnete Islamistenszene war immer marginal. Einige sollen | |
| vor 2001 in Afghanistan bei den Taliban mitgekämpft haben. Laut | |
| Tokajew-Berater Erlan Karin, bis vor kurzem Chef eines Polit-Thinktanks in | |
| Nursultan, sei ihre Zahl noch niedriger gewesen als die der Kämpfer aus | |
| anderen mittelasiatischen Ländern wie Tadschikistan oder Usbekistan. | |
| Später seien die meisten in den IS-Staat nach Irak und Syrien abgewandert. | |
| 2015 wurde ihre Zahl mit 250 angegeben, aber dabei wurden wohl sogar Kinder | |
| mitgezählt. Die posierten für Videos in Tarnuniformen, mit Waffen und im | |
| Islamunterricht. | |
| Nach der Niederlage des IS dort fielen viele Kasachen in die Hände | |
| kurdischer Kämpfer. Die kasachische Regierung holte sie 2019 in der | |
| großangelegten Operation Schusan heim, mit anschließender | |
| „Rehabilitierung“. Laut Karin, der daran mitwirkte, gibt es seither „keine | |
| solche aktive, große Gruppe mehr, weder in Syrien noch Afghanistan.“ | |
| ## Oligarch mit islamistischen Wünschen | |
| In Kasachstan selbst verübte 2011 eine Gruppe namens Dschund al-Khilafa | |
| (Heer des Kalifats) kleine Sprengstoffanschläge und lieferte sich ein paar | |
| Schießereien mit der Polizei. Seither tauchte sie aber in keiner der | |
| Übersichten seriöser Terrorismusbeobachter:innen mehr auf und | |
| steht auch nicht auf der UN-Sanktionsliste. | |
| Einen Überfall auf einen Waffenladen im Juni 2016 schrieben Kasachstans | |
| Sicherheitsbehörden Anhängern „radikaler, nichttraditioneller religiöser | |
| Bewegungen“ zu. Der Begriff wird zumeist für Neo-Salafisten oder die | |
| weltweit und auch in Kasachstan aktive islamistische Splittergruppe Hizb | |
| al-Tahrir (Befreiungspartei) verwendet, die in der Regel gewaltlos agieren. | |
| Laut Kassenova kommen islamistische Einflüsse auch aus den Golfstaaten, | |
| wohin Kasachstans Eliten gute Geschäftsbeziehungen unterhalten. Erica | |
| Marat, Mittelasienexpertin an der National Defense University in | |
| Washington, wies jüngst in einem ARD-Interview darauf hin, dass sich in | |
| Mittelasien aber „radikale Religionsauffassungen ausbreiten, mehr Leute | |
| sich islamistischen Gruppen anschließen und sich mehr religiöse Einflüsse | |
| in der Politik wünschen“. | |
| In Kasachstan gehört zu dieser Szene der Oligarch Kairat Satubaldyuly, laut | |
| Dinisa Duvanova von der Lehigh-Universität in den USA, „ein bekannter | |
| Wahhabisten-Sympathisant“. 2019 wollte der Nasarbajew-Neffe eine islamische | |
| „Bewegung“ als Vorstufe zur Parteigründung registrieren, die er schon fast | |
| über ein Jahrzehnt als kulturelle Organisation gefördert hatte. Ihr Name, | |
| Ak Orda, ist auch der des Präsidentenpalastes – ein wenig subtiles Zeichen | |
| dafür, dass Satubaldyuly mit offizieller Duldung handelte, obwohl religiöse | |
| Parteien in Kasachstan verboten sind. | |
| ## Soziale Proteste zu Beginn | |
| Die Nasarbajew-Familie „wollte auch diesen Bereich kontrollieren, merkte | |
| dann aber wohl, dass sie mit dem Feuer spielt“, so Kassenova. Die Bewegung | |
| verschwand ohne viel Aufhebens schnell wieder aus der Öffentlichkeit. Über | |
| Satubaldyulys Bruder Samat Abisch, bis zu seiner Entlassung durch Tokajew | |
| am 8. Januar Vizegeheimdienstchef, verfügt dieser Teil des Nasarbajew-Clans | |
| auch über gute Verbindungen in die Sicherheitsbehörden. Deshalb gab es in | |
| der Vergangenheit Gerüchte, dass es dort ebenfalls eine islamistische | |
| Gruppierung gegeben haben soll. | |
| In der Expert:innenszene setzt sich derzeit die Auffassung durch, dass | |
| Tokajew die OVKS-Truppen rief, um einen Putschversuch dieser Kreise | |
| niederzuschlagen, und da er sich der Unterstützung seiner eigenen | |
| bewaffneten Kräfte nicht mehr sicher sein konnte. Der Nasarbajew-Clan habe | |
| zuvor die Proteste mithilfe assoziierter krimineller Netzwerke und | |
| abtrünniger Sicherheitskräfte gekapert. | |
| Was die Gewaltausbrüche angeht, sieht Kassenova „Provokateure“ am Werk, | |
| aber auch „genuine Wut“. Darin, so der kasachische | |
| Zivilgesellschaftsaktivist Jewgeni Schowtis, habe sich der Hass „auf die | |
| Polizei und die anderen Sicherheitsagenturen“ gerichtet, „die aus Sicht der | |
| Demonstrierenden nur die Interessen der Eliten an der Macht verteidigen“. | |
| Nasarbajew habe alle Kanäle im politischen System abgeschafft, durch die | |
| solche Forderungen hätten artikuliert werden können. | |
| Die Gewalt und der Machtkampf unter Kasachstans Eliten haben laut Kurmanow | |
| in den Hintergrund gedrängt, dass dezidiert „soziale Proteste“ am Anfang | |
| der Unruhen standen. Tokajew will nun die Sozialausgaben erhöhen. Er | |
| deutete an, dass auch ungesetzlich erworbene Gelder des Nasarbajew-Clans in | |
| einen Sonderfonds fließen sollen. Kassenova glaubt, Tokajew erkenne, wie | |
| dringend die sozialen Probleme seien: „explosiv bis zerstörerisch – wir | |
| haben es gerade miterlebt“. | |
| 30 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Nach-gewaltvollen-Unruhen/!5823900 | |
| [2] /Unruhen-in-Kasachstan/!5826762 | |
| [3] /Russische-Grossmachtansprueche/!5812538 | |
| [4] /Soldatenabzug-aus-Kasachstan/!5827261 | |
| [5] /Zentralasien-Experte-ueber-Kasachstan/!5825125 | |
| [6] /Medien-in-Kasachstan/!5827820 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Ruttig | |
| ## TAGS | |
| Kasachstan | |
| Qassym-Schomart Tokajew | |
| Islamismus | |
| GNS | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| Kasachstan | |
| Aktivismus | |
| Schwerpunkt Pressefreiheit | |
| Kasachstan | |
| Schwerpunkt Afghanistan | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Zentralasiens Blick auf Russland: Angst vor dem großen Nachbarn | |
| Viele in den ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens schauen ängstlich | |
| auf Russland. Sie fragen sich, ob sie Putins nächstes Kriegsziel werden. | |
| Verfassungsreferendum in Kasachstan: Klare Mehrheit für Veränderung | |
| 77 Prozent der Kasach*innen stimmen für demokratische Reformen. Die | |
| Macht des Präsidenten wird eingeschränkt, doch seine Stellung bleibt stark. | |
| Kasachin Karima Haidarbekowa: 15 Jahre Haft für die Wahrheit | |
| Die kasachische Aktivistin Haidarbekowa spricht sich bei Protesten gegen | |
| die Gaspreiserhöhungen im Land aus. Nun wird sie vom Staat angeklagt. | |
| Medien in Kasachstan: Nur noch Nischen | |
| Kasachstans Regierung hat wenig Skrupel, freie Medien einzuschränken. Die | |
| Protestbewegung hat das offengelegt. Doch so war es nicht immer. | |
| Land in Zentralasien: Kasachstan für Anfänger | |
| Die ehemalige Sowjetrepublik wird derzeit von Unruhen erschüttert. Sie ist | |
| reich an Bodenschätzen und hat einen Weltraumbahnhof. Ein Crashkurs. | |
| Afghanistan und seine Nachbarn: Jets, Kleinkrieg und Scharmützel | |
| Die afghanischen Taliban haben inzwischen zu mehreren Nachbarstaaten ein | |
| angespanntes Verhältnis – selbst zu ihrem Hauptunterstützer Pakistan. |