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# taz.de -- Im Gespräch mit einer Impfgegnerin: Sabine hofft auf Omikron
> Die Impffrage spaltet. Umso mehr gilt es, im Gespräch zu bleiben, findet
> unsere Autorin. Sie traf Sabine – die ist ungeimpft und will es bleiben.
Wäre ich mit Sabine in einem Café oder einem Geschäft zufällig ins Gespräch
gekommen, es hätte sich wohl schnell ein vertrautes Gefühl eingestellt. Wir
leben beide im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, sind beide
ungefähr Mitte 40 und Akademikerinnen. Wir haben beide zwei Kinder. Sabine
hat früher im Kulturbereich gearbeitet und will jetzt Lehrerin werden, ich
kenne einige, die wie sie in den Lehrerjob wechseln. Sabine hatte lange die
taz abonniert, ich arbeite bei der taz.
Wir haben also viel gemeinsam. Und doch stehen wir auf verschiedenen
Seiten. Denn Sabine ist ungeimpft und will es auch bleiben.
So sitzen wir an einem Nachmittag Mitte November, getestet und mit Abstand,
ganz oben im taz-Haus. Nach einem ruhigen Sommer steigt die Inzidenz in
diesen Wochen deutlich, vor allem in Sachsen, Thüringen und Bayern. Das
Unverständnis gegenüber Leuten wie Sabine ist groß, auch in der
taz-Redaktion, auch bei mir. In politischen Talkshows wird hart diskutiert,
in den sozialen Medien über die „Schwurbler“ und „Covidioten“ geschimp…
Die Impfgegner:innen wiederum verhöhnen die Mehrheit, die blind der
Pharmalobby folge. Die Spaltung geht durch Freundeskreise und Familien. Ist
bei privaten Begegnungen jemand nicht geimpft, steht schnell ein
unangenehmes Schweigen im Raum. Weil man schon ahnt, dass ein Austausch
schwierig würde und die Entfremdung offensichtlich.
Sabine und ich wollen versuchen, miteinander zu reden. Einmal, vielleicht
auch mehrmals. Sie hat den Eindruck, dass Impfkritiker:innen in den
Medien zu wenig Gehör finden. Ich wiederum habe Fragen: Sieht sie
angesichts der vielen Ungeimpften auf den Intensivstationen nicht, dass die
Entscheidung gegen das Impfen schwere Folgen hat für alle? Was meint sie,
wie wir aus der Pandemie jemals herauskommen sollen, wenn nicht durchs
Impfen? Ich möchte auch verstehen, wie sich der gesellschaftliche Druck auf
Sabines Leben auswirkt. Was es im Alltag inzwischen heißt, ungeimpft zu
sein.
Wir wissen beide nicht, ob das Gespräch entgleisen wird. Es steht keine
Freundschaft auf dem Spiel. Wir sehen uns an diesem Tag zum ersten Mal,
eine Bekannte hat den Kontakt vermittelt.
„Tragen wir weiter Maske oder nicht?“, frage ich. In Strickjacke und Jeans
sitzt Sabine mir gegenüber. Die langen Haare hat sie hinten
zusammengebunden. Sie lacht. „Ich habe keine Angst vor Corona“, sagt sie,
ihretwegen könnten wir die Masken ruhig abnehmen. Wir duzen uns
automatisch. Sabine heißt in Wirklichkeit anders. Weil Impfgegner:innen
derzeit angefeindet werden, trägt sie in diesem Text einen anderen Namen.
Sabine wirkt umgänglich und freundlich. Sie redet ruhig, selbst wenn sie
etwas empört. Dann zieht sie missbilligend die Augenbrauen zusammen. Zum
Beispiel, wenn sie über 2G spricht. Wir hätten uns für das Gespräch nicht
in einem Café treffen können, weil sie nicht mehr hinein darf. Das
empfindet sie als Schikane. „Wir müssen draußen bleiben, als wären wir
Hunde.“
Normalerweise geht Sabine regelmäßig ins Schwimmbad. Als Jugendliche hatte
sie einen Autounfall beim Trampen, dabei hat sie sich den Rücken gebrochen.
„Ich brauche das Schwimmen, sonst habe ich Schmerzen.“ Doch auch das Bad
ist ab Mitte November nur noch mit Impfnachweis zugänglich. „Das ist für
mich wirklich ein Verlust.“
Für 2G gibt es Gründe. Delta ist im November die verbreitete
Coronavariante. Wenn Ungeimpfte weniger Kontakte haben, gibt es weniger
schwere Verläufe, die Kliniken werden dann nicht so schnell überlastet.
Geimpfte [1][infizieren sich bei Delta] zudem seltener und sind, wenn sie
sich doch infizieren, kürzer ansteckend als Ungeimpfte, heißt es vom Robert
Koch-Institut.
Sabine sagt, sie lasse sich immer testen, um Ansteckungen zu vermeiden.
„Damit habe ich kein Problem.“ So aber fühlt sie sich ausgegrenzt. „Wir
diskriminieren jetzt nicht mehr nach Hautfarbe oder nach Geschlecht,
sondern nach Lebensentscheidung.“ Sich doch impfen zu lassen, um ins
Restaurant oder ins Bad zu können, kommt für sie nicht in Frage. „Ich lasse
mich nicht erpressen.“
Sabine hat ein gespaltenes Verhältnis zur herkömmlichen Medizin. Sie hatte
früher mit einer chronischen Entzündung zu kämpfen. Antibiotika und
Kortison halfen irgendwann nicht mehr, die Ärzte sagten ihr, sie sei
austherapiert. Sie wandte sich an eine Homöopathin, danach ging es ihr
besser, erzählt sie. „Ich kann das auch nicht erklären, aber ich bin total
glücklich, dass ich seitdem wieder ein funktionierendes Immunsystem habe.“
Impfungen seien eine tolle Erfindung, sagt sie, doch immer auch ein
Eingriff. Ihre Kinder hat sie gegen Masern impfen lassen, aber nicht gegen
Mumps und Röteln. „Bisher war es immer möglich, dass ich selber einen Weg
finden durfte.“
Dann kam Corona. Die Bilder aus Bergamo hätten sie getroffen, sagt Sabine.
Die Lockdowns hielt sie für notwendig. „Ich dachte auch, dass ich mich wohl
impfen lassen muss.“ Das änderte sich im vergangenen Jahr. Sie hatte im
Sommer das Studium fertig und hörte Podcasts von Biologen und Medizinern
aus den USA. Bei Youtube stieß sie auf ein Video über Ivermectin, ein
Medikament, das normalerweise zur Behandlung von Krätze oder Würmern
eingesetzt wird. Ivermectin helfe auch sehr gut bei Covid, hieß es in dem
Video. Kurz darauf wurde es gelöscht.
## Der Hype um Ivermectin
Tatsächlich gab es 2021 in den USA einen Hype um Ivermectin. Eine Gruppe
von Ärzten pries das Medikament als Wunderwaffe gegen Corona, es wirke auch
präventiv. Weder die WHO noch die amerikanische Gesundheitsbehörde
bestätigen bis heute eine Wirksamkeit. Trotzdem besorgten sich viele
US-Amerikaner das Arzneimittel und nahmen es, in Kliniken mussten Menschen
[2][wegen Vergiftungen] behandelt werden.
Es gibt also Gründe, warum Beiträge über den angeblichen Nutzen des
Medikaments gelöscht wurden. Sabine aber machte die „Zensur“, wie sie es
nennt, misstrauisch. Sie suchte und fand weitere positive Berichte über
Ivermectin, die kurz darauf entfernt wurden, und war bald überzeugt, dass
Ivermectin hilft, aber diese Information unterdrückt werden soll. „Das ist
auch total leicht zu erklären: Mit einem Medikament, das schon lange auf
dem Markt ist, ist kein Geld zu machen.“
Sabine glaubt, dass es ein wirksames Medikament gibt, dass Politik und
Wissenschaft dieses Mittel den Menschen aber vorenthalten, weil der
Patentschutz längst abgelaufen ist und es – anders als die Impfung – keinen
Profit bringt. Dass Biontech und Pfizer an der Impfung verdienen, stimmt.
Aber glaubt Sabine wirklich, dass die Impfung allein aus Geschäftsgründen
durchgesetzt wird? Die Pharma-Lobby sei stark, sagt sie, ihr erscheine das
plausibel.
Sabine beschäftigte sich auch mit den mRNA-Impfstoffen, die sie sehr
kritisch betrachtet: „Man kann das guten Gewissens eine Gentherapie
nennen“, sagt sie. Gentherapie hieße, dass die DNA im Zellkern verändert
würde. Das sei sehr unwahrscheinlich, heißt es dazu [3][vom
Paul-Ehrlich-Institut], dafür bestehe „kein erkennbares Risiko“. Sabine
überzeugt das nicht. Sie sagt: „Das möchte ich mir erst mal ein paar Jahre
angucken.“
In der Gesellschaft ist Sabine mit dieser Haltung in der Minderheit. Sie
muss sich gegen Kritik wappnen, vielleicht liest sie deshalb so viel zum
Thema. Nicht nur in den gängigen Medien, auch auf Seiten wie dem
Onlinemagazin Multipolar. Dort findet man Artikel darüber, dass die Medien
hauptsächlich Regierungspropaganda lieferten oder dass die Zahl der
Coronapatienten in den Krankenhäusern massiv übertrieben sei.
Auch in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis ist Sabine eine Ausnahme. Ihr
Mann will sich wie sie nicht impfen lassen, ihre engsten Freunde sind
jedoch geimpft. „Sie finden es legitim, dass ich es nicht möchte“, erzählt
sie. Wenn sie sich treffen, testet sich Sabine vorher, selbst wenn die
Freunde das nicht von ihr verlangen.
Es gibt auch andere Erlebnisse, etwa mit ihrer Nachbarin. Die Kinder sind
im gleichen Alter, Sabine wurde sonst immer zu ihrem Geburtstag eingeladen.
Dieses Jahr nicht. „Darf ich keine andere Meinung mehr haben? Das hat mich
echt getroffen“, sagt sie.
Sabine hat traditionell die Grünen gewählt. Im September, als in Berlin
Bundestag und Abgeordnetenhaus gewählt wurden, nicht mehr. „Das ging gar
nicht. Die Grünen haben so gehetzt. Sie haben alle, die sich nicht impfen
lassen wollen, als faul und dumm dargestellt.“ Es erschrecke sie, dass sie
ihre Position bei Corona am ehesten von der AfD vertreten sehe, die würde
sie nie wählen. Sabine verteilte ihre Stimmen schließlich auf Die Partei
und die Linkspartei. „Was Sahra Wagenknecht sagt, kann ich zu hundert
Prozent unterschreiben.“
Es ist kalt in dem Raum, in dem wir sitzen, ich muss niesen. „Ich könnte
jetzt Angst haben, dass du irgendwas hast. Man darf ja nicht mal mehr
husten, ohne dass der neben einem böse wird“, sagt Sabine. Sie glaubt, dass
die Angst vor Corona die Gesellschaft verändert. „Das ist wie bei Kindern.
Du kannst Kindern Angst machen, dann gehorchen sie eher. Aber langfristig
hast du ein verängstigtes Kind.“
Sie verweist auf ein [4][Papier des Innenministeriums] vom März 2020.
Tatsächlich formulierte die Bundesregierung darin, dass man den Menschen
Angst machen müsse, damit Corona nicht verharmlost werde. Um „die
gewünschte Schockwirkung zu erzielen“, solle die „Urangst“ des Erstickens
bedient werden, heißt es unter anderem. [5][Die taz hat damals] über das
Papier berichtet. Auch mich befremden solche Formulierungen, Angst ist kein
gutes Mittel in der Politik. Ich wende aber ein, dass die Regierung zu
Beginn der Pandemie nicht wusste, wie schlimm es noch werden würde.
Wir diskutieren auch über die Situation in den Kliniken. Die Mehrheit der
Menschen auf den Intensivstationen ist ungeimpft, sie sind eine enorme
Belastung für Pflegende und Ärzte, sage ich. Wichtige Behandlungen und
Operationen werden ihretwegen verschoben. Wer sich nicht impfen lässt,
gefährdet also nicht nur das eigene Leben. Wie kann sie das verantworten?,
möchte ich wissen. Sabine bezweifelt die Statistiken, sie betont, dass auch
viele Geimpfte auf den Intensivstationen liegen. Eine Überlastung habe es
nicht gegeben, behauptet sie. Und wenn die Kliniken doch vor der
Überlastung stünden, müsse man das Gesundheitssystem besser ausstatten,
statt Betten abzubauen.
Es geht hin und her, bei diesem Thema wirkt Sabine auf mich etwas
unsicherer als zuvor. Am Ende verweist sie auf sich selbst. „Ich bin nicht
70 Jahre alt, ich bin kein Raucher, ich habe keine Vorerkrankungen. Mein
Risiko, auf der Intensivstation zu landen, ist nicht besonders hoch. Dann
möchte ich bitte selbst entscheiden, ob ich mir eine neumodische Medizin
spritzen lasse oder nicht.“ Sollte Corona sie erwischen, habe sie sich zur
Sicherheit Ivermectin besorgt, das würde einen schlimmeren Verlauf
verhindern.
Während des Gesprächs wird mir klar, dass sich die Fragen, die mich
umtreiben, aus Sabines Sicht erübrigen. Für sie ist Corona eine große
Panikmache. Sie geht davon aus, dass es längst ein Medikament gibt, mit dem
schwere Verläufe und die Überlastung der Kliniken verhindert werden
könnten. Deshalb wäre eine Impfung für sie auch kein Akt der Solidarität,
wie viele Linke argumentieren. In ihren Augen könnte man Corona einfach
laufen lassen, das wäre ihr Weg aus der Pandemie. Das Problem sind für sie
die Politiker:innen, die den Interessen der Pharmalobby folgen, wie auch
immer das genau aussehen mag, und die durch die Einschränkungen Druck
machen auf Ungeimpfte wie sie.
Nach über zwei Stunden gehen wir an diesem Nachmittag auseinander. Wir
haben uns nicht gestritten. Aber jede ist bei ihrem Standpunkt geblieben.
## Eine Impfpflicht würde Frust erzeugen
Erst danach merke ich: Die Begegnung macht etwas mit mir. Als Ende November
in Berlin 2G auch im Einzelhandel eingeführt wird, empfinde ich keine
Genugtuung. Früher war der erste Gedanke: Pech für die Ungeimpften, sollen
sie sich halt endlich impfen lassen. Nun muss ich an Sabine denken. Sie
kann weder ins Schwimmbad noch ins Café und auch nicht mehr in einen
Klamottenladen. Weil ich weiß, dass sie die Regelungen als kränkend
empfindet, bleibt die Schadenfreude aus.
Am 30. November spricht sich Olaf Scholz, zu der Zeit noch designierter
Bundeskanzler, erstmals für eine Impfpflicht für alle aus. Einerseits denke
ich, dass es das vielleicht braucht, um Corona endlich in den Griff zu
bekommen. Andererseits habe ich Sabine vor Augen. Ich kann ihr bei den
Argumenten gegen die Impfung nicht folgen. Aber ich habe verstanden, dass
sie ihr zutiefst widerstrebt. Sie will selbst bestimmen, was mit ihrem
Körper passiert. Eine Impfpflicht würde Frust, Verzweiflung und Wut
erzeugen. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei vielen anderen, die die
Impfung ablehnen. Ist es das wert?
Ich schreibe ihr eine Nachricht, „jetzt scheint es ja doch auf eine
Impfpflicht hinauszulaufen“. Sie antwortet prompt. „Das warten wir mal ab.
Da müssen ja so einige Gesetze ausgehebelt werden.“
Wir wollen uns im Dezember wieder verabreden, aber finden keinen Termin.
Delta geht um in diesen Wochen, gleichzeitig wächst die Sorge vor der neuen
Variante Omikron. Ich ergattere einen Termin für eine Boosterimpfung und
freue mich.
Ich möchte mehr wissen über Ivermectin, das Medikament, auf das Sabine
setzt, und telefoniere mit zwei Forscherinnen des Universitätsklinikums
Würzburg. Die Biologin Stephanie Weibel und die Ärztin Maria Popp haben im
Sommer die vorhandenen Studien zu Ivermectin ausgewertet. „Wir mussten
viele Studien ausschließen, die nicht den Qualitätsstandards klinischer
Forschung entsprachen“, sagt Popp. Mal habe es keine geeignete
Vergleichsgruppe gegeben, mal seien die Patienten nicht per Zufallsprinzip
in die Gruppen verteilt worden.
In den verbliebenen Daten fanden sie keine Hinweise darauf, dass Ivermectin
den Zustand von Erkrankten verbessert oder die Zahl der Todesfälle
reduziert. Mehrere neue Studien wurden seit dem Sommer publiziert. Weibel
sagt: „Auch die gehen in die Richtung, dass Ivermectin keinen Effekt hat.“
Drei große Studien seien zudem in Arbeit, unter anderem von der Universität
Oxford.
An einem Nachmittag Mitte Januar klappt es dann doch mit einem Treffen. Die
Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 428, besonders viele Infektionen gibt es
inzwischen in der Impfhochburg Bremen und in Berlin. Ich verabrede mich mit
Sabine wieder in der taz. Sie trägt einen Rock und gemütliche Lederstiefel.
Sabine erzählt, dass sie wegen 2G an Weihnachten vor allem Socken und
Mützen verschenkt habe, die gab es im Sortiment des Bio-Supermarktes. Dinge
online zu bestellen lehnt sie ab. Weil sie nicht mehr schwimmen gehen kann,
habe sie etwas zugenommen seit unserem letzten Treffen.
Ich frage sie, ob unser Gespräch auch bei ihr etwas ausgelöst habe. Sie
sagt, es mache ihr Hoffnung, dass sich überhaupt noch jemand für die andere
Seite und ihre Kritik am Impfen interessiere. „Die Aufgabe der Medien ist
die Kontrolle der Macht. Ich finde, die kommt einfach zu kurz.“
Sie redet schneller als beim ersten Gespräch, auch ihr Ton ist schärfer.
Das liegt vor allem an den Problemen, die ihre Kinder inzwischen wegen des
Impfthemas haben. Die Jüngere steht vor dem Wechsel an die Oberschule, sie
will sich an einer Schule in der Nähe bewerben. Beim Vorstellungsgespräch
sind aber nur geimpfte Eltern zugelassen. „Ich lasse mich testen, ich bin
nicht krank, das ist doch absurd“, sagt Sabine. Sie hat eine Freundin
gefragt, ob sie die Tochter begleitet. „Aber welchen Einfluss hat das auf
die Aufnahme?“ Ihre Tochter will wegen des Ärgers inzwischen nichts mehr
von der Schule wissen. Dabei hatte ihr das Profil eigentlich gefallen.
Die große Tochter wiederum plant ein Auslandsjahr. Das Vorbereitungstreffen
fand gerade statt, für Jugendliche ab 14 galt 2G, sie konnte nicht hin.
Es ist nicht in Ordnung, wenn Kinder darunter leiden, dass ihre Eltern
gegen das Impfen sind. Sabines große Tochter wäre gerne geimpft, wie alle
anderen in ihrer Klasse. „Sie ist total verzweifelt.“ Sabines Haltung
erscheint mir hart. Sie könnte nachgeben, das will sie aber nicht. Sie
sagt: „Das Risiko meiner Tochter, schwer zu erkranken, geht gegen null.“
Sie haben sich viel gestritten deshalb, man merkt, das macht auch Sabine zu
schaffen. Inzwischen haben sie einen Kompromiss ausgehandelt. „Wenn es bis
zum Sommer nicht vorbei ist, dann darf sie sich impfen lassen, aber mit
einem anderen als diesen mRNA-Impfstoffen.“ Mit dem Mittel Novavax, das
demnächst kommen soll, oder mit dem Totimpfstoff Valneva könnte sie eher
leben, für ihre Tochter wie für sich selbst.
Ich frage Sabine, ob sie angesichts des gesellschaftlichen Drucks radikaler
geworden ist in den vergangenen Monaten. Das Wort „radikal“ lehnt sie ab.
„Ich bin ja kein gewalttätiger Mensch.“ Sie habe zu einer Demo gehen
wollen, organisiert von Schauspielerinnen, aber die sei verboten worden.
„Dabei hatten sie ein Hygienekonzept. Sie haben sich auch extra von rechts
distanziert.“ Früher habe sie Berührungsängste mit Querdenkern gehabt, aber
bei den Protestdemos seien gar nicht so viele Rechte, ist sie nun
überzeugt. Die Medien würden das nur so darstellen.
Wir sprechen auch über die Impfpflicht. Sabine wirkt bei der Frage nicht so
empört, wie ich es erwartet habe. Sie glaube nicht, dass die Impfpflicht
komme, sagt sie. Die Antikörper ließen nach einer Impfung zu schnell wieder
nach. Sie hoffe zudem auf Omikron. „Man kann ja schlecht eine Impfpflicht
für einen Schnupfen durchsetzen“, sagt sie spöttisch.
Wir diskutieren wie beim letzten Mal über die Zahl der Ungeimpften in den
Kliniken. Sabine sagt, die Daten seien manipuliert worden. Während wir
sprechen, macht [6][eine Meldung] der Vereinigung der Intensiv- und
Notfallmedizin Divi die Runde. Demnach sind fast zwei Drittel der
Coronapatient:innen auf den Intensivstationen ungeimpft.
Ich erzähle ihr auch von meinem Gespräch mit den beiden Forscherinnen aus
Würzburg über Ivermectin. Sie hört zu und entgegnet dann, große Studien
würden eben von der Pharmaindustrie in Auftrag gegeben und die habe kein
Interesse daran, deshalb fehlten aussagekräftige Daten. Ich weise darauf
hin, dass auch neuere Untersuchungen zu Ivermectin keinen positiven Effekt
belegen, und erzähle von den laufenden großen Studien, unter anderem der
Uni Oxford. Sie fragt: „Und warum dauern diese Studien so lange?“
Am Beispiel Ivermectin wird deutlich, was uns grundlegend unterscheidet:
Ich vertraue Wissenschaftler:innen wie Weibel und Popp und ihren
Verfahren. Ich bin überzeugt: Wenn es ein Medikament gäbe, das wirkt, dann
wäre es inzwischen längst anerkannt. Sabine wiederum sieht ökonomische
Interessen am Werke.
Ebenso bei der Impfung. Ich vertraue auf das Zulassungsverfahren. Sabine
nicht, sie fühlt sich von Wissenschaft, Politik und Medien getäuscht.
Skeptisch gegenüber der herkömmlichen Medizin war sie schon vor Corona, im
letzten Jahr ist daraus etwas viel Größeres geworden. Sie hat sich von den
politischen Institutionen entfremdet.
Dieses tiefe Misstrauen wird bleiben, wenn die Pandemie vorbei ist. Bei
Sabine, bei anderen Impfgegner:innen. Was aber heißt das für die
Gesellschaft? Wie kann ein Zusammenleben dann funktionieren? Sabine sagt:
„Ich wünsche mir, dass wir das aufarbeiten, die Spaltung, die Ausgrenzung.
Sonst haben wir es bald wieder.“
Immerhin, sie spricht von „wir“.
Sie und ihr Mann denken auch übers Auswandern nach. Spanien würde ihnen
gefallen, sagt Sabine, weil dort Gerichte 2G- und 3G-Regelungen gekippt
haben. „Es ist nur nicht so einfach. Man kann ja nicht mal eben so gehen.“
Später, auf der Treppe nach unten, gibt es einen versöhnlichen Moment.
Sabine seufzt. Sie sagt: „Das nervt. Hoffentlich geht das endlich vorbei.“
Dass Corona bald verschwinden möge, darauf können wir uns einigen.
29 Jan 2022
## LINKS
[1] https://www.eurosurveillance.org/content/10.2807/1560-7917.ES.2021.26.41.21…
[2] https://www.fda.gov/consumers/consumer-updates/why-you-should-not-use-iverm…
[3] https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/coronavirus-inhalt.html;…
[4] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/co…
[5] /Strategiepapier-des-Innenministeriums/!5675014
[6] https://www.divi.de/presse/pressemeldungen/presseinformation-daten-aus-dem-…
## AUTOREN
Antje Lang-Lendorff
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