| # taz.de -- Die These: Weg mit dem Bundespräsidenten! | |
| > Man könnte im Schloss Bellevue genauso gut einen Algorithmus | |
| > installieren. Schafft das Amt endlich ab. | |
| Bild: Die Schuhe des Bundespräsidenten während einer Pressekonferenz im Hotel… | |
| Sie kennen es vielleicht: Sie sitzen im Ausland bei Freunden, und dann | |
| kommt diese für Sie immer etwas peinliche Frage, wer denn gerade das | |
| Staatsoberhaupt ist in Deutschland. Dann nennt man den gerade aktuellen, | |
| sperrigen und sehr deutschen Namen – [1][Gauck] oder Köhler oder Wulff oder | |
| Steinmeier –, um dann sofort hinterherzuschieben, dass der Bundespräsident | |
| fast nur ceremonial ist, weil man nach der Nazi time keinen neuen | |
| Hindenbörg haben wollte. Leider fällt einem dann nie das englische Wort für | |
| Steigbügelhalter ein, was nicht weiter schlimm ist, denn dann geht es | |
| meistens sofort um das explodierte gleichnamige Luftschiff, was auch | |
| irgendwie spannender ist. | |
| Es ist eine Qual. Erstaunlich zahlreiche, tadellose Demokratien halten sich | |
| noch einen König oder eine Königin mit mal keiner (Schweden) oder ein | |
| bisschen Macht (Niederlande). Das hat den Vorteil, dass man sich Name und | |
| Gesicht gut merken kann, weil der oder die Gekrönte meistens über | |
| Jahrzehnte im Amt ist. Verständlicherweise ist das Thema in Deutschland | |
| erledigt. | |
| Dann gibt es Demokratien, bei denen der Präsident gleichzeitig auch | |
| Regierungschef oder der mächtigste Mann ist (USA und Frankreich – ja, es | |
| waren dort bislang nur Männer). Oder es amtieren direkt gewählte | |
| Präsidenten wie in Österreich, Polen oder Finnland, die mehr Macht haben | |
| als der deutsche Bundespräsident und den Gegenpart zur Regierung geben. | |
| Anders in Deutschland. Jetzt werden wir also [2][weitere fünf Jahre] den | |
| ewigen Mahner Frank-Walter Steinmeier im Amt haben, der immer etwas wie ein | |
| evangelischer Pastor klingt – die aktuelle Zahl der Google-Einträge zu | |
| „Steinmeier mahnt“ ist übrigens 23.000. Man könnte im Präsidialamt genau… | |
| gut einen Algorithmus installieren, der die Steinmeier’schen Worthülsen | |
| produziert – keiner wohl würde es merken. „Ich glaub’, du muss’ dich j… | |
| da hinstellen“, sagte Steinmeier im Dezember bei der Kanzlervereidigung | |
| seines alten Buddys Olaf Scholz, da war das Mikro schon angeschaltet – um | |
| kurz darauf wieder in die staatstragende Pose („Herr Bundeskanzler“) | |
| zurückzukehren. Man weiß nie, ob er diese Rolle nur spielt, weil er glaubt, | |
| dass sie von ihm erwartet wird. In seinem Kanzlerkandidaten-Wahlkampf 2009 | |
| spielte er eine andere Rolle, da versuchte er Gerhard Schröder zu | |
| imitieren, indem er über die Marktplätze brüllte. Sein Wahlkampf scheiterte | |
| kläglich. | |
| ## Irgendjemand musste ja Gesetze unterzeichnen | |
| Deutschland braucht keine Onkel- oder Großvaterfiguren, die das Land | |
| irgendwie symbolisch zusammenhalten sollen, wie es in den | |
| Anfangsjahrzehnten vielleicht noch nötig war. Das Bundespräsidentenamt | |
| sollte per Grundgesetzänderung abgeschafft werden. Denn die Idee, dass es | |
| da oben an der Spitze einen klugen Vordenker oder eine Vordenkerin gibt, | |
| ist zwar eine charmante Vorstellung, nur ist das statistisch gesehen sehr | |
| selten der Fall: ungefähr alle 20 Jahre. Dafür so ein Amt | |
| aufrechtzuerhalten, lohnt sich nicht. | |
| Sicher, die Vorstellung eines fast machtlosen Oberhaupts in Deutschland war | |
| eine sympathische Vorsichtsmaßnahme. Aus bekannten Gründen hatte man 1949 | |
| auf den starken Typen verzichtet, der nach Belieben das Parlament auflösen | |
| oder mit festem Blick in die Kamera Kriege erklären kann, so wie es in den | |
| USA George Bush 2003 gegen den Irak oder Emmanuel Macron 2020 gegen Corona | |
| ([3][„Nous sommes en guerre“]) machten. | |
| In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik gab es die Großvater-Typen, | |
| die zum Amt und zu der Zeit passten. Weder Theodor Heuss noch Heinrich | |
| Lübke haben in diesem Amt groß gestört oder sich aufgespielt, aber | |
| irgendjemand musste ja Gesetze unterzeichnen und am Flughafen stehen, wenn | |
| die Queen zu Besuch kam. | |
| ## Das Amt als Aufgabe sehen, nicht als Karrierestation | |
| Doch dann fand sich auch mal jemand wie Gustav Heinemann. 1969 gewählt, war | |
| er ein Glücksfall, ein radikaldemokratischer und freier Geist, der es sich | |
| nicht nehmen ließ, Ulrike Meinhof Briefe zu schreiben und Kontakt zu Rudi | |
| Dutschke zu halten, nachdem auf ihn geschossen wurde. | |
| Schon lange vor [4][Willy Brandt] redete Heinemann gegen den | |
| Obrigkeitsstaat an und forderte mehr Demokratie ein. Heinemann sah das Amt | |
| als Aufgabe, nicht als Karrierestation. Er hielt den Deutschen den Spiegel | |
| vor, wenn es darauf ankam, und käute nicht nur wieder, was sowieso | |
| politischer Konsens war. | |
| Dann setzte natürlich noch Richard von Weizsäcker ein Zeichen mit seiner | |
| Rede zum 8. Mai 1945 und zur deutschen Schuld. Sein Nachfolger Roman Herzog | |
| führte den Holocaust-Gedenktag ein. | |
| Irgendwann aber setzte der politische Bedeutungsverlust des Amtes ein, was | |
| viel damit zu tun hat, wie ein Bundespräsident gemacht wird. Generationen | |
| von SchülerInnen lernen, dass eine ominöse Bundesversammlung den | |
| Präsidenten wählt – das ist natürlich gelogen. Ausgewählt wird er vorab | |
| nach zunehmend kleinkarierten, taktischen Überlegungen in kleinsten Runden | |
| von SpitzenpolitikerInnen, die gerade die Mehrheit kontrollieren. | |
| Angela Merkel und Guido Westerwelle suchten sich Horst Köhler aus, um ihre | |
| damals neoliberale Agenda im Bundespräsidialamt zu platzieren. Das tat | |
| Köhler anfangs wie geplant, später nervte er alle, weil er sich ständig in | |
| die Tagespolitik einmischte. Er trat zurück, weil er sich in einem | |
| unbeholfenen Interview dafür aussprach, deutsche Handelswege mit | |
| militärischen Mitteln zu sichern. | |
| Christian Wulff wurde Präsident, weil Merkel nicht Wolfgang Schäuble haben | |
| wollte. Keine zwei Jahre später trat auch er zurück. Joachim Gauck wurde | |
| vom alten Taktiker Jürgen Trittin ins Spiel gebracht, um die Konservativen | |
| zu ärgern, weil sie Gauck (Haupt- und eigentlich einziges Thema: Freiheit) | |
| schlecht ablehnen konnten. Beim ersten Mal klappte es nicht, beim zweiten | |
| Mal schon. Zwischendurch lobte Gauck Thilo Sarrazins rassistisches Buch und | |
| dessen „Mut“, das Buch zu schreiben. Das schadete ihm aber nicht bei | |
| seiner Wahl. Frank-Walter Steinmeier kam ins Schloss Bellevue, weil ihn | |
| Sigmar Gabriel in der damaligen Großen Koalition durchsetzte und die CDU es | |
| versäumt hatte, sich rechtzeitig in den eigenen Reihen umzugucken. | |
| ## Die Auswahlkriterien sind veränderungsresistent | |
| Diese Art, wie sich Bundespräsidenten ausgeguckt wurden, hat zur | |
| Banalisierung des Amtes beigetragen. Und diese Auswahlkriterien sind | |
| offenbar veränderungsresistent: Auch nach bald 73 Jahren wurde von den | |
| Entscheidungszirkeln kein einziges Mal eine Frau in ein aussichtsreiches | |
| Rennen geschickt. Auch nicht im Jahr 2022. | |
| Zwei Mal übrigens haben Bundesratspräsidenten schon ersatzweise die | |
| Geschäfte als Staatsoberhaupt geführt: der nette, stille Bremer | |
| Bürgermeister Jens Böhrnsen nach dem Rücktritt von Horst Köhler und Horst | |
| Seehofer nach selbigem von Christian Wulff. Sie haben es zurückhaltend gut | |
| gemacht und gar nicht erst unrealistische Erwartungen geweckt, dass sie | |
| etwa sagen könnten, wo es langgeht. | |
| Es spricht also nichts dagegen, dass der jährlich wechselnde | |
| Bundesratspräsident – der jeweilige Ministerpräsident oder die jeweilige | |
| Ministerpräsidentin an der Spitze des Bundesrats – den Job des | |
| Staatsoberhaupts übernimmt. Damit würde auch die Tatsache, dass dieses Land | |
| ein föderaler Staat ist, mehr Gewicht bekommen. Und es wäre ehrlicher: Im | |
| Grunde ist es egal, wer nachdenkliche, aber schnell vergessene Reden zu | |
| irgendwelchen Jahrestagen hält und die Siegerurkunden für die | |
| Bundesjugendspiele unterschreibt. | |
| Und dass dann womöglich auch ein Markus Söder mal für ein Jahr dran sein | |
| sollte, das wird das Land auch noch überstehen. | |
| 30 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gunnar Hinck | |
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