| # taz.de -- Im Gespräch mit einer Impfgegnerin: Sabine hofft auf Omikron | |
| > Die Impffrage spaltet. Umso mehr gilt es, im Gespräch zu bleiben, findet | |
| > unsere Autorin. Sie traf Sabine – die ist ungeimpft und will es bleiben. | |
| Wäre ich mit Sabine in einem Café oder einem Geschäft zufällig ins Gespräch | |
| gekommen, es hätte sich wohl schnell ein vertrautes Gefühl eingestellt. Wir | |
| leben beide im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, sind beide | |
| ungefähr Mitte 40 und Akademikerinnen. Wir haben beide zwei Kinder. Sabine | |
| hat früher im Kulturbereich gearbeitet und will jetzt Lehrerin werden, ich | |
| kenne einige, die wie sie in den Lehrerjob wechseln. Sabine hatte lange die | |
| taz abonniert, ich arbeite bei der taz. | |
| Wir haben also viel gemeinsam. Und doch stehen wir auf verschiedenen | |
| Seiten. Denn Sabine ist ungeimpft und will es auch bleiben. | |
| So sitzen wir an einem Nachmittag Mitte November, getestet und mit Abstand, | |
| ganz oben im taz-Haus. Nach einem ruhigen Sommer steigt die Inzidenz in | |
| diesen Wochen deutlich, vor allem in Sachsen, Thüringen und Bayern. Das | |
| Unverständnis gegenüber Leuten wie Sabine ist groß, auch in der | |
| taz-Redaktion, auch bei mir. In politischen Talkshows wird hart diskutiert, | |
| in den sozialen Medien über die „Schwurbler“ und „Covidioten“ geschimp… | |
| Die Impfgegner:innen wiederum verhöhnen die Mehrheit, die blind der | |
| Pharmalobby folge. Die Spaltung geht durch Freundeskreise und Familien. Ist | |
| bei privaten Begegnungen jemand nicht geimpft, steht schnell ein | |
| unangenehmes Schweigen im Raum. Weil man schon ahnt, dass ein Austausch | |
| schwierig würde und die Entfremdung offensichtlich. | |
| Sabine und ich wollen versuchen, miteinander zu reden. Einmal, vielleicht | |
| auch mehrmals. Sie hat den Eindruck, dass Impfkritiker:innen in den | |
| Medien zu wenig Gehör finden. Ich wiederum habe Fragen: Sieht sie | |
| angesichts der vielen Ungeimpften auf den Intensivstationen nicht, dass die | |
| Entscheidung gegen das Impfen schwere Folgen hat für alle? Was meint sie, | |
| wie wir aus der Pandemie jemals herauskommen sollen, wenn nicht durchs | |
| Impfen? Ich möchte auch verstehen, wie sich der gesellschaftliche Druck auf | |
| Sabines Leben auswirkt. Was es im Alltag inzwischen heißt, ungeimpft zu | |
| sein. | |
| Wir wissen beide nicht, ob das Gespräch entgleisen wird. Es steht keine | |
| Freundschaft auf dem Spiel. Wir sehen uns an diesem Tag zum ersten Mal, | |
| eine Bekannte hat den Kontakt vermittelt. | |
| „Tragen wir weiter Maske oder nicht?“, frage ich. In Strickjacke und Jeans | |
| sitzt Sabine mir gegenüber. Die langen Haare hat sie hinten | |
| zusammengebunden. Sie lacht. „Ich habe keine Angst vor Corona“, sagt sie, | |
| ihretwegen könnten wir die Masken ruhig abnehmen. Wir duzen uns | |
| automatisch. Sabine heißt in Wirklichkeit anders. Weil Impfgegner:innen | |
| derzeit angefeindet werden, trägt sie in diesem Text einen anderen Namen. | |
| Sabine wirkt umgänglich und freundlich. Sie redet ruhig, selbst wenn sie | |
| etwas empört. Dann zieht sie missbilligend die Augenbrauen zusammen. Zum | |
| Beispiel, wenn sie über 2G spricht. Wir hätten uns für das Gespräch nicht | |
| in einem Café treffen können, weil sie nicht mehr hinein darf. Das | |
| empfindet sie als Schikane. „Wir müssen draußen bleiben, als wären wir | |
| Hunde.“ | |
| Normalerweise geht Sabine regelmäßig ins Schwimmbad. Als Jugendliche hatte | |
| sie einen Autounfall beim Trampen, dabei hat sie sich den Rücken gebrochen. | |
| „Ich brauche das Schwimmen, sonst habe ich Schmerzen.“ Doch auch das Bad | |
| ist ab Mitte November nur noch mit Impfnachweis zugänglich. „Das ist für | |
| mich wirklich ein Verlust.“ | |
| Für 2G gibt es Gründe. Delta ist im November die verbreitete | |
| Coronavariante. Wenn Ungeimpfte weniger Kontakte haben, gibt es weniger | |
| schwere Verläufe, die Kliniken werden dann nicht so schnell überlastet. | |
| Geimpfte [1][infizieren sich bei Delta] zudem seltener und sind, wenn sie | |
| sich doch infizieren, kürzer ansteckend als Ungeimpfte, heißt es vom Robert | |
| Koch-Institut. | |
| Sabine sagt, sie lasse sich immer testen, um Ansteckungen zu vermeiden. | |
| „Damit habe ich kein Problem.“ So aber fühlt sie sich ausgegrenzt. „Wir | |
| diskriminieren jetzt nicht mehr nach Hautfarbe oder nach Geschlecht, | |
| sondern nach Lebensentscheidung.“ Sich doch impfen zu lassen, um ins | |
| Restaurant oder ins Bad zu können, kommt für sie nicht in Frage. „Ich lasse | |
| mich nicht erpressen.“ | |
| Sabine hat ein gespaltenes Verhältnis zur herkömmlichen Medizin. Sie hatte | |
| früher mit einer chronischen Entzündung zu kämpfen. Antibiotika und | |
| Kortison halfen irgendwann nicht mehr, die Ärzte sagten ihr, sie sei | |
| austherapiert. Sie wandte sich an eine Homöopathin, danach ging es ihr | |
| besser, erzählt sie. „Ich kann das auch nicht erklären, aber ich bin total | |
| glücklich, dass ich seitdem wieder ein funktionierendes Immunsystem habe.“ | |
| Impfungen seien eine tolle Erfindung, sagt sie, doch immer auch ein | |
| Eingriff. Ihre Kinder hat sie gegen Masern impfen lassen, aber nicht gegen | |
| Mumps und Röteln. „Bisher war es immer möglich, dass ich selber einen Weg | |
| finden durfte.“ | |
| Dann kam Corona. Die Bilder aus Bergamo hätten sie getroffen, sagt Sabine. | |
| Die Lockdowns hielt sie für notwendig. „Ich dachte auch, dass ich mich wohl | |
| impfen lassen muss.“ Das änderte sich im vergangenen Jahr. Sie hatte im | |
| Sommer das Studium fertig und hörte Podcasts von Biologen und Medizinern | |
| aus den USA. Bei Youtube stieß sie auf ein Video über Ivermectin, ein | |
| Medikament, das normalerweise zur Behandlung von Krätze oder Würmern | |
| eingesetzt wird. Ivermectin helfe auch sehr gut bei Covid, hieß es in dem | |
| Video. Kurz darauf wurde es gelöscht. | |
| ## Der Hype um Ivermectin | |
| Tatsächlich gab es 2021 in den USA einen Hype um Ivermectin. Eine Gruppe | |
| von Ärzten pries das Medikament als Wunderwaffe gegen Corona, es wirke auch | |
| präventiv. Weder die WHO noch die amerikanische Gesundheitsbehörde | |
| bestätigen bis heute eine Wirksamkeit. Trotzdem besorgten sich viele | |
| US-Amerikaner das Arzneimittel und nahmen es, in Kliniken mussten Menschen | |
| [2][wegen Vergiftungen] behandelt werden. | |
| Es gibt also Gründe, warum Beiträge über den angeblichen Nutzen des | |
| Medikaments gelöscht wurden. Sabine aber machte die „Zensur“, wie sie es | |
| nennt, misstrauisch. Sie suchte und fand weitere positive Berichte über | |
| Ivermectin, die kurz darauf entfernt wurden, und war bald überzeugt, dass | |
| Ivermectin hilft, aber diese Information unterdrückt werden soll. „Das ist | |
| auch total leicht zu erklären: Mit einem Medikament, das schon lange auf | |
| dem Markt ist, ist kein Geld zu machen.“ | |
| Sabine glaubt, dass es ein wirksames Medikament gibt, dass Politik und | |
| Wissenschaft dieses Mittel den Menschen aber vorenthalten, weil der | |
| Patentschutz längst abgelaufen ist und es – anders als die Impfung – keinen | |
| Profit bringt. Dass Biontech und Pfizer an der Impfung verdienen, stimmt. | |
| Aber glaubt Sabine wirklich, dass die Impfung allein aus Geschäftsgründen | |
| durchgesetzt wird? Die Pharma-Lobby sei stark, sagt sie, ihr erscheine das | |
| plausibel. | |
| Sabine beschäftigte sich auch mit den mRNA-Impfstoffen, die sie sehr | |
| kritisch betrachtet: „Man kann das guten Gewissens eine Gentherapie | |
| nennen“, sagt sie. Gentherapie hieße, dass die DNA im Zellkern verändert | |
| würde. Das sei sehr unwahrscheinlich, heißt es dazu [3][vom | |
| Paul-Ehrlich-Institut], dafür bestehe „kein erkennbares Risiko“. Sabine | |
| überzeugt das nicht. Sie sagt: „Das möchte ich mir erst mal ein paar Jahre | |
| angucken.“ | |
| In der Gesellschaft ist Sabine mit dieser Haltung in der Minderheit. Sie | |
| muss sich gegen Kritik wappnen, vielleicht liest sie deshalb so viel zum | |
| Thema. Nicht nur in den gängigen Medien, auch auf Seiten wie dem | |
| Onlinemagazin Multipolar. Dort findet man Artikel darüber, dass die Medien | |
| hauptsächlich Regierungspropaganda lieferten oder dass die Zahl der | |
| Coronapatienten in den Krankenhäusern massiv übertrieben sei. | |
| Auch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis ist Sabine eine Ausnahme. Ihr | |
| Mann will sich wie sie nicht impfen lassen, ihre engsten Freunde sind | |
| jedoch geimpft. „Sie finden es legitim, dass ich es nicht möchte“, erzählt | |
| sie. Wenn sie sich treffen, testet sich Sabine vorher, selbst wenn die | |
| Freunde das nicht von ihr verlangen. | |
| Es gibt auch andere Erlebnisse, etwa mit ihrer Nachbarin. Die Kinder sind | |
| im gleichen Alter, Sabine wurde sonst immer zu ihrem Geburtstag eingeladen. | |
| Dieses Jahr nicht. „Darf ich keine andere Meinung mehr haben? Das hat mich | |
| echt getroffen“, sagt sie. | |
| Sabine hat traditionell die Grünen gewählt. Im September, als in Berlin | |
| Bundestag und Abgeordnetenhaus gewählt wurden, nicht mehr. „Das ging gar | |
| nicht. Die Grünen haben so gehetzt. Sie haben alle, die sich nicht impfen | |
| lassen wollen, als faul und dumm dargestellt.“ Es erschrecke sie, dass sie | |
| ihre Position bei Corona am ehesten von der AfD vertreten sehe, die würde | |
| sie nie wählen. Sabine verteilte ihre Stimmen schließlich auf Die Partei | |
| und die Linkspartei. „Was Sahra Wagenknecht sagt, kann ich zu hundert | |
| Prozent unterschreiben.“ | |
| Es ist kalt in dem Raum, in dem wir sitzen, ich muss niesen. „Ich könnte | |
| jetzt Angst haben, dass du irgendwas hast. Man darf ja nicht mal mehr | |
| husten, ohne dass der neben einem böse wird“, sagt Sabine. Sie glaubt, dass | |
| die Angst vor Corona die Gesellschaft verändert. „Das ist wie bei Kindern. | |
| Du kannst Kindern Angst machen, dann gehorchen sie eher. Aber langfristig | |
| hast du ein verängstigtes Kind.“ | |
| Sie verweist auf ein [4][Papier des Innenministeriums] vom März 2020. | |
| Tatsächlich formulierte die Bundesregierung darin, dass man den Menschen | |
| Angst machen müsse, damit Corona nicht verharmlost werde. Um „die | |
| gewünschte Schockwirkung zu erzielen“, solle die „Urangst“ des Erstickens | |
| bedient werden, heißt es unter anderem. [5][Die taz hat damals] über das | |
| Papier berichtet. Auch mich befremden solche Formulierungen, Angst ist kein | |
| gutes Mittel in der Politik. Ich wende aber ein, dass die Regierung zu | |
| Beginn der Pandemie nicht wusste, wie schlimm es noch werden würde. | |
| Wir diskutieren auch über die Situation in den Kliniken. Die Mehrheit der | |
| Menschen auf den Intensivstationen ist ungeimpft, sie sind eine enorme | |
| Belastung für Pflegende und Ärzte, sage ich. Wichtige Behandlungen und | |
| Operationen werden ihretwegen verschoben. Wer sich nicht impfen lässt, | |
| gefährdet also nicht nur das eigene Leben. Wie kann sie das verantworten?, | |
| möchte ich wissen. Sabine bezweifelt die Statistiken, sie betont, dass auch | |
| viele Geimpfte auf den Intensivstationen liegen. Eine Überlastung habe es | |
| nicht gegeben, behauptet sie. Und wenn die Kliniken doch vor der | |
| Überlastung stünden, müsse man das Gesundheitssystem besser ausstatten, | |
| statt Betten abzubauen. | |
| Es geht hin und her, bei diesem Thema wirkt Sabine auf mich etwas | |
| unsicherer als zuvor. Am Ende verweist sie auf sich selbst. „Ich bin nicht | |
| 70 Jahre alt, ich bin kein Raucher, ich habe keine Vorerkrankungen. Mein | |
| Risiko, auf der Intensivstation zu landen, ist nicht besonders hoch. Dann | |
| möchte ich bitte selbst entscheiden, ob ich mir eine neumodische Medizin | |
| spritzen lasse oder nicht.“ Sollte Corona sie erwischen, habe sie sich zur | |
| Sicherheit Ivermectin besorgt, das würde einen schlimmeren Verlauf | |
| verhindern. | |
| Während des Gesprächs wird mir klar, dass sich die Fragen, die mich | |
| umtreiben, aus Sabines Sicht erübrigen. Für sie ist Corona eine große | |
| Panikmache. Sie geht davon aus, dass es längst ein Medikament gibt, mit dem | |
| schwere Verläufe und die Überlastung der Kliniken verhindert werden | |
| könnten. Deshalb wäre eine Impfung für sie auch kein Akt der Solidarität, | |
| wie viele Linke argumentieren. In ihren Augen könnte man Corona einfach | |
| laufen lassen, das wäre ihr Weg aus der Pandemie. Das Problem sind für sie | |
| die Politiker:innen, die den Interessen der Pharmalobby folgen, wie auch | |
| immer das genau aussehen mag, und die durch die Einschränkungen Druck | |
| machen auf Ungeimpfte wie sie. | |
| Nach über zwei Stunden gehen wir an diesem Nachmittag auseinander. Wir | |
| haben uns nicht gestritten. Aber jede ist bei ihrem Standpunkt geblieben. | |
| ## Eine Impfpflicht würde Frust erzeugen | |
| Erst danach merke ich: Die Begegnung macht etwas mit mir. Als Ende November | |
| in Berlin 2G auch im Einzelhandel eingeführt wird, empfinde ich keine | |
| Genugtuung. Früher war der erste Gedanke: Pech für die Ungeimpften, sollen | |
| sie sich halt endlich impfen lassen. Nun muss ich an Sabine denken. Sie | |
| kann weder ins Schwimmbad noch ins Café und auch nicht mehr in einen | |
| Klamottenladen. Weil ich weiß, dass sie die Regelungen als kränkend | |
| empfindet, bleibt die Schadenfreude aus. | |
| Am 30. November spricht sich Olaf Scholz, zu der Zeit noch designierter | |
| Bundeskanzler, erstmals für eine Impfpflicht für alle aus. Einerseits denke | |
| ich, dass es das vielleicht braucht, um Corona endlich in den Griff zu | |
| bekommen. Andererseits habe ich Sabine vor Augen. Ich kann ihr bei den | |
| Argumenten gegen die Impfung nicht folgen. Aber ich habe verstanden, dass | |
| sie ihr zutiefst widerstrebt. Sie will selbst bestimmen, was mit ihrem | |
| Körper passiert. Eine Impfpflicht würde Frust, Verzweiflung und Wut | |
| erzeugen. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei vielen anderen, die die | |
| Impfung ablehnen. Ist es das wert? | |
| Ich schreibe ihr eine Nachricht, „jetzt scheint es ja doch auf eine | |
| Impfpflicht hinauszulaufen“. Sie antwortet prompt. „Das warten wir mal ab. | |
| Da müssen ja so einige Gesetze ausgehebelt werden.“ | |
| Wir wollen uns im Dezember wieder verabreden, aber finden keinen Termin. | |
| Delta geht um in diesen Wochen, gleichzeitig wächst die Sorge vor der neuen | |
| Variante Omikron. Ich ergattere einen Termin für eine Boosterimpfung und | |
| freue mich. | |
| Ich möchte mehr wissen über Ivermectin, das Medikament, auf das Sabine | |
| setzt, und telefoniere mit zwei Forscherinnen des Universitätsklinikums | |
| Würzburg. Die Biologin Stephanie Weibel und die Ärztin Maria Popp haben im | |
| Sommer die vorhandenen Studien zu Ivermectin ausgewertet. „Wir mussten | |
| viele Studien ausschließen, die nicht den Qualitätsstandards klinischer | |
| Forschung entsprachen“, sagt Popp. Mal habe es keine geeignete | |
| Vergleichsgruppe gegeben, mal seien die Patienten nicht per Zufallsprinzip | |
| in die Gruppen verteilt worden. | |
| In den verbliebenen Daten fanden sie keine Hinweise darauf, dass Ivermectin | |
| den Zustand von Erkrankten verbessert oder die Zahl der Todesfälle | |
| reduziert. Mehrere neue Studien wurden seit dem Sommer publiziert. Weibel | |
| sagt: „Auch die gehen in die Richtung, dass Ivermectin keinen Effekt hat.“ | |
| Drei große Studien seien zudem in Arbeit, unter anderem von der Universität | |
| Oxford. | |
| An einem Nachmittag Mitte Januar klappt es dann doch mit einem Treffen. Die | |
| Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 428, besonders viele Infektionen gibt es | |
| inzwischen in der Impfhochburg Bremen und in Berlin. Ich verabrede mich mit | |
| Sabine wieder in der taz. Sie trägt einen Rock und gemütliche Lederstiefel. | |
| Sabine erzählt, dass sie wegen 2G an Weihnachten vor allem Socken und | |
| Mützen verschenkt habe, die gab es im Sortiment des Bio-Supermarktes. Dinge | |
| online zu bestellen lehnt sie ab. Weil sie nicht mehr schwimmen gehen kann, | |
| habe sie etwas zugenommen seit unserem letzten Treffen. | |
| Ich frage sie, ob unser Gespräch auch bei ihr etwas ausgelöst habe. Sie | |
| sagt, es mache ihr Hoffnung, dass sich überhaupt noch jemand für die andere | |
| Seite und ihre Kritik am Impfen interessiere. „Die Aufgabe der Medien ist | |
| die Kontrolle der Macht. Ich finde, die kommt einfach zu kurz.“ | |
| Sie redet schneller als beim ersten Gespräch, auch ihr Ton ist schärfer. | |
| Das liegt vor allem an den Problemen, die ihre Kinder inzwischen wegen des | |
| Impfthemas haben. Die Jüngere steht vor dem Wechsel an die Oberschule, sie | |
| will sich an einer Schule in der Nähe bewerben. Beim Vorstellungsgespräch | |
| sind aber nur geimpfte Eltern zugelassen. „Ich lasse mich testen, ich bin | |
| nicht krank, das ist doch absurd“, sagt Sabine. Sie hat eine Freundin | |
| gefragt, ob sie die Tochter begleitet. „Aber welchen Einfluss hat das auf | |
| die Aufnahme?“ Ihre Tochter will wegen des Ärgers inzwischen nichts mehr | |
| von der Schule wissen. Dabei hatte ihr das Profil eigentlich gefallen. | |
| Die große Tochter wiederum plant ein Auslandsjahr. Das Vorbereitungstreffen | |
| fand gerade statt, für Jugendliche ab 14 galt 2G, sie konnte nicht hin. | |
| Es ist nicht in Ordnung, wenn Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern | |
| gegen das Impfen sind. Sabines große Tochter wäre gerne geimpft, wie alle | |
| anderen in ihrer Klasse. „Sie ist total verzweifelt.“ Sabines Haltung | |
| erscheint mir hart. Sie könnte nachgeben, das will sie aber nicht. Sie | |
| sagt: „Das Risiko meiner Tochter, schwer zu erkranken, geht gegen null.“ | |
| Sie haben sich viel gestritten deshalb, man merkt, das macht auch Sabine zu | |
| schaffen. Inzwischen haben sie einen Kompromiss ausgehandelt. „Wenn es bis | |
| zum Sommer nicht vorbei ist, dann darf sie sich impfen lassen, aber mit | |
| einem anderen als diesen mRNA-Impfstoffen.“ Mit dem Mittel Novavax, das | |
| demnächst kommen soll, oder mit dem Totimpfstoff Valneva könnte sie eher | |
| leben, für ihre Tochter wie für sich selbst. | |
| Ich frage Sabine, ob sie angesichts des gesellschaftlichen Drucks radikaler | |
| geworden ist in den vergangenen Monaten. Das Wort „radikal“ lehnt sie ab. | |
| „Ich bin ja kein gewalttätiger Mensch.“ Sie habe zu einer Demo gehen | |
| wollen, organisiert von Schauspielerinnen, aber die sei verboten worden. | |
| „Dabei hatten sie ein Hygienekonzept. Sie haben sich auch extra von rechts | |
| distanziert.“ Früher habe sie Berührungsängste mit Querdenkern gehabt, aber | |
| bei den Protestdemos seien gar nicht so viele Rechte, ist sie nun | |
| überzeugt. Die Medien würden das nur so darstellen. | |
| Wir sprechen auch über die Impfpflicht. Sabine wirkt bei der Frage nicht so | |
| empört, wie ich es erwartet habe. Sie glaube nicht, dass die Impfpflicht | |
| komme, sagt sie. Die Antikörper ließen nach einer Impfung zu schnell wieder | |
| nach. Sie hoffe zudem auf Omikron. „Man kann ja schlecht eine Impfpflicht | |
| für einen Schnupfen durchsetzen“, sagt sie spöttisch. | |
| Wir diskutieren wie beim letzten Mal über die Zahl der Ungeimpften in den | |
| Kliniken. Sabine sagt, die Daten seien manipuliert worden. Während wir | |
| sprechen, macht [6][eine Meldung] der Vereinigung der Intensiv- und | |
| Notfallmedizin Divi die Runde. Demnach sind fast zwei Drittel der | |
| Coronapatient:innen auf den Intensivstationen ungeimpft. | |
| Ich erzähle ihr auch von meinem Gespräch mit den beiden Forscherinnen aus | |
| Würzburg über Ivermectin. Sie hört zu und entgegnet dann, große Studien | |
| würden eben von der Pharmaindustrie in Auftrag gegeben und die habe kein | |
| Interesse daran, deshalb fehlten aussagekräftige Daten. Ich weise darauf | |
| hin, dass auch neuere Untersuchungen zu Ivermectin keinen positiven Effekt | |
| belegen, und erzähle von den laufenden großen Studien, unter anderem der | |
| Uni Oxford. Sie fragt: „Und warum dauern diese Studien so lange?“ | |
| Am Beispiel Ivermectin wird deutlich, was uns grundlegend unterscheidet: | |
| Ich vertraue Wissenschaftler:innen wie Weibel und Popp und ihren | |
| Verfahren. Ich bin überzeugt: Wenn es ein Medikament gäbe, das wirkt, dann | |
| wäre es inzwischen längst anerkannt. Sabine wiederum sieht ökonomische | |
| Interessen am Werke. | |
| Ebenso bei der Impfung. Ich vertraue auf das Zulassungsverfahren. Sabine | |
| nicht, sie fühlt sich von Wissenschaft, Politik und Medien getäuscht. | |
| Skeptisch gegenüber der herkömmlichen Medizin war sie schon vor Corona, im | |
| letzten Jahr ist daraus etwas viel Größeres geworden. Sie hat sich von den | |
| politischen Institutionen entfremdet. | |
| Dieses tiefe Misstrauen wird bleiben, wenn die Pandemie vorbei ist. Bei | |
| Sabine, bei anderen Impfgegner:innen. Was aber heißt das für die | |
| Gesellschaft? Wie kann ein Zusammenleben dann funktionieren? Sabine sagt: | |
| „Ich wünsche mir, dass wir das aufarbeiten, die Spaltung, die Ausgrenzung. | |
| Sonst haben wir es bald wieder.“ | |
| Immerhin, sie spricht von „wir“. | |
| Sie und ihr Mann denken auch übers Auswandern nach. Spanien würde ihnen | |
| gefallen, sagt Sabine, weil dort Gerichte 2G- und 3G-Regelungen gekippt | |
| haben. „Es ist nur nicht so einfach. Man kann ja nicht mal eben so gehen.“ | |
| Später, auf der Treppe nach unten, gibt es einen versöhnlichen Moment. | |
| Sabine seufzt. Sie sagt: „Das nervt. Hoffentlich geht das endlich vorbei.“ | |
| Dass Corona bald verschwinden möge, darauf können wir uns einigen. | |
| 29 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2021.26.41.21… | |
| [2] https://www.fda.gov/consumers/consumer-updates/why-you-should-not-use-iverm… | |
| [3] https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-inhalt.html;… | |
| [4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/co… | |
| [5] /Strategiepapier-des-Innenministeriums/!5675014 | |
| [6] https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/presseinformation-daten-aus-dem-… | |
| ## AUTOREN | |
| Antje Lang-Lendorff | |
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