# taz.de -- Der bleibende Präsident: Steinmeiers soziale Kälte | |
> Zweite Amtszeit: Der Bundespräsident wird als nett und warmherzig | |
> empfunden. Doch der Sozialdemokrat ist ein neoliberaler Machtmensch. | |
Bild: Voller Tatendrang gegen die Armen und für die Reichen: Gerhard Schröder… | |
Das gab es noch nie: Gleich zwei Experten für das Thema Obdachlosigkeit | |
bewerben sich um das Amt des Bundespräsidenten. [1][Beim Kandidaten der | |
Linken], Medizinprofessor [2][Gerhard Trabert] aus Mainz, ist allgemein | |
bekannt, dass er sich um die Ärmsten und um Flüchtlinge kümmert. Bei | |
Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier hingegen dürften nur die wenigsten | |
wissen, dass er 1991 über „Tradition und Perspektiven staatlicher | |
Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit“ | |
promoviert hat. | |
Der Unterschied zwischen den beiden Kandidaten ist allerdings, dass Trabert | |
seinen Überzeugungen stets treu geblieben ist, während sich Steinmeier vom | |
linken Juso zum neoliberalen Machtmenschen gewandelt hat. Diese | |
bedingungslose Härte nehmen die meisten Bundesbürger nicht wahr, weil | |
Steinmeier besonders rabiat agiert hat, als er im Hintergrund wirkte – von | |
1998 bis 2005, als er Kanzleramtschef von Gerhard Schröder war. | |
Damals hat Steinmeier die rot-grünen Steuerreformen orchestriert, die bis | |
heute mehr als 60 Milliarden Euro jährlich kosten und von denen vor allem | |
die Reichen profitieren. [3][Zugleich hat Steinmeier auch die „Agenda 2010“ | |
erfunden], die Millionen von Menschen in den Niedriglohnsektor zwingt. Es | |
ist also höchst passend, dass nun Trabert und Steinmeier gegeneinander | |
antreten, denn Steinmeier hat einen großen Teil jener Armut erzeugt, die | |
Trabert anprangert. | |
Steinmeiers soziale Kälte war stets nur Mittel zum Zweck. Er war von | |
keinerlei theoretischen Erkenntnissen geleitet, sondern es ging allein um | |
Machterhalt. Binnen Tagen konnte sich die Taktik ändern – was dann Folgen | |
für Millionen hatte. Es lohnt ein Rückblick. | |
## Von Unionsplänen kaum zu unterscheiden | |
Der Aktionismus zeigte sich erstmals 1999: Mit der „größten Steuerreform in | |
der Geschichte der Bundesrepublik“ wollten sich Schröder und Steinmeier | |
wieder in die Offensive bringen. Rot-Grün hatte sechs wichtige | |
Landtagswahlen verloren, während die CDU überall triumphierte. In dieser | |
Zwangslage wählten Schröder und Steinmeier eine riskante Taktik: Plötzlich | |
gaben sie die Ideen der Union als das eigene Programm aus. | |
Die Konservativen hatten schon lange gefordert, den Spitzensteuersatz bei | |
der Einkommensteuer drastisch zu senken. Bisher hatte Rot-Grün derartige | |
Reformen aber immer abgelehnt. Noch im Oktober 1999 hatte sich | |
SPD-Finanzminister Hans Eichel über die kostspieligen Pläne der Opposition | |
lustig gemacht: „So unseriöse Steuervorschläge mit einem Einnahmeausfall | |
von 50 Milliarden Mark kann nur jemand machen, der genau weiß, dass sie nie | |
Wirklichkeit werden.“ | |
Die Öffentlichkeit war daher bass erstaunt, als die SPD nur zwei Monate | |
später Reformen vorschlug, die von den Unionsplänen kaum zu unterscheiden | |
und ähnlich teuer waren. Drei Tage vor Heiligabend berief Kanzler Schröder | |
eine Pressekonferenz ein, u[4][m sein „Weihnachtsgeschenk“ zu verkünden]: | |
73 Milliarden Mark netto wollte Rot-Grün nun an Bürger und Unternehmen | |
verteilen. | |
Eine gute Begründung gab es nicht, warum die Reichen und Unternehmer so | |
dringend entlastet werden mussten. Die deutsche Steuerlast war im | |
internationalen Vergleich ohnehin schon niedrig. Zudem stellte sich heraus, | |
dass Rot-Grün falsch gerechnet hatte: Die Löcher im Staatshaushalt wurden | |
immer größer. | |
## Der Wahlbetrug namens Agenda 2010 | |
Also wurde eisern gespart, während eigentlich Konjunkturpakete benötigt | |
wurden. Denn zeitgleich brach die Dotcom-Krise herein, in der sich der | |
Spekulantentraum von der „New Economy“ auflöste. Als die nächste | |
Bundestagswahl 2002 anstand, waren in Deutschland faktisch fünf Millionen | |
Menschen ohne Stelle. | |
Eigentlich war klar, dass Rot-Grün die Bundestagswahl 2002 verlieren würde, | |
doch der Zufall kam zur Hilfe. Während der [5][Elbeflut konnte sich | |
Schröder als Krisenmanager inszenieren], der in Gummistiefeln telegen die | |
Einsatzkräfte dirigierte. Zudem wurde über einen Krieg gegen den Irak | |
debattiert. Schröder versicherte den Wählern, dass er für „Abenteuer“ ni… | |
zur Verfügung stehe. | |
CSU-Spitzenkandidat Edmund Stoiber hingegen setzte auf Bündnistreue zu den | |
USA, sodass Rot-Grün plötzlich als das kleinere Übel erschien, wie | |
Transparente von empörten Bürgern deutlich machten: „Lieber mit Schröder | |
arbeitslos als mit Stoiber im Krieg“. | |
Äußerst knapp reichte es erneut für Rot-Grün, doch die leidigen Probleme | |
blieben: Die Staatskasse war leer – und die Arbeitslosigkeit hoch. Also | |
entfachten Steinmeier und Schröder erneut wilden Aktionismus, um als Macher | |
zu gelten. Die Bundestagswahl war nur drei Monate vorbei, da planten die | |
beiden plötzlich Einschnitte bei den Arbeitslosen, gegen die sich das | |
SPD-Wahlprogramm noch explizit verwahrt hatte. Dieser Wählerbetrug erhielt | |
den Namen „Agenda 2010“ und war von einem sehr seltsamen Paradox geleitet: | |
Ausgerechnet [6][Armut und niedrige Löhne sollten ganz Deutschland reich | |
machen]. | |
## Steinmeiers erfolgreiche Taktik | |
[7][Jobs hat die „Agenda 2010“ übrigens auch nicht geschaffen.] Bis zum | |
Jahr 2014 gab es stets weniger Arbeit als noch zur Jahrtausendwende. | |
Seither hat sich die Lage zwar gebessert, aber auch dieser Aufschwung ist | |
keiner mystischen Fernwirkung von Hartz IV zu verdanken. | |
Stattdessen wirkte die Eurokrise auf Deutschland – zynischerweise – wie ein | |
Konjunkturprogramm. Die Zinsen sind seither niedrig, was den Staat | |
entlastet und Investitionen möglich macht. Zudem ist der Euro im | |
Vergleich zum Dollar billig, sodass deutsche Waren auf den Weltmärkten | |
günstig zu haben sind und die Exporte florieren. | |
Steinmeiers einstige Fehler sind keine ollen Kamellen, sondern machen bis | |
heute die Reichen reicher und die Armen ärmer. Trabert hat recht, wenn er | |
die soziale Spaltung beklagt. Trotzdem darf sich Steinmeier bestätigt | |
fühlen, dass er rein taktisch richtiglag. Die meisten Wähler akzeptieren | |
seine Politik – sonst würde er nicht im Februar zum zweiten Mal | |
Bundespräsident. | |
21 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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