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# taz.de -- Bioingenieur über Tierversuche: „Weniger Emotion, mehr Evidenz“
> Der Bioingenieur Peter Loskill forscht an Verfahren, mit denen
> Tierversuche ersetzt werden können. In seinen Reagenzgläsern wachsen
> Alternativen.
Bild: Tierversuche stehen in der Kritik, doch nicht immer gibt es einfache Alte…
taz: Herr Loskill, als Bioingenieur und Professor an der Universität
Tübingen forschen Sie zu Modellen, die Tierversuche ersetzen können. Was
ist der große Hoffnungsträger derzeit?
Peter Loskill: Alle – und keiner. Das ist wichtig zu verstehen: In den
meisten Fällen ist es nicht so, dass man eine neue Methode entwickelt, die
dann eins zu eins einen Tierversuch ersetzt. Wir arbeiten an Modellen, die
es ermöglichen, neuartige Studien durchzuführen. Da nutzen wir [1][zum
Beispiel Organoide], das sind dreidimensionale Zellgebilde, die wir im
Reagenzglas heranzüchten und mit denen wir die Funktion einzelner Organe
abbilden können.
Oder wir arbeiten für eine andere Fragestellung mit den noch komplexeren
Organ-on-a-chip-Modellen. Dabei bringen wir Mini-Organstrukturen unter
Laborbedingungen in eine Umgebung, die der im menschlichen Körper
entspricht. Für wieder andere Fragen nutzen wir Computerprogramme, die
Wirksamkeit und Giftigkeit von Substanzen im menschlichen Organismus
vorhersagen können, sogenannte In-silico-Modelle. Aus allen diesen Quellen
können wir Informationen zusammentragen, die dann im besten Fall
Tierversuche ersetzen.
Stimmt es, dass Alternativmodelle oft besser, weil genauer sind als der
Tierversuch?
Zunächst einmal: Es gibt nicht das Alternativmodell, und genauso wenig gibt
es das Tiermodell. Es gibt nur sehr wenige alternative Modelle, die dem
Menschen näher kommen könnten als ein Primat, [2][dessen Verwendung ethisch
natürlich sehr umstritten ist]. Und es gibt viele Alternativmodelle, die
besser übertragbar sind als Mäuse oder Ratten. Gut etabliert ist zum
Beispiel künstliche Haut. Es gibt einzelne Gewebe, wie zum Beispiel die
Netzhaut des Auges, die wir schon sehr gut am Alternativmodell nachbilden
können.
Wir arbeiten hier am 3R-Center Tübingen zum Beispiel mit Schlachtabfällen,
aber auch mit Retina-on-a-chip-Modellen. Das sind Mini-Versionen der
menschlichen Netzhaut. Damit testen wir zum Beispiel Arzneimittelkandidaten
gegen Krankheiten des Auges, die zum Erblinden führen können. Und wir
forschen zu Nebenwirkungen von Krebsmedikamenten, die das Sehen in
Mitleidenschaft ziehen. Da sehen wir, dass für bestimmte Fragen diese
Modelle besser auf den Menschen übertragbar sind als der Tierversuch.
Wo kommen die neuen Modelle an ihre Grenzen?
Immer da, wo es um Verhaltensforschung geht oder um psychologische
Forschung. Oder dort, wo wir Wechselwirkungen zwischen Organen und Geweben
untereinander untersuchen, etwa in der Diabetesforschung, bei
neurologischen Erkrankungen oder bei Implantaten, [3][weil da das
Immunsystem beteiligt ist]. Da wird es aufgrund der Komplexität schwierig,
die klinische Situation nachzubilden.
Bei diesen Beispielen stehen aber [4][auch Tierversuche in der Kritik],
weil fraglich ist, wie gut sich Ergebnisse auf den Menschen übertragen
lassen. Warum wird dann weiter mit Tieren gearbeitet?
Das ist in der Tat ein Dilemma. Nehmen wir mal das Beispiel Diabetes. Es
gibt diesen riesigen Bedarf, der immer größer wird. Und die Forschung hat
den Auftrag, Menschen zu helfen. Sollen wir sagen: „Unsere Modelle sind zu
schlecht, wir arbeiten da erst einmal nicht weiter, bis wir bessere haben“?
Oder versuchen wir, mit dem was wir haben, das Bestmögliche zu tun um,
unseren Patient:innen möglichst bald irgendwie zu helfen? Für bestimmte
Forschungsbereiche gibt es einfach noch keine Alternativen. Für andere gibt
es sie, aber sie sind noch nicht ausreichend erprobt.
Für Kosmetika sind Tierversuche [5][bereits seit 2004 verboten]. Trotzdem
geht die Zahl der Versuchstiere in Deutschland nur ganz langsam zurück. Im
Jahr 2020 waren es knapp zwei Millionen. Was ist da los?
In der pharmazeutischen Forschung sind die Zahlen am Sinken, seit Jahren
schon. In der akademischen Forschung steigen sie noch leicht an oder
stagnieren, wegen Corona sind diese Zahlen nicht ganz eindeutig. Das liegt
zum einen daran, dass wir – glücklicherweise – einen Anstieg an
biomedizinischer Forschung haben in Deutschland. Es gibt bereits
Alternativen, aber nicht alle sind schon ausreichend erprobt. Und wir haben
es tatsächlich auch mit einer gewissen Trägheit des Systems zu tun, in der
Denkweise, aber auch in der Infrastruktur.
In den USA gab es zu Beginn des Jahres eine Änderung des
Arzneimittelgesetzes. Tierfreunde jubeln, denn Tierversuche sind in den
Staaten jetzt ein „Kann“, kein „Muss“ mehr für die Zulassung eines neu…
Medikaments. Was bedeutet das für Deutschland?
Dieses Gesetz ist vorbildlich. Es ermöglicht erstmals den Experten und
Behörden, evidenzbasiert zu entscheiden, welches Modell sie zulassen. Und
das wiederum gibt der Forschung erstmals die Möglichkeit, wirklich anhand
der Vorhersagekraft zu entscheiden, ob ein Alternativmodell oder ein
Tierversuch gebraucht wird. Bis dato musste für jeden Zulassungsantrag ein
Tierversuch gemacht werden, auch wenn die Ergebnisse schon durch andere
Methoden vorlagen. Jetzt können auch modernere Ansätze verwendet werden,
die zum Teil bessere Ergebnisse liefern. Pharmafirmen sind meist globale
Player, die entwickeln keine Medikamente für einzelne nationale Märkte. Von
daher hat diese Gesetzesänderung schon auch auf die europäische Landschaft
eine große Signalwirkung.
Brauchen wir auch in Deutschland ein neues Gesetz, damit bessere
Alternativen entwickelt werden? Oder muss es erst einmal bessere
Alternativen geben, bevor ein neues Gesetz sinnvoll ist?
Das bedingt sich gegenseitig. Unser Gesetz in Europa stammt aus einer Zeit,
in der es keine wirklichen Alternativen gab. Das hat sich inzwischen
geändert. In den USA war es genauso: Forschung und Entwicklung haben dort
die Grundlage für diese Gesetzesänderung geschaffen. Das Gesetz wiederum
ermöglicht es nun, alternative Modelle in der Industrie jetzt auch wirklich
voranzubringen. Die Forschung hat es auf diese Weise sehr viel leichter,
den nächsten Schritt zu machen.
Werden wir Tierversuche irgendwann ganz ersetzen können?
Nein, ich glaube in absehbarer Zeit nicht, aus den oben genannten Gründen.
Aber immer da, wo neue Modelle wirkliche Alternativen sind: auf jeden Fall!
An welchen Schrauben müssen wir drehen?
Wir brauchen dringend eine Debatte, die weniger polarisiert ist. Weniger
Emotion, mehr Evidenz. Es bringt nichts, Erwartungen zu wecken, die dann
niemand halten kann. Einfach nur zu sagen, es darf keine Tierversuche mehr
geben, heißt, dass wir in große Probleme reinlaufen. Bevor das geht, müssen
wir die Alternativen bereitstellen.
Die gibt es doch bereits – woran hakt es noch?
Wir müssen besser werden, ganz einfach. Wir müssen die Entwicklung neuer
Modelle fokussiert vorantreiben, in allen Bereichen, von Stammzellen über
Organoiden und Organ-on-a-chip bis in-silico. Wir brauchen da in
Deutschland ganz dringend eine breit angelegte Förderinitiative, die dieses
Feld voranbringt. Und dann müssen wir den Zugang zu diesen neuen Modellen
in die Breite bringen. Wir müssen Infrastruktur schaffen und Labore aus-
und aufrüsten. Und diejenigen ausbilden, die die Studien konzipieren und
durchführen. Wenn all das geschieht, dann könnten wir in 10 bis 20 Jahren
die Anzahl der Tierversuche halbieren, denke ich.
11 Feb 2023
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## AUTOREN
Dunja Batarilo
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