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# taz.de -- Das Meinungswesen in der Pandemie: Im Schützengraben
> Die Meinungshaberei steht hoch im Kurs. In Corona-Zeiten zeigt sich: Es
> ist leichter, zu einer Meinung zu kommen, als sie wieder loszuwerden.
Bild: Noch eine Meinung bitte?
John Maynard Keynes, dem legendären Ökonomen, wurde gelegentlich
vorgeworfen, er sei ein Flip-Flopper, der mal das, mal jenes vertrete. Sein
Konter ist bis heute berühmt: „Wenn sich die Fakten ändern, ändere ich
meine Meinung. Was würden Sie tun?“ Die Botschaft: Wer seine Haltungen
überprüft, wenn die Umstände sich ändern, ist klug. Wer stur bei seinem
Standpunkt bleibt, ist ein Trottel.
Die Meinungshaberei steht heute hoch im Kurs, ganze Berufsgruppen leben
davon. Autor*innen von Kommentaren wie diesem sind in der
Meinungsbranche aktiv, und besonders beliebt sind die meinungsstarken
Meinungen, bei denen man sich aufregen kann, wenn man eine andere hat. Das
Meinunghaben ist Teil der Erregungskultur, des Entertainments und der
Social-Media-Blödmaschinerie. Im Fernsehen kommen dauernd Leute vor, die
eine Meinung haben. Talentarme Autor*innen können ihre Bekanntheit
steigern, indem sie besonders durchgeknallte Meinungen äußern. Das
Verhältnis von Fakten und Meinungen ist prekär. Hannah Arendt hat es als
eine Erscheinungsform von „Realitätsflucht“ bezeichnet, „mit Tatsachen so
umzugehen, als handle es sich um bloße Meinungen“.
Nicht nur die Frage, wie man zu Meinungen kommt, ist interessant, sondern
mehr noch die Frage, wie man sie behält oder ändert. Ein Problem tritt auf,
man sammelt im allerbesten Falle Informationen, und dann bildet man sich
eine Meinung dazu. So weit ist ja noch alles gut, zumindest in der Theorie.
Dass man schon in dieser ersten Phase die „Informationen“, die man
verarbeitet, und jene, die man ignoriert, nach weltanschaulicher
Grundhaltung oder sogar Bequemlichkeit auswählt, wollen wir nicht
übersehen. Doch dann geschieht etwas Eigentümliches: Es gibt andere
Menschen, die zu ganz anderen Urteilen kommen. Wenn sich Lager bilden,
sieht man sich schnell verleitet, die eigene Meinung gegen die andere
Meinung, die dann eine „gegnerische Meinung“ ist, zu vertreten. Was mit
vorsichtigen Begründungen begann, endet im Stellungskrieg, in dem sich alle
in ihren Schützengräben eingraben. Womöglich ist es leichter, zu einer
Meinung zu kommen, als sie wieder loszuwerden.
Hat man die „richtige Meinung“, ist diese selbst dann nicht so leicht zu
revidieren, wenn sich die Tatsachen ändern. Das wird nicht nur durch die
Freund-Feind-Ordnung der Meinungshaberei erschwert, sondern auch durch die
menschliche Eigenart, an Gewohnheiten festzuhalten. Auch Meinungen können
zu Gewohnheiten werden. Sogar die Meinung, dass alle Konventionen zerstört
gehören, kann zu einer Konvention werden, wenn sie nur lange genug von
ausreichend vielen Leuten vertreten wird.
Aber es gibt auch andere Probleme. Nehmen wir nur die Pandemie. In zwei
Jahren hat sich eine Lagerbildung ergeben, die man nur deshalb nicht
„Glaubenskriege“ nennen mag, weil die einen sich ihre Meinung durch
Abwägung gebildet haben, die anderen durch [1][Glauben] („Diese Seuche ist
ja nur eine Grippe“, „Verschwörung von Bill Gates“). Hohe Infektionszahl…
eine Hospitalisierungswahrscheinlichkeit von zehn Prozent, eine
Fallsterblichkeit von einem Prozent und mehr machten Not- und
Ausnahmegesetzgebung und tiefe Einschränkungen im Alltag notwendig. Durch
Impfungen, Immunisierung der Bevölkerung durch Infektion und andere Gründe
ist die [2][Omikronwelle] aber massiv milder. In Österreich haben wir seit
Wochen permanent fast 400.000 aktive Fälle, eine Hospitalisierungsrate von
0,5–1 Prozent und etwa 400 Tote im Monat, also sehr viel weniger als bei
jeder schweren Grippewelle.
Natürlich kann man da die Meinung vertreten, dass es Zeit ist, alle
[3][Einschränkungen] zu beenden – aber dann klingt man ja wie ein
Schwurbler, und will man das? Ich will keineswegs sagen, dass wir jetzt
alle Vorsicht fahren lassen müssen – es bleiben noch viele Fragezeichen.
Aber es ist zweifelsohne eine signifikante Änderung von Fakten, was unser
auch schon intuitiv gewordenes Meinungshaben herausfordert.
5 Feb 2022
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## AUTOREN
Robert Misik
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