# taz.de -- Impfgegner in Bayern: Naturgläubig zwischen den Wipfeln | |
> Sie kommen mit Kerzen: In Bayern gehen Menschen aus der bürgerlichen | |
> Mitte auf die Straße. Viele von ihnen glauben an Esoterik und | |
> Homöopathie. | |
Bild: Unangemeldete Demonstration von Impfgegnern in Murnau, Ende Dezember | |
Bad Töln/Murnau/Wolfratshausen taz | Ein Montag im Januar, etwa sieben Uhr | |
abends. Rund 700 Menschen ziehen über die leicht abschüssige Marktstraße | |
von [1][Bad Tölz], entlang der prächtigen, mit Lüftlmalerei verzierten | |
Kaufmannshäuser. Sie gehen im Kreis, gegen den Uhrzeigersinn, hinauf und | |
wieder hinunter. Viele tragen Grabkerzen oder Windlichter in den Händen, | |
einige haben sich Lichterketten umgelegt. Sie gehen ohne Maske, ohne | |
Abstand. Viel Häkelmützen und Outdoorkleidung ist zu sehen, manche | |
Teilnehmer tragen geringelte Strickstulpen über der Jeans. | |
Daunensteppjacken, Lodenmäntel und festes Schuhwerk, neotraditionelle | |
Strickhoodys und Hipster-Bart. Die bürgerliche Mitte mit Öko-Touch. | |
Er sei hier, um gegen eine „Zwangsimpfung“ und die „Vermummung unserer | |
Kindern“ zu protestieren, sagt ein Mann. Dann fügt er hinzu: „Ich verstehe | |
etwas von Gesundheit, bin Wanderführer und Meditationslehrer und habe | |
jahrelang Menschen dabei geholfen, ihr Immunsystem zu stärken!“ | |
Ein Accessoire tragen fast alle dieser Menschen in ihrem Gesicht: ein | |
überlegen wirkendes Lächeln. Es gilt den Gegendemonstranten, die sich im | |
unteren Teil der Marktstraße versammelt haben. | |
Vor ein paar Monaten hätten wohl die meisten Bürger_innen in Oberbayern | |
noch gelacht, hätte ihnen jemand prophezeit, dass bald ganze Pulks von | |
Menschen in der Provinz zwischen München und Garmisch Lichterprozessionen | |
veranstalten würden. Doch seit Anfang Dezember haben sich die „stillen | |
Spaziergänge“ genannten Demonstrationen im Oberland ähnlich wie die | |
Omikron-Variante ausgebreitet. Man protestiert in pittoresken Kleinstädten | |
wie Murnau, Mittenwald, Wolfratshausen oder Bad Tölz, mit Papierherzen und | |
Kerzen. | |
## Scheinbar friedlich, aber doch ziemlich angriffslustig | |
Wie groß jedoch die Angriffslust unter diesen Impfgegnern ist, zeigt sich, | |
sobald sie auf Widerspruch stoßen. Eine Tölzer Gegendemonstrantin hatte | |
gedruckte Plakate und Postkarten gestaltet, auf denen sie zur Impfung | |
aufrief. „Ich wurde von ‚Spaziergängern‘ beschimpft“, sagt sie. „Man… | |
mir, ich gehörte erschossen und aufgehängt.“ | |
Im 40 Kilometer südlich von München gelegenen [2][Wolfratshausen] stehen an | |
einem Abend in der Haupteinkaufsstraße über 900 „Spaziergänger“ etwa 450 | |
angemeldeten Gegendemonstranten gegenüber. Letztere gehören zur neu | |
gegründeten „Wolfratshauser Menschenkette“, die für solidarisches Verhalt… | |
in der Pandemie wirbt. Ihre Teilnehmer haben sich auf der einen | |
Straßenseite aufgereiht. Sie tragen Masken und halten Abstand zueinander. | |
Auf dem Bürgersteig gegenüber zieht die Karawane der Impfgegner schweigend | |
entlang. Einer von ihnen löst sich, geht auf die Gegendemonstranten zu, | |
filmt ihre Reihe betont offenkundig ab, so als wolle er Beweise sammeln. | |
„Ich habe das als bedrohlich empfunden“, sagt später eine junge Frau, die | |
zu den Gegendemonstranten gehört. | |
In [3][Mittenwald] kippt ein „Spaziergänger“ einem Fotojournalisten heißes | |
Kerzenwachs hinterrücks auf die Jacke. Und in Murnau fragt ein Demonstrant | |
einen für das Jüdische Forum Berlin arbeitenden Kameramann: „Was geht das | |
den Juden an, was hier in Murnau los ist?“ | |
Der Wind treibt Schneeflocken über das Blaue Land, jene hügelige | |
Voralpenlandschaft bei Murnau am Staffelsee, die einst die Freigeister und | |
Künstler des Blauen Reiters angelockt hat. In der Murnauer | |
Polizeiinspektion sitzt Joachim Loy in seinem Büro. Loy ist Erster | |
Polizeihauptkommissar und leitet in der Region regelmäßig Einsätze bei | |
Antiimpfpflicht-Demonstrationen. | |
Durch seine mehrjährige Arbeit beim Staatsschutz hat er Erfahrung mit | |
extremistischen Tendenzen. Loy sieht die nicht angemeldeten Versammlungen | |
der Impfgegner mitnichten als harmlos oder unpolitisch an – nicht nur | |
deswegen, weil er dort immer wieder Vertreter der Reichsbürger-Szene | |
erkennt. Für ihn sind die „Spaziergänger“ nicht einfach hilflose Opfer, d… | |
von Rechts überrumpelt werden. „Viele der sogenannten normalen Bürger, die | |
da mitgehen, tragen bereits eine demokratiefeindliche Einstellung in sich, | |
die wir bei der Polizei als sicherheitsgefährdend bezeichnen“, sagt Loy. | |
„Den Staat vorzuführen, gehört zum Kalkül dieser „Spaziergänger“, sag… | |
Kommissar. „Nach dem Versammlungsrecht muss es bei jeder Kundgebung einen | |
Versammlungsleiter geben, der dafür sorgt, dass Auflagen eingehalten | |
werden. Hat aber niemand offiziell diese Rolle, muss die Polizei diese | |
Leitungsrolle übernehmen, um für die Sicherheit zu sorgen. Damit gelingt es | |
den Impfgegnern, die Polizei auch noch für ihr Vorhaben einzuspannen.“ | |
Fakt ist: In Bayern entpuppten sich die großen Corona-Demonstrationen in | |
den Städten von Beginn an als ein Zweckbündnis zwischen rechtsextremen | |
Gruppen und Vertretern eines alternativen, esoterischen Spektrums. Und auch | |
die „Spaziergänger“ auf dem Land haben ihre Strippenzieher und | |
Stichwortgeber aus dem rechten Lager. Zu den wöchentlichen Demonstrationen | |
in Bad Tölz, Geretsried, Lenggries, Penzberg oder Wolfratshausen ruft | |
explizit die Neonazi-Partei Der Dritte Weg auf. Wes Geistes Kind diese | |
Partei ist, verraten ihre Slogans wie „Deutsche Kinder braucht das Land“, | |
„Kein deutsches Blut für fremde Interessen“ oder „Asylflut stoppen“. | |
Der Geretsrieder [4][Andreas Wagner], bis vor Kurzem Bundestagsabgeordneter | |
der Linken für den Wahlkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, hatte auf Facebook | |
erklärt: „An einer Demo ist etwas faul, wenn Verschwörungsideologen und | |
Rechtsextremisten dazu aufrufen.“ Danach fand er einen Sticker in seinem | |
Briefkasten mit der Aufschrift: Good Night, Left side“, die Grafik darauf | |
zeigt eine Pistolenmündung, die direkt auf den Betrachter gerichtet ist. | |
Außerdem bekam der Politiker eine unbestellte Postsendung zugeschickt, die | |
an Andreas Jehuda Wagner adressiert war. | |
## Ein Eldorado für Esoteriker | |
Was ist das für ein Milieu, das im wohlstandssatten Münchner Süden mit | |
Rechtsextremisten auf die Straße geht und dabei abstreitet, irgendetwas mit | |
ihnen gemein zu haben? Dazu kann [5][Matthias Pöhlmann] Auskunft geben. Der | |
Weltanschauungsbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern | |
beobachtet seit mehr als 25 Jahren die Allianzen zwischen esoterischen und | |
rechtsoffenen Strömungen. Er sagt: „Das Voralpenland ist ein Eldorado für | |
esoterische Anbieter, Homöopathie- und Naturheilkunde-Fans.“ Das erkenne | |
man beispielsweise an den regionalen Anzeigenblättern. „Dort finden sich | |
oft Angebote wie Energiearbeit oder fernöstlich inspirierte, körpernahe | |
Behandlungen“ – Therapiekonzepte, die ein Publikum anziehen, das Geld und | |
Zeit für derlei hat. „Dieses Milieu lehnt mitunter die evidenzbasierte | |
Medizin als Teil der Wissenschaft ab und neigt generell zu einer ablehnende | |
Haltung gegenüber dem Staat“, sagt Pöhlmann. | |
Als Seelsorger hat sich Pöhlmann viel mit den Denkwelten dieser Menschen | |
befasst, die in Alternativwirklichkeiten abgedriftet sind: | |
„Verschwörungsgläubige haben oft ein vermeintliches Überwissen, das aus | |
ihrer Sicht nur Erleuchteten zugänglich ist.“ Damit wähnten sich diese | |
Überwisser, wie Pöhlmann sie nennt, als Elite. „Diesen | |
Überlegenheitsanspruch bringen sie gegenüber der evidenzbasierten | |
Wissenschaft in Stellung.“ | |
Typisch dafür sei die Spiritualisierung von Krankheit. „In dieser Szene | |
wird nach einem esoterischem Verständnis Leiden als selbst verschuldet | |
betrachtet, woraus der Mensch dazulernen soll.“ Das Problem: In die | |
Vorstellung von Krankheit als „Prüfung“ ist die Idee der Auslese | |
eingewoben, also die Selektion der Schwachen von den Starken. „Das ist | |
nichts anderes als Sozialdarwinismus, und der bildet den Brückenkopf rüber | |
ins rechte Gedankengut“, sagt Pöhlmann. | |
Der Medizinhistoriker [6][Malte Thießen] aus Münster kennt die ausgeprägte | |
Impfskepsis im süddeutschen Raum. Er sieht dafür zwei Gründe. „Zum einen | |
gibt es im Alpenraum eine Tradition der Selbstbestimmung, die sich über die | |
Ablehnung des Staates definiert“, erklärt der Historiker am Telefon. „Ein | |
staatlich organisiertes Impfen wird als Vordringen des Staates in den | |
eigenen Lebensraum verstanden und der eigene Körper als das Schlachtfeld, | |
auf dem man den Einfluss des Staates zurückdrängt.“ | |
Zum zweiten habe die Suburbanisierung ab den 1960er Jahren dafür gesorgt, | |
dass bürgerliche Selbstoptimierungskonzepte und oft anthroposophisch | |
geprägte Vorstellungen aus der Stadt aufs Land wandern. „Damit wurde eine | |
zweite Welle der Impfskepsis in ländliche Regionen importiert.“ Zu beiden | |
Denkrichtungen aber gehöre der Rückzug auf das eigene Ich, also der | |
Egozentrismus. | |
## Ein Verbot ist mehr als schwierig | |
In der vergangenen Woche hat die Wolfratshauser Gruppe von Impfbefürwortern | |
an den Landrat appelliert, die „Spaziergänge“ per Allgemeinverfügung zu | |
unterbinden, um dem zivilgesellschaftlichen Engagement den Rücken zu | |
stärken. Tatsächlich ist es für die Kommunalbehörden schwierig, juristisch | |
unangreifbare Allgemeinverfügungen gegen Versammlungen zu verhängen. | |
Solange es nicht, wie in München geschehen, zu Rechtsbrüchen während dieser | |
Zusammenkünfte gekommen ist, urteilen die bayerischen Gerichte zugunsten | |
der Versammlungsfreiheit. | |
So heißt es denn auch in der jüngsten Pressemitteilung des Landratsamtes | |
Bad Tölz-Wolfratshausen, dass „grundsätzlich die fehlende Anzeige einer | |
Versammlung keinen Auflösungsgrund darstellt und diese durch das Grundrecht | |
der Versammlungsfreiheit geschützt ist“. Richtschnur des behördlichen | |
Handelns sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und oberstes Ziel, | |
deeskalierend aufzutreten. | |
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Andreas Wagner meint dazu, die Politik | |
stecke in einem Dilemma. „Politik und Polizei wollen eine Konfrontation | |
vermeiden, damit möglichst keine Bilder von Polizeigewalt gegen | |
Versammlungsteilnehmer entstehen. Genau solche Bilder aber will die | |
extreme Rechte provozieren – auch auf dem Land.“ | |
2 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bad-toelz.de/ | |
[2] https://www.wolfratshausen.de/ | |
[3] https://www.alpenwelt-karwendel.de/urlaub-mittenwald | |
[4] https://www.bundestag.de/webarchiv/abgeordnete/biografien19/W/524350-524350 | |
[5] https://weltanschauungen.bayern-evangelisch.de/kontakt.php | |
[6] https://zeithistorische-forschungen.de/autoren/malte-thiessen | |
## AUTOREN | |
Margarete Moulin | |
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