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# taz.de -- Klinische Therapie mit Genschere: Mutationen einfach wegschnippeln
> In der EU ist jetzt die erste klinische Therapie mit einer Genschere
> zugelassen. Welche Chancen ergeben sich daraus für Patienten mit
> Erbkrankheiten?
Bild: Schön rot und bestückt mit Sauerstoff: Blutkörperchen
Wenn Eizelle und Spermium fusionieren, ist der Bausatz für einen neuen
Menschen komplett. Damit dabei nichts schief geht, braucht es eine
detaillierte Bauanleitung. Diese ist als Erbinformation in Form von Genen
auf der DNA gespeichert. Im Falle von Erbkrankheiten ist es aber so, dass
Neugeborene mit einem Bauplan ins Leben starten, der gesundheitliche
Schwierigkeiten mit sich bringt.
Sichelzellanämie und Thalassämie sind die zwei häufigsten Erbkrankheiten
der Menschheit. Beide Leiden zählen zu den sogenannten Hämoglobinopathien.
Das bedeutet, dass Mutationen im Gen, das den Bauplan für das Eiweiß
Hämoglobin enthält, die Ursache für die Erbkrankheit sind.
Als roter Blutfarbstoff sorgt Hämoglobin im Inneren jedes roten
Blutkörperchens dafür, dass Sauerstoff in der Lunge aufgenommen und im
Gewebe wieder abgegeben werden kann. Bei Patient:innen mit
Hämoglobin-Störungen bereitet genau dieser Sauerstofftransport durch die
Blutbahn massive Probleme.
Im Falle der Sichelzellerkrankung ist es etwa so, dass rote Blutkörperchen,
die normalerweise wie ein Donut mit einer dünnen Membran in der Mitte
aussehen, halbmondförmig sind. Diese Deformierung führt dazu, dass die
roten Blutkörperchen weniger biegsam sind und dazu neigen, in kleinen
Gefäßen zu verklumpen und Entzündungen auszulösen. Die Folge sind Infarkte
in allen Organen, heftige Schmerzepisoden und Infektanfälligkeit. Ohne
Behandlung lassen sich bereits ab dem ersten Lebensjahr Organschäden
feststellen.
In Ländern, in denen Sichelzellerkrankte schlecht oder gar nicht versorgt
werden, sterben viele sehr früh – vor allem an Infektionen und schweren
Sichelzellkrisen, bei denen es zu mehreren Gefäßverschlüssen gleichzeitig
kommt.
Patient:innen mit einer schweren Thalassämie können überhaupt kein
Hämoglobin bilden und sind ihr Leben lang transfusionsbedürftig, was
ebenfalls zu lebensbedrohlichen Organschäden führt. Beide Erkrankungen sind
in Teilen des Mittelmeerraums sowie vom Nahen Osten bis nach Südostasien
verbreitet. Die Sichelzellerkrankung tritt jedoch auch in Afrika und
Nordeuropa auf.
## Bisher gab es nur eine Behandlungsmethode
Hämoglobinopathien ließen sich bislang nur durch Stammzelltransplantationen
heilen. Dabei werden körpereigene Blutstammzellen durch eine Chemotherapie
entfernt und anschließend die gesunden Stammzellen eines geeigneten
Spendenden transplantiert. Anfang Februar hat die EU-Kommission nun eine
Gentherapie auf Basis der [1][Genschere Crispr/Cas] zugelassen.
Im Rahmen der Zulassungsstudie ist die allererste Patientin am
Universitätsklinikum Regensburg behandelt worden, einer der weltweit
erfahrensten Einrichtungen für Hämoglobinopathien. Selim Corbacioglu,
Leiter der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und
Stammzelltransplantation, hat diese allererste Genscheren-Therapie 2019
durchgeführt. Er berichtet, dass die heute 25-jährige Patientin seitdem
gesund ist und keine Bluttransfusionen mehr benötigt.
Das Verfahren funktioniert so: Nach der Entnahme patienteneigener
Stammzellen werden diese im Labor unter Strom gesetzt und die Zellwände
dadurch durchlässig. So gelangt die Genschere ins Zellinnere und schneidet
die DNA an einer vorgegebenen Stelle. An dieser Schnittstelle können
einzelne DNA-Bausteine eingefügt, entfernt oder modifiziert werden.
Bei dem exa-cel-Verfahren wird eine Sequenz im Genom zerstört, die nach der
Geburt die Produktion von sogenanntem fetalem Hämoglobin ausschaltet. Es
bindet Sauerstoff so effizient, dass Ungeborene diesen buchstäblich aus der
Plazenta heraussaugen. Nach der Geburt wird das fetale Hämoglobin nicht
mehr benötigt und die Gensequenz dafür durch einen „DNA-Schalter“
ausgeknipst.
Corbacioglu sagt: „Mit der Genschere machen wir diesen Schalter kaputt.“
Die Technologie heilt Sichelzell-Erkrankte also indirekt: Nach der
Transplantation der veränderten Stammzellen wird zwar immer noch
fehlerhaftes Hämoglobin, gleichzeitig aber auch gesundes, fetales
Hämoglobin vom Körper hergestellt. Beide Varianten sorgen zusammen dafür,
dass rote Blutkörperchen ihre normale Funktion zurückgewinnen und der
Sauerstofftransport durch die Gefäße ohne Probleme gelingt.
## Noch weiß man nichts über die Langzeitfolgen
„Das Tolle an der Gentherapie ist, dass wir damit allen Patienten mit einer
Hämoglobinopathie, für die es keinen passenden Stammzellspender gibt, eine
heilende Therapie anbieten können“, sagt der Hämatologe. Als Allheilmittel
betrachtet er die Innovation aber nicht. Exa-cel sei eine hervorragende
zusätzliche Therapieoption, werde aber voraussichtlich mehrere Millionen
Euro pro Behandlung kosten, während für Stammzelltransplantationen nur ein
Bruchteil davon anfällt – bei vergleichbarem Ergebnis.
Außerdem sei die Datenlage noch dünn: „Wir führen seit 50 Jahren
Stammzelltransplantationen durch und wissen genau, welche Nebenwirkungen
und Spätfolgen es gibt. Bei der Gentherapie wissen wir hingegen nichts über
das Risiko für spätere Krebserkrankungen, die Lebenszeit genetisch
veränderter Zellen oder langfristige Konsequenzen des ‚neuen‘ Hämoglobins
für Patienten.“ Trotz allem bleibt exa-cel ein wissenschaftlicher
Durchbruch. Denn es handelt sich um den ersten klinischen Einsatz der
Genschere überhaupt.
Es gibt [2][verschiedene Ansätze für Gentherapien]. Welcher davon am besten
wirkt, hänge vor allem vom therapeutischen Zielorgan ab, sagt Corbacioglu.
Zellen können entweder dem Körper entnommen und dann genetisch verändert
werden, wie bei der Sichelzellanämie, oder das Gentherapeutikum wird in
einem inaktivierten Virus verpackt, der als Taxi zum erkrankten Organ
dient.
So ein Viren-Taxi gibt es etwa für Menschen mit Hämophilie, auch
Bluterkrankheit genannt. Es steuert Leberzellen an und liefert das Gen für
den fehlenden Gerinnungsfaktor ab, das dann zigfach an verschiedenen
Stellen zufällig in die DNA eingebaut wird.
Corbacioglu: „Bei Blutzellen ist der Vorteil, dass man sie dem Körper
entnehmen kann. Bei Hämophilie ist das anders. Wir können nicht einfach die
Leber rausholen und ihre Zellen behandeln.“ Ein weiterer Unterschied ist,
dass bei der Variante mit dem Viren-Taxi das Genom mehr als 100.000 Mal
auseinandergebrochen wird, um das ‚neue‘ Gen einzubauen. „Mit Crispr/Cas
können wir aber sehr genau bestimmen, wo im Genom die gewünschte
Veränderung stattfindet. Das ist ein großer Vorteil.“
Außerdem sei es billiger, ohne Viren zu arbeiten, und die
Crispr/Cas-Methode deshalb zukunftsträchtiger. Corbacioglu ist überzeugt,
dass es innerhalb der nächsten 15 Jahre möglich sein wird, eine
Crispr/Cas-basierte Therapie auch im Körper durchzuführen.
3 Mar 2024
## LINKS
[1] /Genveraenderte-Malaria-Muecken/!5956386
[2] /Debatte-ueber-neue-Gentechnik/!5948071
## AUTOREN
Verena Fischer
## TAGS
CRISPR
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