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# taz.de -- Alternativen zu Tierversuchen: Miniorgane aus der Petrischale
> Winzige künstliche Organe aus menschlichen Zellen, könnten in der
> Forschung teilweise Tierversuche ersetzen. Ein Laborbesuch.
Bild: Ein 60 Tage altes Hirn-Organoid
BERLIN taz | Um Erkrankungen des Nervensystems zu erforschen, braucht
Agnieszka Rybak-Wolf Hirngewebe. Noch vor wenigen Jahren arbeitete sie
dafür mit Mäusegehirnen. Das Hirngewebe, das sie dieser Tage zerschneidet,
war nie Teil eines Tieres. Es ist ein Organoid. Sowas wie ein im Labor aus
menschlichen Zellen gezüchtetes Miniorgan. Ihre Forschung könnte die Zahl
der Versuchstiere in Deutschland dramatisch verringern. Agnieszka
Rybak-Wolf sitzt vor einem Mikroskop in ihrem Labor im Max-Delbrück-Centrum
für molekulare Medizin, einem Glasbau in Berlin. Die Stadt galt wegen der
vielen medizinischen Forschungsinstitutionen lange als Hauptstadt der
Tierversuche. Rybak-Wolf leitet am Zentrum seit 2019 die Plattform für
Organoide.
Die Plattform ist aus den sogenannten 3R-Prinzipien entstanden, an denen
sich die Forschung mit Versuchstieren in Deutschland orientiert. Die 3 Rs
stehen für replace, reduce und refine, also für den Versuch, Tierversuche
zu ersetzen, zu verringern und zu verbessern. In Hamburg gibt es seit
diesem Jahr Deutschlands erste [1][3R-Tierschutzprofessur]. Erstmals
arbeitet ein Lehrstuhl explizit zu Forschungsansätzen zur Verringerung von
Tierversuchen.
Tierrechtler*innen fordern seit Jahren ein Verbot der Versuche. Für die
Kosmetikbranche sind sie seit 2003 untersagt. Aber um komplexe medizinische
Zusammenhänge zu untersuchen oder Medikamente zu entwickeln, fehle eine
entsprechende komplexe Alternativmethodik, argumentieren viele Forschende.
Hoffnungsträger für technologischen Fortschritt sollen die Miniorgane aus
der Petrischale sein.
So eines betrachtet Agnieszka Rybak-Wolf. Sie hat die Haare hinters Ohr
gestrichen, ihre Brille stößt beinahe an das Okular des Mikroskops, an
dessen Rädchen sie dreht, um ein scharfes Bild zu finden. Vor ihr steht
eine Kunststoffplatte mit sechs Vertiefungen. Kleine weiße Brocken
schwimmen in einer gelben Flüssigkeit. Sie sind gerade einmal fünf
Millimeter groß. Rybak-Wolf verschiebt einen Hebel und auf dem Tablet neben
dem Mikroskop erscheint das Bild von einem der beige-weißen Gewebeklumpen.
Es ist ein Gehirnorganoid. Wie eine solide Wolke sieht es aus.
## Wie viel Hirn steckt im Zellklumpen?
Eigentlich sind Organoide gar keine Organe, aber bisher ihre beste
Annäherung. Vorher züchteten Forscher*innen im Reagenzglas
zweidimensionale dünne Zellschichten, die jedoch wenig mit dem
tatsächlichen Aufbau eines Organs zu tun hatten. Bei den ersten
dreidimensionalen Versuchen klappte zwar das Zellwachstum in alle
Richtungen, aber nicht, dass die verschiedenen Zellarten sich auch ihrer
Funktion entsprechend richtig anordnen. Organoide schaffen das nun. Aber
wie viel hat dieser undefinierte Zellklumpen tatsächlich mit einem Gehirn
gemeinsam? Und können damit wirklich all die Erkenntnisse gewonnen werden
wie mit einem komplexeren Organismus, einer Maus etwa?
Nach dem deutschen Tierschutzgesetz sollen [2][Tierversuche] eigentlich auf
das unerlässliche Maß beschränkt werden. Etwa 80 Prozent der Versuchstiere
sind Nager wie Mäuse und Ratten. Im Jahr 2021 zählte das Bundesinstitut für
Risikobewertung über fünf Millionen Versuchstiere. Nur etwa die Hälfte der
Tiere hatten einen tatsächlichen Forschungsnutzen.
Um die Zahl möglichst klein zu halten, müssen Forscher*innen gut
begründete Anträge schreiben. Aber für die Entwicklung neuer Medikamente
schreibt die Europäische Arzneimittelbehörde Versuche an Tieren sogar vor.
Mit eben so einer Regelung brechen Anfang 2023 die USA. Ein neues Gesetz
hebt die Verpflichtung für eine Medikamentenzulassung auf und erlaubt damit
auch Alternativmethoden wie Organoide.
Zufrieden betrachtet Rybak-Wolf die Flüssigkeit durchs Mikroskop. „Die
gelbe Farbe ist ein gutes Zeichen“, sagt sie. Es bedeute, dass die
Organoide einen guten Stoffwechsel hätten. Wenn es ihnen gut geht, verfärbt
sich das Medium von Pink zu Gelb. Vor 18 Jahren kam die Biologin für ihren
Doktor nach Berlin, wo sie ihrer Faszination für die Funktionsweise des
Gehirns nachgehen konnte. Lange suchte sie nach guten Modellen, um
verschiedenste Nervenerkrankungen des Menschen zu untersuchen. Viele davon
ließen sich in Mäusen nicht gleichermaßen nachbilden. Ihre Suche führte sie
zu den Organoiden.
Denn sie können an manchen Stellen sogar mehr bieten als übliche
Tierversuche. Mäuse und Menschen unterscheiden sich biologisch in vielen
Aspekten. Möchte man eine Krankheit des Menschen an Mäusen untersuchen,
muss man zunächst ihr Pendant unter anderem durch gentechnische Methoden
erzeugen. Nur funktioniert das nicht bei allen Erkrankungen. Ein Beispiel,
das Agnieszka Rybak-Wolf untersuchte: Das Leigh-Syndrom, eine Erbkrankheit,
die unter anderem zu Muskelschwäche führt. Es ist eine der schwersten
erblichen Hirnerkrankungen bei Kindern und ihr Verlauf wird durch eine
Vielzahl an Genen bestimmt. Für die Krankheit fehlen passende Tiermodelle,
um sie zu untersuchen. Forscher eines anderen Labors hätten bei Mäusen eine
ähnliche Mutation wie die im Menschen erzeugt. „Aber die Mäuse zeigten
keinen Phänotyp, sie lebten sogar länger“, erzählt Rybak-Wolf. Ihre
Forschung an Organoiden lieferte [3][ganz neue Erkenntnisse] für die
Krankheit.
Der große Vorteil an Organoiden ist, dass sie menschliches Gewebe bilden
können, ausgehend von wenigen Zellen, ohne dass ein invasiver Eingriff
nötig wäre. Es reicht eine Blutprobe oder Hautbiopsie. Besonders für die
Forschung am Gehirn wäre das toll. Rybak-Wolf ergänzt: „Von vielen anderen
Organen kann man auch Biopsien entnehmen und mit den Zellen arbeiten.“ Und
verschiedene Krankheitsmodelle könnten mit den Zellen der Betroffenen
gebildet werden.
Die Zellen kommen aus Biobanken oder werden von Patient*innen
gespendet. Wofür das Material verwendet werden darf, wird in einer
Vereinbarung geregelt. Das Organoid, das aus den gespendeten Zellen
entsteht, hat womöglich nichts mit ihrer Ausgangsfunktion zu tun. Damit aus
Zellen des Blutes oder der Haut Gehirngewebe oder Darmepithel wird, müssen
die Zellen umprogrammiert werden. Zunächst in das Stadium einer embryonalen
Stammzelle. Man könnte das als die Alles-ist-möglich-Phase beschreiben.
Dafür fügt man bestimmte Faktoren im Medium hinzu, die diese Prozesse
lenken. Später geben die Forschenden andere Faktoren hinzu, die der
Umgebung eines Gewebes entsprechen und drücken dadurch die Zellen in diese
Entwicklungsrichtung. „Im Gehirn zum Beispiel beginnen die Zellen sich dann
zu den verschiedenen Nervenzellen zu differenzieren und selbstständig zu
organisieren.“ Damit bilden sich die Anfänge des Organoids.
Rybak-Wolf steigt auf einen Rollhocker, um den Inkubator mit den Zellen zu
erreichen. Seine Innentemperatur liegt bei genau 37 Grad Celsius, also
optimale Körpertemperatur. In ihm stehen verschiedene Zellkulturplatten auf
einem rotierenden Tisch. Die Bewegung sorge dafür, dass die Zellen
gleichmäßig mit Nährstoffen versorgt würden, sagt die Forscherin. Sie holt
eine weitere Platte heraus. Auf einigen der Organoide haben sich schwarze
Ausstülpungen gebildet. Aber auch ihnen geht es prächtig. Das seien nicht
etwa tote Zellen. „Das sind Retinazellen“, erklärt Rybak-Wolf, „also die
Zellen des Auges“. Die Stelle starrt einen regelrecht an, aber tatsächlich
sehen kann das Organoid nicht.
Aber sonst erfüllt es viele andere Funktionen des zentralen Nervensystems.
Wie ein echtes Gehirn haben die Nervenzellen ein Netzwerk aufgebaut und
können Signale weiterleiten. Kreuz und quer feuern die Neuronen
elektrische Signale. Das konnte Rybak-Wolf unterm Fluoreszenzmikroskop
beobachten. Nichtsdestotrotz bleibt das Netzwerk weitestgehend primitiv.
Auch wenn es schon jahrelang in der Petrischale reifte, entspricht das
Hirnorganoid immer noch am ehesten dem Hirn eines Fötus. Das, begründet
Rybak-Wolf, liege unter anderem daran, dass die exakte Umgebung des Körpers
nicht abgebildet werden könne. Das System stößt an die Grenzen seiner
Komplexität. Aber es gäbe Wege sich noch weiter anzunähern. „Zum Beispiel
kann man Organoide miteinander verschmelzen und so Blutgefäße oder
verschiedene Gehirnregionen anfügen.“ Und auch Mikroglia, die Immunzellen
des Gehirns, könnten hinzugefügt werden.
Während nicht in allen Bereichen der Forschung ein ganzer Organismus als
komplexes System betrachtet werden muss, ist das in der
Medikamentenforschung unabdingbar. Entwickle man im Labor ein neues
Medikament für ein Hirnerkrankung, wolle man auch wissen, ob der Wirkstoff
einen Effekt auf andere Organe habe. „Oft kommt es vor, dass man eine Sache
heilt, aber damit in einem anderen Organ ein Problem verursacht“, sagt
Rybak-Wolf. So stellt sich die Frage, ob Organoide wirklich für die
Medikamentenforschung geeignet sind. Sie präsentieren keinen vollständigen
Organismus, sondern nur einzelne Organe. Aber auch hierfür gibt es
Vorschläge: Multiorganchips. Die Idee ist es, eine Zellkultur auf
Plastikchips, also wenige Zentimeter große Mikroskopträger, aufzubringen.
Jeder Chip entspräche einem Organ und könne über Schlauchsysteme
miteinander verbunden sein und dadurch irgendwann einen ganzen Organismus
bilden. „Das ist meiner Meinung nach die Zukunft.“
## Das Interesse am Kunstorgan wächst
Medikamente ohne Tierversuche zu entwickeln, bleibt in Deutschland dennoch
erst mal eine Utopie. Anders als in den USA sieht die Europäische
Arzneimittel Agentur EMA die Zeit für einen solchen Schritt noch nicht
gekommen. Mit Organoiden könne man Tierversuche vor allem reduzieren,
glaubt Rybak-Wolf. Für ein Ende müssten die neuen Methoden noch besser
etabliert und immer wieder getestet werden. Zum Beispiel wurde in anderen
Laboren die Funktion von Hirnorganoiden auch überprüft, indem man sie in
Mäusegehirne transplantiert hat. Das hat im Übrigen gut funktioniert. Und
auch wenn Organoide für die vollständige Medikamentenentwicklung noch nicht
ausreichen, heißt das nicht, dass sie kein Fortschritt sind. Schließlich
gibt es auch medizinische Forschung, in der es um einzelne Mechanismen
geht, die sich mit dieser Methode gut erforschen lassen.
Selbst im Max-Delbrück-Centrum, an dem Agnieszka Rybak-Wolf forscht,
arbeiten nur etwa ein Drittel der Forschungsgruppen ganz ohne Tierversuche.
Aber das Interesse wächst an der neuen Technologie, die an manchen Stellen
sogar besser ist als etablierte Methoden. Immer öfters klopfen
Kolleg*innen an der Labortür mit dem blauen Schild, auf dem ein
blasenförmiger Klumpen das zweite ‚o‘ im Schriftzug bildet: ‚Organoids�…
Agnieszka Rybak-Wolf erzeugt nicht nur Hirnorganoide für ihre eigene
Forschung, sondern hilft auch Kolleg*innen. „Sie wollen ihre Hypothesen
aus dem Mausmodell in menschlichen Organoiden überprüfen.“ Sie sind
neugierig geworden.
15 Feb 2023
## LINKS
[1] /Hamburgs-erste-Tierschutzprofessur/!5911740
[2] /Zukunft-der-Tierversuche/!5821236
[3] https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/mit-organoiden-erstmals-das-leigh-sy…
## AUTOREN
Adefunmi Olanigan
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