| # taz.de -- Zukunft der Tierversuche: Vom Leid der Mäuse | |
| > Forschungsgesellschaften befürworten Tierversuche, Tierschützer nicht. | |
| > Doch es gibt auch Zwischentöne – und immer mehr Alternativen. | |
| Bild: Ein Leben und Tod für die Forschung: Die meisten Tierversuche werden an … | |
| Die Weihnachtstage geben vielen Menschen Gelegenheit, sich nach bald zwei | |
| Jahren Corona bewusst zu machen, wie einschneidend eine Pandemie ist. Es | |
| gibt kaum etwas, das nicht vom neuen Virus beeinflusst wäre. Das gilt auch | |
| für die Forschung. Viele Wissenschaftler haben zuletzt mehr Zeit im | |
| Homeoffice als im Labor verbracht. | |
| Konsequenzen hat das nicht zuletzt für Mäuse oder Ratten: Die Zahl der | |
| Tierversuche in Deutschland ist zwischen 2019 und 2020 um 14 Prozent | |
| gesunken, statt 2,9 Millionen haben im ersten Coronajahr 2,5 Millionen | |
| Versuchstiere ihr Leben für die Wissenschaft gelassen. Das hat das | |
| Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) [1][kürzlich bekanntgegeben]. | |
| Nicht nur das Homeoffice, auch Lieferprobleme spielen dabei eine Rolle. | |
| Zudem ist die Forschung selbst effizienter geworden, und es gibt zunehmend | |
| Alternativen. So werden etwa an der Berliner Charité mögliche | |
| Virus-Arzneien in Lungen-Organoiden getestet. Organoide sind im Reagenzglas | |
| nachgebaute Mini-Organe. | |
| Doch einige Forschende monieren, dass nicht genug getan werde, um | |
| Alternativen zu pushen, und dass derzeit noch zu viele unnötige | |
| Tierversuche durchgeführt würden. Einem Tier ohne vernünftigen Grund | |
| Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen, ist jedoch gemäß § 1 | |
| Tierschutzgesetz verboten. Ist die Gesetzgebung also unzureichend? | |
| ## Wissenschaft versus Tierschutz? | |
| „Wir haben ein sehr strenges Tierschutzgesetz“, sagt Gilbert Schönfelder, | |
| der das Zentrum zum Schutz von Versuchstieren (Bf3R) am BfR leitet. „Und | |
| auch das Genehmigungsverfahren für Versuche mit Tieren legt fest, dass ein | |
| Forscher darlegen muss, dass es keine Ersatzmethode zu dem beantragten | |
| Tierversuch gibt“, sagt Schönfelder. Wissenschaftsorganisationen wie die | |
| Max-Planck-Gesellschaft und die Leopoldina halten die Prüfverfahren in | |
| ihrer aktuellen Form ebenfalls für ausreichend. Tierschützer lehnen | |
| Tierversuche dagegen pauschal ab. | |
| Derzeit werden Tierversuche in drei Hauptbereichen eingesetzt: Das ist | |
| einmal die Grundlagenforschung; hier geht es darum, die Natur zu verstehen. | |
| Zu verstehen etwa, was es mit der Epigenetik auf sich hat, wie Eltern an | |
| ihre Nachkommen Eigenschaften vererben, ohne dass sich dies in der DNA | |
| niederschlägt. Aktuell steht auch das Mikrobiom im Fokus. Etwa 60 Prozent | |
| aller Versuchstiere dienen als Studienobjekt für Grundlagenforschung. | |
| Ein weiterer Bereich sind toxikologische Untersuchungen, um neue | |
| Chemikalien, etwa Pestizide oder Substanzen in Kleidern, auf ihre | |
| Sicherheit für den Menschen zu überprüfen. Etwa 20 Prozent der | |
| Versuchstiere wird dafür genutzt. Diese werden meist von Unternehmen | |
| durchgeführt, die die Substanzen auf den Markt bringen wollen. Die | |
| drittgrößte Anzahl an Tieren wird für die medizinische Forschung genutzt, | |
| das sind etwa 13 Prozent. | |
| Unter den 1,9 Millionen Versuchstieren finden sich vor allem Mäuse (71 | |
| Prozent), aber auch Ratten (7 Prozent), Fische (12 Prozent), Kaninchen (4 | |
| Prozent), Schweine (1 Prozent) [2][oder Primaten (0,1 Prozent)]. | |
| ## Sind Tiersuche überhaupt sinnvoll? | |
| Streitpunkt Nummer 1 ist die Frage, wie gut Versuche an Tieren auf den | |
| Menschen übertragbar sind. „In der Grundlagenforschung sind es nur 0,3 | |
| Prozent“, sagt Julia Radzwill von der Organisation „Ärzte gegen | |
| Tierversuche“. Und auch im Bereich Medikamente würden über 90 Prozent der | |
| Substanzen, die im Tierversuch wirken, in Humanstudien durchfallen. | |
| Peter Kremsner, Infektions- und Tropenmediziner an der Universität | |
| Tübingen, kann ein Lied davon singen. Er hält Tierversuche zwar teils für | |
| vertretbar, etwa in der Grundlagenforschung oder in der Toxizitätsprüfung | |
| für neue Arzneien. Aber in der medizinischen Forschung seien sie | |
| verzichtbar. „[3][Seit Jahrzehnten gibt es etwa 30 Malaria-Impfstoffe], die | |
| in der Maus 100 Prozent wirksam sind, beim Menschen ist jedoch kein | |
| einziger gut wirksam und bisher zugelassen“, sagt Kremsner. Das Gleiche | |
| gelte für andere Infektionskrankheiten. Die Maus sei einfach kein guter | |
| Modellorganismus. | |
| Roman Stilling von der Informationsinitiative „Tierversuche verstehen“, die | |
| von diversen Wissenschaftsorganisationen ins Leben gerufen wurde, | |
| entgegnet: „Das Wesen von Forschung ist, dass man das Ziel oft nicht genau | |
| kennt und daher notwendigerweise auch Ansätze verfolgt, die nicht zu einer | |
| Anwendung führen.“ Zudem sei es Forschenden sehr wohl bewusst, dass ein | |
| Mensch keine Maus sei. „Das schließt nicht aus, dass man mithilfe von | |
| Mäusen Erkenntnisse über Vorgänge im menschlichen Körper erlangen kann“, … | |
| Stilling. | |
| Auch hinsichtlich toxikologischer Prüfungen gehen die Meinungen | |
| auseinander. „Studien belegen, dass heutige Softwareprogramme die Toxizität | |
| besser einschätzen, als Tierversuche es können“, sagt Radzwill. Die | |
| Europäische Chemikalienagentur (ECHA) ruft seit 2017 Unternehmen dazu auf, | |
| solche Computersimulationen anstatt Tierversuche zu verwenden. „Um das | |
| EU-Recht in Sachen Chemikaliensicherheit zu erfüllen, werden heute schon | |
| überwiegend tierversuchsfreie Methoden eingesetzt“, sagt Stilling. | |
| ## Kein Botox mehr für Mäuse | |
| So muss jede Charge Botulinumtoxin, das in den Handel kommen soll, geprüft | |
| werden – bislang ein qualvoller Test für Mäuse. Alle Hersteller, die ihre | |
| Botox-Präparate in Deutschland vertreiben, haben zum Großteil auf | |
| tierversuchsfreie oder -reduzierte Methoden umgestellt. | |
| Thomas Hartung, Toxikologe an der Universität Konstanz, berichtet jedoch | |
| von einem sehr trägen System: „Ich habe vor 26 Jahren eine Alternative | |
| entwickelt, [4][die Kaninchen-Tests zur Untersuchung von injizierbaren | |
| Medikamenten] ersetzt. Das waren vor 15 Jahren, als der Test als valide | |
| anerkannt wurde, in Europa trotzdem noch 170.000 Kaninchen jedes Jahr. In | |
| den letzten Jahren sind die Zahlen zwar um 80 Prozent gefallen, dennoch | |
| sind noch 34.000 Kaninchen jährlich betroffen. Dieses Jahr wurde endlich | |
| verkündet, dass der Tierversuch in den nächsten 5 Jahren ausläuft.“ Die | |
| Alternative wäre also seit Jahren verfügbar. Es hängt in diesem Fall an den | |
| Zulassungsbehörden. | |
| Dennoch muss auch die Forschung zu Alternativen schneller gehen. Dies ist | |
| EU-weit sogar als Ziel formuliert. So betont die EU-Tierversuchsrichtlinie | |
| das „3R-Prinzip“ als Forschungsgrundlage: Das heißt Reduzierung | |
| (Reduction), Verfeinerung (Refinement) von tierexperimentellen Methoden | |
| sowie Entwicklung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden (Replacement). Diese | |
| umfassen beispielsweise In-vitro-Verfahren, Computersimulationen und | |
| bildgebende Verfahren wie Kernspintomografie oder Ultraschall. | |
| ## Mehr Alternativen, weniger Tierversuche | |
| Der Tübinger Forscher Kremsner etwa prüft neue Wirkstoffe erst in-vitro und | |
| macht dann, wenn möglich, früh kontrollierte Humanstudien. „Das geht nur | |
| bei Krankheiten, für die man gute und schnell wirkende Medikamente hat, die | |
| sowohl akute als auch Langzeitschäden verhindern, wie im Falle von | |
| Malaria“, sagt Kremsner. | |
| Unter den Ersatzmethoden gelten vor allem Organoide als vielversprechend. | |
| Teilweise werden die künstlichen Miniorgane sogar gemeinsam auf einem | |
| Mikrochip („Organ on a Chip“) platziert, um das Zusammenspiel der Organe zu | |
| imitieren und besser zu verstehen. Vielfach werden sie etwa schon in der | |
| Krebsforschung eingesetzt. Doch trotz solcher Fortschritte stößt man laut | |
| Deutschem Krebsforschungszentrum nach wie vor an Grenzen in der Darstellung | |
| komplexer Wechselwirkungen zwischen Zelle und Gesamtorganismus. | |
| Es braucht also weitere Forschungsanstrengungen. „Je besser die Erforschung | |
| für Alternativen voranschreitet, desto eher werden auch die | |
| Versuchstierzahlen zurückgehen“, ist Gilbert Schönfelder vom Bf3R | |
| überzeugt. | |
| 23 Dec 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.bfr.bund.de/de/presseinformation/2021/49/zahl_der_verwendeten_v… | |
| [2] /Makaken-Versuche-in-Bremen/!5809471 | |
| [3] /Impfung-gegen-Malaria/!5807035 | |
| [4] /Tierversuche-trotz-Verbot/!5795115 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Burger | |
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