# taz.de -- Cargobike-Sharing: Lastenräder schwer im Kommen | |
> In Berlin kann man über die App eines kommerziellen Anbieters ein | |
> Lastenfahrrad in der Nähe holen und am Ziel wieder abstellen. | |
Bild: Gewöhnungsbedürftig, aber der Aufwand lohnt sich:Lastenräder sollen PK… | |
BERLIN taz | Wo ist denn hier jetzt der QR-Code? Kurzzeitig droht der | |
Selbstversuch im [1][Lastenrad-Sharing] an einem Straßenrand in | |
Berlin-Friedrichshain daran zu scheitern, dass der Autor das Pixel-Quadrat | |
nicht finden kann. Dabei muss er es doch laut der App des Anbieters | |
Avocargo scannen, um die Miete zu starten. Zum Glück wird er dann doch noch | |
fündig: Der Code hat sich unter dem oberen Rand der königsblauen Plane | |
versteckt, die den Transportkasten des Dreirads vor Regen schützt. | |
Trike wird dieses Cargobike-Modell – hinten ein Rad, vorne zwei und | |
zwischen ihnen eine Transportbox – auch genannt. Es ist dieselbe Bauart wie | |
die des Klassikers von Christiania, nur dass die dänische Firma keine | |
Lenker, sondern durchgehende Bügel verbaut. Es gibt auch andere, | |
mittlerweile weit verbreitete Typen, vor allem die schnittigen zweirädrigen | |
Long Johns, es gibt Lastenräder mit und ohne elektrische Unterstützung, | |
aber dazu später mehr. | |
Während sich Autos, Fahrräder, E-Mopeds und Scooter schon länger auf dem | |
Sharing-Markt der Hauptstadt tummeln, ist mit Avocargo erst im März 2021 | |
ein kommerzieller Anbieter von Lastenrädern (oder: Cargobikes) | |
eingestiegen. Bislang beschränkt auf einen recht überschaubaren | |
Geschäftsbereich in den Berliner Stadtteilen Prenzlauer Berg und | |
Friedrichshain, plant das Start-up schon seine Expansion in andere Teile | |
der Hauptstadt. | |
Die derzeit 110 E-Räder werden nach dem [2][„Free-Floating“-Prinzip] | |
angeboten, sprich: Man holt sie sich dort, wo sie gerade stehen, und kann | |
sie nach der Nutzung anderswo zurücklassen. Cargobike-Sharing sei „die | |
wahre Revolution der Mobilität“, schreibt Avocargo-Geschäftsführer Matti | |
Schurr im Unternehmensblog. | |
## Großeinkauf ohne Auto möglich | |
Im taz-Gespräch erklärt er, was er damit meint: Es gebe schon viele | |
Alternativen, eine Person von A nach B zu bringen, so Schurr, lange gefehlt | |
habe aber ein Mietangebot „mit der Bandbreite, die ein Auto ermöglicht“: | |
nämlich einen größeren Einkauf, ein Kind oder den Hund zu transportieren – | |
ohne ein Auto zu sein. | |
Sich ein Lastenrad zu kaufen komme für viele Menschen nicht in Frage, sagt | |
Schurr. Die Fahrzeuge seien recht teuer, gleichzeitig sei es oft nicht | |
leicht, einen sicheren und leicht zugänglichen Abstellplatz dafür zu | |
finden. „Ein Fixie trage ich locker in den zweiten Stock, das geht mit | |
einem Cargobike nicht.“ Die Avocargo-Lösung: ein Lastenrad, wenn man’s | |
grade braucht, oder – im Start-up-Sprech – für den „temporären Use Case… | |
Dass das eine gute Idee ist, finden offenbar auch InvestorInnen: Bei einer | |
Vorab-Finanzierungs-Runde im November konnte Avocargo eine siebenstellige | |
Summe einstreichen. Einer der Geldgeber ist EIT Inno Energy, ein | |
europäischer Investor in Klimatechnologien. Dessen deutscher | |
Geschäftsführer Christian Müller glaubt, dass elektrische Lastenräder | |
„künftig eine tragende Rolle in unserem städtischen Transportmix spielen: | |
sie fahren emissionsfrei, sparen Platz, sind kostengünstig und für eine | |
große Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten geradezu prädestiniert.“ | |
## Umsonst durch die Großstadt radeln | |
In 130 Kommunen gibt es bereits Sharing-Angebote für Lastenräder. Im Sommer | |
ist mit „Cargo Bike Sharing Europe“ eine Konferenz in Köln geplant, bei der | |
sich Städte und Anbieter austauschen können. Organisiert hat das Treffen | |
der Lastenrad-Netzwerker Arne Behrensen, der auf seinem Portal | |
„cargobike.jetzt“ schon länger für das Verkehrsmittel trommelt. | |
„Die Zeit ist reif“, findet Behrensen. Köln sei der perfekte Ort für das | |
Treffen, schon weil dort 2013 mit „Kasimir – Dein Lastenrad“ eine der | |
ersten Gratis-Sharing-Initiativen entstanden sei. Heute gebe es eine ganze | |
Freie-Lastenrad-Bewegung mit bundesweit mehr als 100 Initiativen. | |
Eine davon sitzt in Berlin: Die [3][„fLotte – Freie Lastenräder für | |
Berlin“] ist unter dem Dach des Fahrradclubs ADFC organisiert und stellt | |
der Allgemeinheit derzeit 190 Cargobikes zur Verfügung – kostenlos oder | |
gegen eine Spende. | |
## Yalla auf der Strecke | |
Die Unterschiede zum Avocargo-Prinzip fallen ins Auge: Es gibt keine App, | |
nur eine Website, auf der man sich anmelden, ein Bike suchen und | |
reservieren kann, und zwar für jeweils einen ganzen Tag. Die Räder stehen | |
auch nicht am Straßenrand, sondern werden von unterschiedlichen | |
Einrichtungen „betreut“, sei es ein Café, ein Bioladen oder ein | |
Quartiersmanagement-Büro. Dort holt man sie ab, unterschreibt einen Vertrag | |
auf Papier und bringt sie auch wieder zurück. | |
Die Finanzierung der „fLotte“ läuft über zwei Schienen: Rund 100 Räder | |
wurden über das Programm „fLotte kommunal“ aus Mitteln der Berliner | |
Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz angeschafft – mit der | |
Vorgabe, die Standorte einigermaßen gleichmäßig über alle Bezirke zu | |
verteilen. | |
Die übrigen kaufen Sponsoren, bei denen es sich um lastenradbegeisterte | |
Privatpersonen, aber auch Wohnungsgesellschaften oder sogar den | |
Stromkonzern Vattenfall handeln kann. Die Wartung obliegt einigen wenigen | |
hauptamtlichen und vielen ehrenamtlichen MitarbeiterInnen. Sie übernehmen | |
Patenschaften für die Räder, die alle individuelle Namen wie „Lars“, | |
„Pascale“, „Rosinante“ oder „Yalla-Bike“ tragen. | |
## Nicht alles läuft flott | |
Dass die Ausleihe nur tageweise möglich ist, wundere manche NutzerInnen, | |
sagt Thomas Büermann, einer der Initiatoren, die die „fLotte“ 2017 mit fü… | |
Rädern gestartet haben. „Die schreiben uns dann: Ich brauchte das Rad nur | |
zwei Stunden, ist doch schade, dass es jetzt niemand anderem zur Verfügung | |
steht.“ Büermann kann das absolut nachvollziehen – aber auch wenn ein | |
kleinteiligeres Management mittlerweile technisch möglich sei, wolle die | |
Initiative die Standorte nicht überfordern. Schließlich wickeln die die | |
Formalitäten freiwillig neben ihrem eigentlichen Betrieb ab. | |
Elektrische Cargobikes machen übrigens nur rund zehn Prozent der „fLotte“ | |
aus: „Die Kosten sind deutlich höher und sie haben einen deutlich höheren | |
Reparaturbedarf“, erklärt Büermann, es komme aber noch etwas hinzu: „Viele | |
unserer Nutzer haben keine Lastenraderfahrung. Wenn die sich draufsetzen, | |
schießen die oft mit einer Geschwindigkeit los, die sie nicht beherrschen, | |
und dann kann es gefährlich werden.“ | |
Im Selbstversuch mit dem elektrischen Avocargo-Bike bestätigt sich das. Das | |
Rad ist in einem technisch einwandfreien Zustand, aber auch der Autor hat | |
noch nie auf einem E-Trike gesessen, und das Fahrverhalten weicht von einem | |
gewöhnlichen Fahrrad deutlich ab, gerade was die Balance angeht. Gleich an | |
der ersten Ecke gerät es auf dem holprigen Kopfsteinpflaster in eine | |
gefährliche Schräglage und der erschrockene Fahrer muss abspringen, um ein | |
Umkippen zu vermeiden. Gut, dass sich nichts Zerbrechliches in der Box | |
befand – oder gar ein Kind. | |
## Üben und viel Zeit mitbringen | |
Avocargo weist auf dieses Risiko hin: „Insbesondere in Kurven solltest Du | |
darauf achten, langsam zu fahren“, heißt es auf der Website. „Nimm Dir für | |
Deine erste Fahrt ein wenig mehr Zeit, um Dich an das neue Fahrgefühl zu | |
gewöhnen, und fahre stets vorsichtig.“ | |
Auch bei der Probefahrt tritt bald Gewöhnung ein – bis eines der vorderen | |
Räder auf der Kopernikusstraße in Friedrichshain kurz in eine | |
Straßenbahnschiene gerät, was das Gefährt ins Schlingern bringt. Noch etwas | |
gelernt: Trams und Trikes vertragen sich nicht gut. Bei insgesamt drei | |
seitlich versetzten Rädern ist die Chance deutlich höher, die gefürchtete | |
Rille zu treffen. | |
Trotz dieser kleinen Hindernisse werde das Angebot gut angenommen, sagt | |
Avocargo-Geschäftsführer Matti Schurr. „Ein Kunde sagte, es mache für ihn | |
mehr Sinn, ein Bike zu mieten, als den Parkplatz für sein Auto aufzugeben.“ | |
Irgendwann könnten solche NutzerInnen dann vielleicht ganz auf ihren Pkw | |
verzichten. | |
Aber rechnet sich das überhaupt? Eine anderthalbstündige Ausleihe etwa | |
kostet nach der aktuellen Preisliste 10,50 Euro. Doch Schurr vertraut | |
darauf, dass seine KundInnen den Vorteil gegenüber den hohen Fixkosten | |
eines Autos erkennen. Außerdem ist sein Unternehmen Kooperationen mit | |
Märkten wie Biocompany oder OBI eingegangen, die bis zu einer gewissen | |
Dauer für die Mietkosten aufkommen – im Fall des Baumarkts sind das drei | |
Stunden. | |
## Furcht vor zugeparkten Gehwegen | |
Noch ist Cargobike-Sharing relativ neu, zumal wenn man die Räder im „Free | |
Floating“ einfach stehen lassen kann. Wenn nun dieser Markt wächst – sind | |
dann bald die Gehwege nicht nur mit E-Rollern zugestellt, sondern auch mit | |
voluminösen Lastenrädern? | |
In der Berliner Senatsverwaltung für Verkehr kennt man das Problem. Man | |
schätze den Beitrag von Free-Floating-Angeboten zur Mobilitätswende, wolle | |
aber „die nachteiligen Effekte so weit wie möglich vermeiden“, teilt eine | |
Sprecherin mit. Dazu wurde 2021 schon das Berliner Straßengesetz geändert: | |
Es macht aus dem Abstellen von Sharing-Fahrzeugen eine „erlaubnispflichtige | |
straßenrechtliche Sondernutzung“ und erlaubt so eine bessere Regulierung. | |
Im kommenden April soll ein „Freefloater Evaluations- und | |
Anforderungskonzept“ vorliegen, so die Verkehrsverwaltung, man befinde sich | |
auch im Austausch mit den Anbietern. „Wie genau die operative Umsetzung zu | |
gestalten sein wird, ist noch in der Klärung.“ | |
## Autos dürfen Platz räumen | |
Ein Lösungsansatz für Lastenräder sei es, ausreichende Stellflächen | |
außerhalb des Gehwegs einzurichten, „gegebenenfalls unter Wegfall | |
bestehender Parkmöglichkeiten für Kraftfahrzeuge“. Gefragt sind dabei die | |
Bezirke. Es gibt auch schon Lastenrad-Parkplätze, etwa in Neukölln, man | |
kann sie aber immer noch an ein paar Händen abzählen. | |
Avocargo-Geschäftsführer Matti Schurr glaubt, dass das Konfliktpotenzial | |
sich in Grenzen hält: Zum einen sähen die Avocargo-Nutzungsbedingungen vor, | |
dass das Lastenrad an einen festen Gegenstand angeschlossen werden muss – | |
einen Fahrradbügel oder eine Laterne –, und man könne die Miete erst | |
beenden, wenn man ein Foto des neuen Standorts hochlädt. Zum anderen sei | |
die Kundschaft „deutlich erwachsener“: „Die geht verantwortlicher mit so | |
etwas um“. | |
Zum Teil sei das auch der sozialen Kontrolle geschuldet: „Nach einem | |
Einkauf stellt man das Fahrzeug ja vor dem eigenen Zuhause ab. Da sehen | |
einen die Nachbarn, und da gibt man sich dann auch ein bisschen Mühe.“ | |
18 Jan 2022 | |
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## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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